Und wehe du bist nicht perfekt!

Der Regen prasselt auf den leuchtend gelben Schirm. Seit den frühen Morgenstunden ist der Himmel mit grauen Wolken verschleiert, immer wieder zogen Schauer über die Stadt. Vor ein paar Stunden hat dann der Dauerregen eingesetzt. Auf den Gehwegen und Straßen haben sich Pfützen gebildet, die ein Hindernis für all die Männer und Frauen mit teuren schwarzen Lederschuhen, die aussehen wie frisch lackiert, oder klassischen Monsterabsätzen in knalligem Kirschrot darstellen. Mit angewiderten Gesichtern staksen sie wie Störche über das Wasser hinweg und hopsen von Asphaltstreifen zu Asphaltstreifen, in der Hoffnung ihr überteuertes, in einem Designerladen erworbenes Schuhwerk nicht zu beschmutzen. In einer perfekten, reichen Welt müssen schließlich auch die eigenen Füße makellos sein.
Maya betrachtet ihre eigenen fehlerlosen Turnschuhe. Das teuerste Model, das sich im Laden finden ließ. Schwarz mit weißen Highlights an Sohle und Markensymbol. Edel und ausnahmsweise auch tatsächlich bequem. Vermutlich hätte es sie auch billiger gegeben, hätte man sich die Mühe gemacht, Preise auf diversen Internetseiten zu vergleichen. Den gierigen Verkäufern, die einem am liebsten noch drei weitere Paar Schuhe aufschwatzen würden, weil jeder einmal in der Woche einen Mondspaziergang macht, zu welchem man eben diese speziellen Schuhe braucht, Geld in den weit aufgerissen Rachen zu werfen, ist wesentlich einfacher und zeigt allen deutlich, dass man mit dem, was man hat, nicht zu sparen braucht.
Trotzdem erfüllt Maya nicht ganz das Klischee, das sie hätte erfüllen sollen. Als hochangesehene Anwältin für Zivil- und Strafrecht in einer der reichsten Städte der Welt sollte sie wohl knappe Röcke, Blusen mit weitem Ausschnitt und derartig hohe Absätze tragen, dass sie jemandem bei einem Tritt in den Hintern ihren neuen Schuh gleich schenken könnte. Natürlich würde eine derart bekannt Frau niemandem in den Allerwertesten treten. Das ziert sich nicht. Außerdem besteht ihr bevorzugtes Outfit aus einer schwarzen Hose in Lederoptik, einer akkurat gebügelten Bluse ohne gewagten Ausschnitt und eben ihren Turnschuhen, die nur eine etwas dickere Sohle vorzuweisen haben. Heute wird dieses noch durch ihren Regenschirm ergänzt. Auch dieser passt eher kaum in das typische Erscheinungsbild einer Anwältin. Schwarz ist der Trend nicht ein Gelbton, der jede umschaltende Ampel in den Schatten stellt.
Mit einem Blick auf ihre drei Jahre alte Rolex stellt sie fest, dass sie ihren Kaffee heute wohl in der Kanzlei würde trinken müssen. Die Kaffeemaschine Deluxe, die seit ein paar Wochen zur Inneneinrichtung zählt, liefert zwar nur lauwarme Wasserbrühe mit einer Priese Kaffeepulver, aber für einen Starbucks Cappuccino reicht die Zeit heute nicht und um an Koffein zu kommen, würde auch die Wassersuppe ausreichen. Mit schnellen Schritten, auf die Pfützen achtend, macht sie sich auf in Richtung des gigantischen Gebäudekomplexes, der nur aus Glas besteht.
„Mandanten sprechen lieber mit uns, wenn sie vorher beobachten können, wie wir arbeiten", hatte ihr Chef einmal gesagt, als man die Büros in die Glastürme verlegt hat.
„Warum fragen sie dann nicht einfach die NSA?", hatte Maya gescherzt und sofort die abschätzigen Blicke ihrer Kollegen geerntet.
„Ich erwarte von Ihnen eine gewisse Ernsthaftigkeit, sollten Sie einmal meinen Posten als Karriereziel ansehen."
Einen Kommentar hatte sie sich damals verkniffen. Dafür wurde sie letzte Woche zur stellvertretenden Leiterin der Kanzlei befördert. Mehr Geld, mehr Stress und keine Zeit mehr sich einen ordentlichen Kaffee zu besorgen, sind die Folge.
