Strom der Zeit
Gelächter. Zwei kleine Kinder laufen über den Rasen. Sie spielen Fangen. Ihre Augen leuchten vor Freude. Die Jeans des einen ist kaputt. Sie hat ein Loch am Knie, doch niemanden stört es. Die Eltern der beiden sitzen auf einer Bank und betrachten lächelnd ihre Schützlinge. Auch ihre Augen strahlen. Sie sind jung, glücklich und machen sich keine Sorgen über Probleme, die sie in der Zukunft haben könnten. Ich sitze hier. Auf der alten Schaukel und beobachte sie. Irgendetwas sagt mir, dass ich sie kenne, aber mir fällt nicht ein woher. In meinem Kopf ist Dunkelheit. Nur das bunte Bild, was ich jetzt gerade sehe füllt die Schwärze. Der Mann steht auf und kommt auf mich zu. "Mutter? Möchtest du nicht zu uns kommen?" Verwirrt sehe ich ihn an. Warum nennt er mich "Mutter"? Ich kenne ihn doch gar nicht. Irritiert schüttele ich den Kopf. In seinen Augen kann ich unerträglichen Schmerzen erkennen. Habe ich etwas Falsches gesagt? Er geht wieder. Seine Frau nimmt ihn kurz in den Arm. Verwundert sehe ich auf meine faltigen Hände. Meine Fingerknöchel sind weiß, so fest halte ich mich an den Metallsträngen der Schaukel fest. Plötzlich weiß ich wieder, wer dieser Mann ist. Er ist mein Sohn. Die Kinder auf dem Rasen sind meine Enkel. Gequält seufze ich. Warum habe ich sie nicht erkannt? Schmerzlich wird mir bewusst, dass mein Sohn wegen mir so niedergeschlagen ist. Ich will aufstehen, doch als ich stehe, weiß ich nicht mehr, was ich eigentlich tun wollte. Verwirrt setze ich mich wieder und beobachte die Kinder. Meine Gedanken gleiten zurück in die Vergangenheit. Ich sehe eine Szene aus meinem Leben. Mein Sohn läuft zusammen mit meinem Mann über den Rasen und spielt Fußball. Sein Vater lässt ihn gewinnen, doch er hat Spaß. Schade, dass er so schnell gewachsen ist. Am andern Ende des Parks sitzt ein Pärchen auf einer Bank. Der Mann sieht immer wieder zu mir. Ich weiß, dass ich ihn kenne, doch mir fällt kein Name ein, keine Beziehung. Ich weiß, dass ich ihn vergessen habe, auch wenn ich nicht weiß wer er ist. Warme Tränen laufen mir über meine dünne alte Haut. Hoffnungslose Versuche mich zu erinnern lassen sie noch schneller fließen. Ich möchte sie fort wischen, doch ich halte etwas in meiner linken Hand. Es ist ein Zettel. Er ist zerknittert und von den vielen bereits getrockneten Tränen, die schon einmal darauf gefallen sind, ganz gelblich. Mit zitternden Händen falte ich ihn auseinander. In sauberer Schrift steht ein Satz in der Mitte des Papiers: Wir lieben dich Oma! In der unteren linken Ecke ist noch etwas niedergeschrieben: Du wirst immer meine Mutter sein, egal, ob du weißt wer ich bin oder nicht. Eine heiße Träne tropft auf den Brief. Ich hebe meinen Blick. Die Bank ist leer, die Kinder sind verschwunden, nur ich sitze noch hier auf der alten Schaukel und versuche verzweifelt mich an ihre Stimmen zu erinnern.
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