#2 'Im tiefen Wald' (Kurzgeschichte)

„Wer nur hat mich im Schlaf halb totgeschlagen?", war der zweite Gedanke, als er sich aus seinem Bett erhob. Die Glieder aus Blei, die Augenlider mindestens genauso schwer, sein Kopf mit Wackersteinen gefüllt. So taumelte er, wie volltrunken, durch sein dunkles Zimmer, den noch dunkleren Flur, und anschließend, dem ersten Gedanken folgend, die Haustüre seines dunklen Häuschens hinaus. Spätestens die kalte Morgenluft hätte ihn doch aus seinem Dämmerzustand befreien müssen, so kühl wie sie seine Wangen streichelte, durch seine, nur noch spärlich vorhandenen, Haare strich, ihm unter die viel zu dünne Jacke kroch. Die erhoffte Erquickung blieb ein Wunschtraum.

„Sieh' nach den Kühen! Niemand sonst sieht nach den Kühen", hatte sein Liebchen ihm im Traum zugeflüstert und ihn dadurch in diese triste, wie trostlose Realität zurückkatapultiert. Warum hatte man ihn nicht einfach gänzlich im Schlafe totgeschlagen? Dann hätte er sich zu ihr gesellen können, nach hoch oben in die weißen Wolken, welche zurzeit noch hinter dem schwarzen Mantel der Nacht verborgen lagen.

Er und die Rindviecher waren noch übriggeblieben. Eine Bande von Wiederkäuern sollten nur mehr die Einzigen sein, die sich für ihn interessierten, die ihn noch brauchten. Schließlich war er es doch, der ihnen die Pforte zur Weide öffnete und ihnen die schmerzenden Euter leerte. So stolperte er, schweren Schrittes, den unbefestigten Weg zu den Stallungen entlang. Normalerweise drang zu dieser Zeit bereits das Läuten der Kuhglocken an seine Ohren, doch heute Morgen war es ungewöhnlich still.

Als der Stall in das grelle, künstliche Licht eintauchte, glaubte er seinen müden, nun auch noch geblendeten, Augen nicht zu trauen. Obwohl abgeschlossen, präsentierte sich der Kühe Heimstatt in gähnender Leere. Einzig das monotone Summen der alten Neonröhren erfüllte die Luft. Kälte kroch ihm in die Stiefel, doch war sie für ihn gar nicht da.

„Alter Schussel", beklagte sich sein Liebchen in Gedanken, „du solltest doch auf sie aufpassen. Niemand sonst passt auf die Kühe auf." Murrend durchquerte er den weitläufigen Stall, sog den stickigen Muff tief in seine Lungen ein und tatsächlich - das Tor zur Weide stand offen. Er trat nach draußen und erblickte den niedergerissenen Zaun am Rand des Waldes. Viehdiebe? Nein! Von weit entfernt trug eine kalte Nachtbrise ein schwaches, beinahe säuselndes Glockengeläut an seine Ohren.

ding-dong-ding-dong

Der Mond tauchte die riesigen Tannen in sein kaltes, bläuliches Licht. Wie Soldaten, die treu und erhaben ihre aufmerksame Wache hielten, blickten sie auf ihn herab. Seine Angst, die er schon als kleiner Junge vor dem dunklen Wald hatte, existierte nicht mehr. Furchtlos schritt er in die Düsterkeit der, sich im Winde biegenden, Baumwipfel und der Äste, die sich wie tausende Finger über seinem Kopf ausbreiteten. Er hätte eine Taschenlampe mitnehmen sollen, dachte sich der alte Schussel, als die Schwärze ihn umhüllte wie ein dicker Mantel.

Stattdessen würde das grün schimmernde Moos ihm den Weg weisen, erkannte er nun, als seine Augen das Schwarz durchdrangen. Dieses und das Geläut der Glocken, welches sich weiter von ihm zu entfernen schien. Er würde schneller laufen müssen, um die Rindviecher einzuholen. Wären nur seine Beine nicht so eisern, so schwer, so unbeweglich und er selbst nicht so unendlich müde. Und doch: Wie ein Uhrwerk, ausdauernd, rastlos, ging er vorwärts. Nur vorwärts. Welche Verlockung nur lockte seine Kühe in den tiefen Wald? Er konnte sich keinen Reim darauf reimen.

Trägen Schrittes schleppte er sich über den weichen Waldboden, dessen karge Pfade, in bläulich Mondlicht und grünlich Schimmer getaucht, ihn sicher zwischen den Soldatentannen hindurchführten. Blasse Venen, durch welche, vermeintlich ahasverisch, ein Fremdkörper trieb, der nicht hierher gehörte. Getrieben von einem Herz, welches nicht mehr schlug. Beobachtet aus den tausend Augen der Bewohner der Nacht.

