n i n e t e e n

Dan schließt die Augen und atmet den Duft des geöffneten Buches in seinen Händen ein. Er vernimmt den unverwechselbaren Geruch von altem, brüchigem Papier, beendeten Geschichten und späten Sommernächten. Auch einen Duft, der schwer identifizierbar für ihn ist. Ähnelnd einer Blume oder einem seltenen Strauch in der Sonnen durchströmten Natur. Irgendwie, findet er, nach Freiheit. Er spürt die kleinen Staubpartikel, die sich aus dem Buch lösen, als er durch die hunderten Seiten und Abenteuer streicht. Fühlt die sanften, gar nicht mehr rauen Blätter auf seiner Haut. Immer und immer wieder fährt er mit dem Daumen über die Seiten, lässt den Luftzug über sein Gesicht streichen.

Und so stark versucht er den Geruch in sich aufzusaugen, dass er schon längst weiß, dass dieser Wunsch unbedeutend ist. Nur ein paar Sekunden kann er die hunderten Menschen vor sich sehen, ihre Stimmen hören. Sie klar erkennen, wie sie dieses Buch in der Hand halten. Zwischendurch nachdenklich den Blick aus dem Fenster werfen, nach der Antwort suchend, wieso sie nicht dieser mutige Mensch sind, der etwas von Wert, Bedeutung, Sinn für andere tun kann. Und er kann sie sehen, wie sie fasziniert, erschrocken oder traurig sind, am Ende der Geschichte ankommen. Wie sie das Bedürfnis verspüren, auch in Erinnerung zu bleiben. Wie sie es zurück bringen in das große, wunderschöne Gebäude in einer von Bäumen gesäumten Straße im versunkenen New York.

Er öffnet die Augen. Verflogen ist das Gefühl, die Bilder vor seinem inneren Auge. Weg sind die Menschen und die Stimmen. Vor dem Fenster schlägt sich die Sonne tapfer durch die dicke Wolkenschicht und tatsächlich schaffen es einige der Sonnenstrahl hinein in den Raum. Kleine Staubkörnchen schweben durch die Luft, fallen langsam hinab auf die etwas staubigen Holzdielen. Seufzend schlägt er das Buch zu. Schwerfällig erhebt er sich aus dem knarrenden Stuhl, geht ein paar Schritte über das Holz und stellt das Buch schließlich wieder an seinen Platz. Durch den leichten Aufprall löst sich eine kleine Staubschicht von den Büchern, die neben seinem langsam aber beständig verstauben.

Leicht lächelnd wischt er einmal grob über die Kante des überdimensionalen Bücherregals an der rechten Seite des weitläufigen Raumes. Vor einer gar nicht mal langen Zeit waren hier täglich viele Menschen gewesen. Sie hatten sich stundenlang in die kleinsten Ecken der Bibliothek zurückgezogen, mit einem guten Buch, oder auch zwei. Waren in die unbekanntesten Welten versunken, in einem anderen Körper gelebt, fremde Gefühle gehabt. Das nannte Dan Magie. Doch heute waren die Räume leer und sehr still. Noch viel stiller, als die Johannson's Kinder da gewesen waren. Sie hatten sich unter dem großen Tisch in der Mitte des Zimmers versteckt und nur manchmal hatte ihre Mutter sie dazu gebracht, leise mit ihren Puppen zu spielen.

Ach ja, lange waren diese Zeiten her. Lange her, als er noch braune Haare gehabt hatte. Lange her, als er das letzte mal mit ihr gesprochen hatte. Mit Mademoiselle Stella Andrews. Dem schönsten Mädchen der damals noch viel kleineren Stadt. Jeden Sonntag war sie in die Bibliothek gekommen. Hatte sich still in die Ecke am Fenster gesetzt. Jeden Tag mit einem anderen Buch in den Händen. Mit ruhigen Händen die Seiten umblätternd. Er hatte in der Bibliothek gearbeitet und sie jedes mal angeschaut. Ihre blonden Locken auf ihren schmalen Schultern, die grünen Augen auf die Buchstaben gerichtet. Etwas gerötete Wangen, ihre dünnen Lippen konzentriert zusammen gepresst. Ein paar Wochen sah er sie nicht. Er war furchtbar traurig, wartete darauf, sie endlich wiederzusehen. Ein Monat, zwei Monate blieb sie weg. Er gab die Hoffnung auf. Dan erinnerte sich, dass sie ein Buch einige male gelesen hatte. Eines Nachmittags setzte er sich an den Platz ans Fenster, nahm das feine Leder in die Hände und fing an zu lesen.

„Hrmp Hrmp." Überrascht schaute er auf. Sie schaute ihn an, eine kleine Falte auf der Stirn. „Guten Tag. Seit wann sitzen sie hier?" Fragend blickte sie auf den Stuhl und schließlich auf das Buch.

„Entschuldigen sie." Schnell sprang er auf. „Ich wollte ihn ihnen nicht weg nehmen!" Da lächelte sie ihm zu, legte ihren Winterpelz über die Stuhllehne und ließ sich auf dem bequemen Stuhl nieder.

„Wo sind sie gewesen?" Er konnte die Frage nicht unterdrücken. Sie kam einfach so aus seinem Mund.

Nachdenklich schaute sie auf den Tisch, zu der dünnen Vase auf der Fensterbank, nur nicht in seine Augen. „Ich... war eine Weile fort." Stockend war ihre Stimme, fast verhaspelte sie sich einmal. Sie klang so, wie die Stimme eines Menschen, der lange nicht gesprochen oder über Worte nachgedacht hatte. Dennoch war ihre Stimme wirklich wunderschön. Nichts kam sie gleich, das er je gehört hatte.

Dan hört, dass die Tür sich öffnet. Ein Kunde. Lange hatte er dieses Geräusch nicht mehr gehört. Er merkt, dass er sich das Buch von vorhin wieder genommen hat. Grade will er es erneut zurück stellen, als er sie hört. „Immer noch hier, Dan?"

Langsam dreht er sich um. Graue Haare, etwas größer sogar, als er sie in Erinnerung hat. Die Stirn ebenfalls anders, nämlich etwas faltiger als damals. Doch das Lächeln ist gleich, ebenso wie ihre grünen, wachen Augen. Er sieht sie endlich wieder. Ein Grinsen stiehlt sich auf sein Gesicht. „Stella."

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