Ein Jahr ohne Dich
Der Kies knirscht unter meinen schwarz glänzenden Schuhen, als ich zwischen den hohen, dunklen Tannen entlanggehe. Niemand ist mehr auf den Wegen unterwegs, nur mein nachtblauer Mantel schwingt leise im sanften Wind. Ich wünschte, es würde stürmen, regnen, gewittern. Dann würde ich mich vielleicht besser fühlen. Aber die Abendsonne dringt sogar durch die dicht aneinandergereihten Bäume und bringt mich unter dem dicken Stoff meiner Kleidung zum Schwitzen. Ich umklammere die Rosen in meiner Hand noch fester, schlucke die Tränen herunter, gehe schnellen Schrittes weiter. Ein Jahr. Ein ganzes Jahr ist es schon her, doch es fühlt sich immer noch so anders an. Ich werde mich nie an das Gefühl gewöhnen, an das Gefühl der Leere, der Einsamkeit. An das Gefühl, morgens alleine zu sein. Niemand da, den man ärgern oder küssen kann, niemand, der einem zuhört. Langsam werde ich der Einsamkeit müde, ich will nicht mehr, kann nicht mehr. Doch statt aufzugeben laufe ich diesen Weg entlang, von dem ich mir eigentlich geschworen habe, dass ich ihn nie wieder betreten werde, weil er mit zu vielen schmerzhaften Erinnerungen verbunden ist. Die Luft lastet auf mir, drückt mich nieder, es wäre so einfach, jetzt aufzugeben. Aber ich darf nicht. Ich habe ihm versprochen, dass ich leben werde, dass ich glücklich sein werde, unter Tränen. Hätte ich doch nur gewusst, was das bedeutet. Alleine sein. Meine Schritte werden langsamer, ich nähere mich meinem Ziel und fühle mich trotzdem unnatürlich weit weg von ihm. Dabei gehe ich grade auf ihn zu, auf ihn, meinen Engel, meinen Beschützer, meinen einfach perfekten Freund. Das Knirschen des Kieses wird leiser, ich bleibe stehen, will nicht weiter. Tränen drängen sich mit Übelkeit meinem Körper auf, eine Rose fällt zu Boden, wie in Zeitlupe. Mir ist schlecht, mein Atem geht flach, ich zittere, obwohl die Sonnenstrahlen mich wärmen. Ich habe es nicht verdient. Nicht die Wärme der Sonne, nicht das besorgte Lächeln meiner Freunde. Seit einem Jahr schauen sie mich so an, voller Mitleid, doch es ist zu spät. Nur eine einzige Person könnte mich jetzt noch zum Lachen bringen, doch diese Person ist wie aus meinem Leben gelöscht. Sie existiert nicht mehr, nur meine Gedanken halten sie noch hier. Ich werde ihn nie vergessen. Das könnte ich nicht. Ich setze zitternd einen Fuß vor den anderen, biege um die Ecke, sehe das glänzende Grau des Grabsteins. Eine Träne hinterlässt eine glitzernde Spur auf meinem Gesicht. Er ist tot. Gestorben. Aus meinem Leben verbannt. Was habe ich getan, dass mir so ein Schicksal zusteht? Wieso ich, wieso er? Gänsehaut ziert meine Arme, ich wende meinen Blick von dem Efeu auf seinem Grab ab, muss würgen. Mein Körper wehrt sich, ich wehre mich, am liebsten würde ich rennen. Weit weg von hier. Aber ich bleibe stehen. Meine Lunge ist wie zugeschnürt, ich bekomme keine Luft mehr, nur die Tränen bitteren Schmerzens rollen unaufhörlich über meine Wangen. Ich lasse mich auf meine Knie fallen, spüre die spitzen, kleinen Steine, die Rosen liegen verstreut neben mir. Der Friedhof liegt gespenstisch still da, mitten im Wald, einsam, verlassen, genau wie ich. Nur die Seelen der tausenden Toten schwirren herum, beruhigen mich, bis mein Schluchzen verstummt. Leise weinend stehe ich wieder auf, nachdem ich die blutroten Rosen eingesammelt habe. Manche Blütenblätter sind abgefallen und liegen um mich verteilt auf den weißen Steinen des Wegs, wie Blutstropfen eines verlassenen Herzens. Ich greife in die große Tasche meines Mantels, taste nach der winzig kleinen Nadel, ziehe sie heraus und betrachte sie, wie sie im Sonnenlicht glänzt. Dann mache ich einen weiteren Schritt auf ihn zu. Bei dem Gedanken daran, dass seine verweste Leiche nur wenige Meter von mir entfernt ist, wird mir wieder übel und schwindelig, und ich lasse mich ein weiteres Mal hinfallen. Die Rosen halte ich fest umklammert, sie sind das einzige, an dem ich mich jetzt noch festhalten kann, alles andere ist vergänglich. Leben, Tod, wer entscheidet das schon. Nicht ich, sonst wäre er jetzt bei mir, und wir würden garantiert nicht hier sein. Ich schaue hoch, sehe das Efeu direkt vor mir, grün und undurchdringlich. Vorsichtig und bedacht kauere ich mich zusammen, schaue in den Himmel, bevor ich mich ein weiteres Mal aufsetze. Dunkelblau liegt er über mir, wie eine Decke, ein einziger, goldener Stern, der mich bewacht. Ein sanftes Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht, das erste in diesem Jahr, zitternd, ich habe verlernt was es heißt, zu lächeln. Zögernd drehe ich mich zu dem Grab, lege die Rosen auf das Bett aus dichtem Efeu, streiche über den bemoosten Grabstein. Die Zeit vergeht viel zu schnell. Nachdenklich lasse ich mich auf die Wiese sinken und lehne mich an den grauen Stein, bevor ich anfange, zu erzählen.