Ding-Dong-Ding-Dong

Ein bronzener, ferner Ruf hallte durch die Dunkelheit. Es zog ihn magisch an. Glühend rote Stämme schraubten sich wie Feuer in den schwarzen Himmel, spendeten das dunkle Licht der Schatten. Monstrositäten aus Holz, feindlich und doch still gewährend, drängten sich zwischen die Soldaten und säumten seinen Weg. Sollte er sich wundern? Sollte er sich fürchten? Nichts war in ihm drinnen, außer jenes brennende Verlangen nach dem steten Läuten.

Purpurner Nebel erfüllte die Luft und lief in das Rot der Bäume, das Blau des Bodens, das Grün des Mooses. Grelle Töne, wie er sie sonst nur aus der neonfarbenen Reklame der Großstadt kannte. Kaltes Licht, welches einem Wärme vorgaukelte und dessen monotones Summen an seinen Nerven riss. Es passte zu dem steinernen Moloch weitab von seinem Fleckchen Land, welcher alles Leben unter sich vergraben hatte. Doch passte es auch in diesen Wald? Blaue Schlangen aus Licht schlugen wie Wellen über seinen Kopf hinweg. Leise und still, fast wie tot. Er spürte Blicke, die nicht da waren, sah helle Punkte in der Dunkelheit, die überall und nirgendwo gleichzeitig zu sein schienen.

Er lief geradeaus. Schritt um Schritt und Schritt um Schritt. Linker Fuß, rechter Fuß, ein Meter, zwei Meter, doch sein Ziel blieb ein Wunschtraum. Plötzlich hatte er es satt. Er mochte nicht mehr laufen. Mochte nicht mehr den musikgewordenen Hohn verfolgen, mit dem man ihn zum Narren hielt.

Ding-Dong-Ding-Dong-dich-doch-selbst

„Ich sollte doch nur nach den Kühen sehen. Dabei möchte ich doch schlafen. Warum hat man mich nicht einfach gänzlich im Schlafe totgeschlagen?", jammerte er und fiel auf seine Knie. Und just als er träge zu Boden sank, wich die Dunkelheit auf der, sich ihm nun offenbarenden, Lichtung vor seinen Augen. So weiß und grell, es hätte ihn eigentlich schmerzen sollen.

„Mein Liebster", sprach eine vertraute Stimme nun zu ihm, „endlich hast du mich gefunden."

Er sah die Umrisse einer Frau, die sich langsam vor dem weißen Nichts abzeichneten. Oh, er erkannte sie bereits an der Silhouette. Dann erkannte er auch die zugehörige Stimme, die ihm offenbarte: „Dich wiederzusehen erfüllt mich mit einer Freude, die mich zu zerreißen droht. So komme zu mir, so halte mich fest, auf das wir wieder vereint sein dürfen, wie wir es zu Lebzeiten waren."

Irritation rieselte auf seine Freude herab, die der ersten Verwunderung und der anschließenden, kurzen Freude entwachsen war. Salzige Tropfen waren zuhauf seine Wangen herabgerollt. Seine Hände hatten gezittert, die Wackersteine in seinem Kopf einen donnernden Lärm veranstaltet und doch...

„Sag' was soll mit den Kühen geschehen? Niemand sonst sieht nach den Kühen", sprach er ruhig und gefasst.

„Vergiss die Rindviecher, toter Mann. Schenke mir deine Aufmerksamkeit. Ich verzehre mich nach dir. Komm und nimm mich in deine Arme, wie du früher es schon immer getan hast! Du hast mich lange warten lassen, so foltere mich nicht noch länger, wenn du mich liebst."

Schwerfällig erhob er sich wieder zurück auf seine Beine, dann sah er das falsche Feuer. Langsam wich er zurück, hinfort von der Verlockung, hinein in die alptraumhafte Sicherheit. Nicht alle Hörner gehörten zu Kühen. Deren zahlreiche Glocken zerschmolzen nun zu einer Einzigen und erklangen in der Musik, welche er aus dem alten Glockenstuhl kannte.

DING und DONG und DING und DONG

Er blickte auf. Dorthin wo die blauen Schlangen sich wanden, griff in vollstem Vertrauen nach hoch oben und ergab sich seinem tief sitzenden, brennenden Verlangen.

„Alter Schussel", sprach sein Liebchen voller Wärme und Liebe, „was wären wir nur ohne einander?"

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