t w e n t y - t w o

Es war Freitagnachmittag. Das „zarte blaue Band" spannte sich schüchtern über den Himmel. Immer noch im Unklaren darüber, ob es nun Frühling oder doch noch Winter war. Trotz der Sonne wirkte der Himmel aufgewühlt, fantastisch. Wie von einem berühmten Künstler perfektioniert.

In der Nähe des Parks lag die kleine Grundschule und die Schreie der fröhlichen Kinder waren bis an den Rand des großen, glitzernden Sees zu vernehmen. An eben dieser Stelle stand die etwas verrostete Parkbank im leichten Sonnenschein. Schlurfende Schritte waren zu vernehmen. Erst weit entfernt, dann immer näher kommend und schließlich tauchte ein alter Mann in dem idyllischen Bild auf. Sein Gang und Blick gesenkt, einen undeutbaren Ausdruck auf dem etwas faltigen Gesicht. Es roch nach Maiglöckchen und Freude. Die Vögel zwitscherten und achteten nicht auf den gebeugten Mann, der sich langsam auf der kleinen Bank niederließ. Einige, stundenlange Sekunden verharrte er dort. Blinzelte einige Male, geblendet und müde. Der Blick auf den scheinbar unendlichen See war aber auch faszinierend.

In langsamen Bewegungen griff er schließlich zu der Stofftasche, die er neben sich abgelegt hatte. Heraus holte er eine Tüte mit einem alten Laib Brot. Von den knisternden Geräuschen angelockt tauchten die Enten auf. Entweder kamen sie aus dem Wasser oder aus dem Schilf, dass sich am Rande des Sees üppig verbreitet hatte. Ein kleines, unscheinbares Lächeln machte sich auf dem Gesicht des Mannes breit. Mit seinen großen Händen teilte er die Brotscheiben in kleine Stücke und warf sie den Tieren zu Füßen. Während er das gesamte Brot zerkrümelte und an die fröhlichen Tiere verteilte wandte er seinen Blick wieder auf den See. Mal auf die schwarzen Schwäne, die in den Tiefen des Wassers nach Pflanzen suchten, mal auf den Horizont, der von einigen, eher kleinen Hügeln übertrumpft wurde und mal auf die spiegelnde Oberfläche des leicht bewegten Wassers. Seine Gedanken waren unklar, trübe. Niemand vermochte es, sie zu lesen. Das einzige was tief in seiner Seele brannte, war Schmerz. Und zwar solcher, den nicht alle Menschen kannten, sondern nur die, die schon einmal wirklich, schmerzhaft geliebt hatten.

Sie sah ihn und verspürte plötzlich den dringenden Wunsch, mehr über ihn herauszufinden. Doch er war so weit von ihr entfernt.

Mit einem Blick auf die alte, lederne Armbanduhr bemerkte er, wie die Zeit vergangen war. Ein weiterer Tag vergangen. Vergangen. Vergangen. Und er hatte sich immer noch nicht aufraffen können, etwas zu ändern. Er fegte die letzten Krümel von der Bank, packte die Stofftasche und wollte gerade seinen sonnigen Platz verlassen. Da hörte er das Geräusch von Absatzschuhen auf dem gepflasterten Weg, der vor der Bank herführte. Steif blieb er sitzen. Den Blick unbewegt gradeaus. Eine Frau mit einem roten, langen Mantel kam auf ihn zu, verlangsamte die Schritte und blieb schließlich vor ihm stehen. Ihr musternder Blick prallte von ihm ab und so ging sie zwei, drei Schritte weiter und ließ sich auf den Platz neben ihm fallen. Ihre mittellangen, braunen Haare fielen ihr voll über den Rücken. Wie unterhaltsam das Szenario doch von hinten aussah. Ein alter Mann, eine Frau mit rotem Mantel auf einer Parkbank im Sonnenschein eines großen Sees. Man könnte meinen, das auffallende rot würde stören, doch komischerweise passte es auf irgendeine Weise perfekt in diesen Augenblick.

Ihr gefiel der Anblick. Lächelnd wartete sie darauf, dass mehr passierte.

Die Frau fuhr sich einmal durch die Haare, richtete sich dann etwas auf und schaute zu dem abweisenden Mann hinüber. „Vater." Das Wort war kurz und schien schnell verschwunden. Vom Wind davongetragen. Der Mann löste sich langsam aus seiner Starre und blickte zu dem Gesicht der Frau mit dem roten Mantel. „Wir haben uns lange nicht mehr gesehen." Der Mann nickte nur und wollte den Blick wieder abwenden, doch die Frau setzte wieder an. „Mutters Tod ist jetzt zwei Jahre lang her. Seitdem haben wir nicht geredet." Der Mann zuckte bei dem Wort 'Tod' einmal kaum merklich zusammen und sie war sich nicht sicher, ob sie es sich nur eingebildet hatte. „Es tut mir leid, dass ich so lange nicht für dich da war. Ich bin doch deine Tochter." Sie war traurig, blickte kurz zu Boden. „Und ich schäme mich." Flüsternd leise waren ihre Worte gewesen, doch der Mann schien sie verstanden zu haben. Einige Minuten verstrichen, in denen nichts geschah. Der Wind zauste durch die Haare der Frau. Der rote Mantel flatterte und sie strich ihn wieder glatt.

Dann drehte der Mann sich zu ihr um, betrachtete ihr ausdrucksloses Gesicht und nahm sie schließlich in den Arm. Er drückte sie an sich und die Frau lächelte. Die Idylle war einen Moment lang still. Dieser kurze Moment Ruhe war ihnen gegönnt.

Das Bild wird unscharf und entfernt sich immer weiter. Das Zwitschern der Vögel und das seichte Rauschen des Sees verschwinden. Der Wind wird leichter und lässt sie am Ende ganz allein zurück. Sie blinzelt und das Bild der Galerie, vor dem sie steht, kehrt in seinen Normalzustand zurück. Der See, die Parkbank von der Perspektive der Rückseite und die paar Enten am Rande bleiben zurück. Doch alle Emotionen sind verschwunden, sowie das Geschrei der Kinder der Grundschule. Auch der alte Mann und die Frau mit dem roten Mantel sind nicht mehr zu sehen. 
Die Frau, die das Gemälde eingehend betrachtet hatte, seufzt schließlich und geht mit langsamen Schritten zum Ausgang hinüber. Ihr roter, langer Mantel wallt noch einige Sekunden. Dann verschwindet er die Treppen hinunter, in dem Bild, in dem sie die Hauptfigur spielt.

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