„Damals, vor einem Jahr. Ich weiß nicht, ob es damals am schlimmsten war, heute ist es mindestens genauso schlimm. Ich weiß nur noch, wie ich dir versprochen habe, dass ich stark sein werde. Ich hoffe, das bin ich, aber ich kann nicht immer stark sein. Es tut mir so leid, ich weiß, dass ich es dir versprochen habe. Manchmal geht es einfach nicht. Manchmal, wenn ich alleine im Bett liege, wenn der Platz neben mir leer ist, dann fühle ich mich so verlassen. Wenn das ganze Haus schläft, wenn selbst die Vögel endlich ruhig sind. Dann vermisse ich dich so unglaublich sehr. Und dann tut mir jede Sekunde leid, die wir verschwendet haben, jede Sekunde, in der ich dir nicht gesagt habe, wie unendlich sehr ich dich liebe. Das mache ich immer noch, ich liebe dich, wie ich noch nie jemanden geliebt habe. Jeder Moment ohne dich schmerzt so sehr, manchmal überlege ich, ob ich dir nicht einfach folgen soll. Diese kleine Nadel, weißt du noch? Die, die du mir geschenkt hast, weil meine frühere zerbrochen war? Weil du genau wusstest, dass ich diese Nadel geliebt hatte, fast so sehr wie dich, weil meine Mutter mit ihr immer die süßen Kleider genäht hat, als ich klein war? Diese kleine Nadel ist jeden Tag dabei, auch jetzt. Abends sitze ich manchmal da und schaue sie an, steche mir in den Daumen, um mit den Blutstropfen ein Herz formen zu können. Dann geht es mir besser, es ist beruhigend, aber wenn ich dann an dich denke... Dann habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich für einen Moment nicht stark war, weil meine schwache Seite mich dazu überredet hat, es zu tun. Ich will mich nicht selbst verletzen, weißt du? Ich will doch nur leben, frei sein, glücklich. Mit dir. Weil ich dich so unendlich sehr liebe, verstehst du? Ich will nicht ohne dich sein, ich kann das nicht. So stark bin ich nicht, auch wenn du das immer gesagt hast. Aber du hast mich gehalten, du hast mich hochgehoben, wenn ich gefallen bin. Jetzt muss ich alleine aufstehen, aber es wird immer schwerer, ich kann das nicht mehr. Ich brauche dich. Vielleicht wusstest du das nicht richtig, ich hätte es dir einfach sagen sollen, ganz oft, jeden Abend vor dem Schlafengehen, nach dem Gutenachtkuss oder davor, ich hätte es einfach machen sollen. Weil du jetzt einfach weg bist. Ganz ohne Vorwarnung. Ich habe immer gehofft, dass es nicht ganz so schlimm ist, dass du da durch kommst... An dem Tag, an dem du ins Krankenhaus gebracht wurdest, ich habe so sehr gehofft, dass sie dich da durch bringen. Dass sie dir helfen. Aber sie haben versagt, weil der Tumor sich weiter entwickelt hat. Weißt du das noch? Wie sie dich abgeholt haben? Da haben wir zum letzten Mal miteinander gesprochen. Küssen konnte ich dich nicht mehr, sie mussten dir schon Sauerstoff zuführen, weil du nicht mehr richtig atmen konntest, wie an einem schwülen Sommertag. Wie heute, heute kann ich auch nicht richtig atmen, es drückt einfach alles auf mir. Der Verlust, die Hitze, die Einsamkeit. Alles, weißt du? Ich hätte es nicht zulassen dürfen, ich hätte dich noch küssen müssen, ich hätte einfach mitfahren müssen. Aber sie haben mich nicht gelassen. Es hat sich so anders angefühlt, als ich ins Haus zurückgegangen bin, nachdem du weg warst. In mir ist etwas zerrissen, dieses unsichtbare Band, welches uns immer zusammengehalten hat. Aber da wollte ich das noch nicht glauben. Es schien mir so unmöglich, dass du weggehen könntest, ohne dich zu verabschieden. Und dann habe ich diesen Brief gefunden, von dir, in dem du geschrieben hast, dass du jetzt gehen musst. Die letzten Zeilen konnte ich nicht mehr lesen, weil deine Schrift vor meinen Augen verschwommen ist, und ich wollte auch nicht mehr. Es hat so wehgetan, dich gehen zu sehen. Ohne dass ich etwas dagegen tun konnte bist du gegangen. Die letzten Zeilen... Ich habe sie nie gelesen. Soll ich das noch tun? Jetzt?"
Zögernd ziehe ich den Umschlag aus meiner Tasche. Das rote Herz darauf ist verblasst, der Kleber auf der Rückseite hat Fusseln angezogen und ist dunkel gefärbt. Mit zitternden Fingern ziehe ich den Briefbogen heraus und öffne ihn. Den ersten Teil will ich nicht noch einmal lesen, wirr fliegt mein Blick weiter, bis zu der Stelle, an der ich aufgehört habe. Hilfesuchend drehe ich mich um, sehe auf seinen Grabstein, doch er ist nicht mehr da. Nach einem tiefen Atemzug lese ich die letzten Zeilen.
„Ich liebe dich, und das sollst du nie vergessen. Wenn du bereit bist, und du wirst irgendwann wieder bereit sein, das verspreche ich dir, dann folge meinen Spuren. Folge ihnen von meiner Geburt an, und du wirst finden, was du suchst. Denn ich würde dich nie, wirklich nie, alleine lassen.
Pass auf dich auf.
In Liebe, Blue"
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