„Sie sind spät dran Maya", wird sie von ihrer Sekretärin begrüßt.
„Aber immer noch pünktlich Lina", antwortet sie und schließt die Tür zu ihrem Büro hinter sich,
„Wenn auch nur um eine Minute."
Keine zwei Minuten verstreichen und das Telefon beginnt zu klingen.
„Ich dachte, ich hätte eine Sekretärin, damit sie die Anrufer abspeist!"
„Die wichtigsten werden jedoch durchgestellt", kommt die Antwort und Maya verdreht die Augen.
„Guten Morgen. Anwaltskanzlei Thompson für Zivil- und Strafrecht, Maya Hendricks am Apparat", meldet sie sich und das nicht nur einmal.
Diebstahl, Alkoholkonsum oder Drogenmissbrauch von Teenagerkindern reicher verwöhnter Schnösel. Jetzt brauchen sie einen guten vertraulichen Anwalt, der die Anzeigen für Alkohol am Steuer, Körperverletzung unter Drogeneinfluss und Beleidigung von Beamten schnell abhandelt, ohne die Aufmerksamkeit der Klatschpresse auf den Fall zu lenken. Im Normalfall werden derartige Fälle an die etwas niedrigere Gehaltsklasse weitergeleitet und nur die Wenigsten werden von David Thompson oder, seit einer Woche, von ihr persönlich bearbeitet. Nur die wirklich wichtigen Stammkunden, die „dicken Fische", kommen unter ihre Fittiche.
Steven Butler ist einer davon. Im Rausch hat er angeblich eine 17 jährige belästigt. Das Übliche, wenn man die Schnapsflaschen leert, als gäbe es kein Morgen mehr. Man denkt, man wäre der größte Held auf Erden und könnte die Gesetze drehen und wenden, wie es einem gerade passt und selbst, wenn man keinen Tropfen Alkohol intus hat, benimmt man sich wie der Schlauste und Beste. Angeber in vollem Maße. Noch schlimmer sind jedoch die Mütter. Natürlich nur um das Wohl ihrer Schützlinge besorgt.
„Sie bekommen das doch wieder hin oder? Wir setzen unser volles Vertrauen in Sie, das ist Ihnen doch hoffentlich bewusst?"
„Ich rufe es mir immer wieder gern ins Gedächtnis Frau Butler", antwortet sie höflich, obwohl es sie innerlich dazu drängt, die Augen um mehrere Umdrehungen zu wenden.
„Dann nehme ich an, dass Sie sich auch mit vollem Einsatz in diesen Fall knien", in der Stimme dieser Frau schwingt immer dieser Unterton mit, der zu sagen scheint:
„Am liebsten würde ich Sie mit meinen bohrenden Blicken erdolchen."
„Selbstverständlich Frau Butler. Unsere Kanzlei ist dafür bekannt, sich mit voller Konzentration an jeden einzelnen Fall zu setzten. Daher kommt unsere besonders hohe Erfolgsquote in Verhand..."
„Ich will, dass es überhaupt nicht zu einer Verhandlung kommt Frau Hendrickson! Anscheinend muss ich mich jedoch klarer ausdrücken", unterbricht sie Maya grob.
„Natürlich Frau Butler. Ich werde die bestmöglichen Bemühungen anstreben, um eben das zu verhindern."
Ohne einen weiteren Kommentar steht sie auf und zieht ihren Sohn, der stark an einen Hund erinnert, an dem das Frauchen nur seinen Wert schätzt, hinter sich aus ihrem Büro.
Lina wirft Maya einen vielsagenden Blick zu. Sie denkt das Gleiche: Schnösel. Perfekte Schuhe, perfektes Image. Fehler werden ausradiert und wehe jemand sieht das kleinste Anzeichen von Schwäche. In einer perfekten Welt braucht es ein perfektes Leben und einen makellosen Anwalt. Jeden Tag das gleiche Drama. Menschen, die bessere Schauspieler sind als alle, die in den beliebten Hollywoodproduktionen über die Leinwand spazieren.
Genervt greift die soeben mit Verantwortung belastete Anwältin nach der Tasse Wassersuppe mit Kaffeegeschmack. Eiskalt liegt es auf ihrer Zunge und mit verzerrtem Gesicht spuckt sie die Flüssigkeit wieder in den Behälter:
„Ich will eine neue Kaffeemaschine, wenn Familie Butler das Honorar überwiesen hat", knurrt sie,
„Und Urlaub!"

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