Schwanensee

Das Orchester spielt Tschaikowskis Schwanensee. Vierhundert Augenpaare folgen begeistert den Bewegungen der Tänzerinnen. Sie fliegen über die Bühne, verwandeln das aufwendig gestaltete Bühnenbild in einen ablaufenden Film. In der Mitte tanzt der weiße Schwan. Wunderschön und anmutig, mit fließenden Bewegungen, mit perfekten Pirouetten. Jede Geste, jede Sprung ist elegant und makellos und auf den blassen Lippen der Tänzerin liegt ein Lächeln.

Der weiße Schwan: Elly. Ich erwarte Großes von dir", Frau Mathieu lächelte sie mit ihrem teuflischen Lächeln an.
Sie meinte es nie böse, und doch wirkte es immer so, als würde sie sich über das Leid von anderen amüsieren. Mit ihren weißen Zähnen schien sie sie blenden zu wollen, damit sie auf keinen Fall zu ihr aufschaute.

Die Musik wird lauter, umwirbelt das Publikum. Auf der Bühne tanzen nun alle Tiere, die in dem Zauberwald leben. Eichhörnchen, Vögel, Schwäne.

„Höher! Das Bein muss viel höher!"
Mit einem Bambusstock deutete sie auf Ellys Bein. Sofort korrigierte sie ihre Haltung. Ein anderes Mädchen, sie war zwei Jahre jünger als Elly und tanzte zum ersten Mal in einem großen Ballett, war nicht schnell genug. Der Abdruck des Stockes blieb ihr lange erhalten. Er zog sich als blau-schwarzer Riemen über ihren Oberschenkel.
Am Abend weinte sie bitterlich. Elly hatte sie in den Arm genommen und gerne hätte sie ihr versprochen, dass es nicht noch einmal vorkommen würde.

Eine Schlange aus Eichhörnchen umringt die Schwanenprinzessin. Sie tanzten im Kreis und warfen dabei abwechselnd das linke oder das rechte Bein nach oben. Die Fußspitzen sind immer auf gleicher Höhe, selbst wenn sich die Größe der Tänzerinnen unterscheidet. Selbst die Kleinste schaffte es.

„Wo warst du?", fragte Frau Mathieu und funkelte Elly mit ihren dunkeln Augen an.
„Entschuldigen Sie die Verspätung. Ich wollte an meinem Geburtstag ins Kino gehen und der Film dauerte länger als erwartet."
„Wir haben hier klare Regeln Fräulein. Gerade du als Schwanenprinzessin solltest das wissen! Willst du etwa deine Eltern enttäuschen, weil ich ihnen mitteilen muss, dass du nicht in der Lage bist die Hauptrolle zu tanzen?"
Elly schüttelte verzweifelt den Kopf:
„Es kommt nicht wieder vor."

Das Publikum klatscht zur Pause. In der ersten Reihe sitzen Eltern und Verwandte der Tänzerinnen. Sie alle strahlen und in ihren Augen leuchtet der Stolz über ihre Kinder.

Der schwarze und der weiße Schwan tanzten nun nebeneinander. Sie wollten die Ballszene üben.
„Elly! Der schwarze Schwan darf auf keinen Fall anmutiger sein als du!", brüllte ihre Mutter von der Seite. Sie war heute zum Training erschienen, weil sie die Fortschritte ihrer Tochter beobachten wollte.
Der Vorfall an Ellys Geburtstag war tatsächlich nicht zu ihr getragen worden. Seit diesem Abend kam ihre Tochter immer eine Stunde vor Nachtruhe ins Internat zurück.

Die Ballszene leitet den zweiten Teil ein. Der schwarze Schwan umgarnt den Prinzen und unten vor dem Fenster versucht der weiße Schwan verzweifelt dessen Irrtum aufzudecken, doch trotz der größeren Anmut der Prinzessin schaut der Prinz nicht aus dem Fenster.

„Was wollt ihr? Es gibt keine Schokolade und mir ist egal, ob jemand Geburtstag hat oder nicht!"
Elly zuckte zusammen. Die armen Mädchen. Sie wollten eine Tafel Schokolade erbitten, um den Geburtstag ihrer Freundin etwas zu feiern. Vor ein paar Tagen erst hatten zwei Freundinnen von ihr versucht, sich etwas Alkohol zu erbitten. Sie mussten beide drei extra Stunden pro Tag üben, damit die vergaßen, was Alkohol ist.
Die Bestrafung für die Mädchen wollte Elly sich jetzt gar nicht erst vorstelle, also drehte sie sich weg und ging. Sie hörte nur noch Frau Mathieus wütende Stimme:
„Wollt ihr, dass ihr nicht mehr in eure Kostüme passt, weil ihr zu dick seid?"

Zurück auf dem See im Wald tanzen Schwanenprinzessin und ihre drei Zofen, drei kleiner Schwäne, über die dargestellten Wellen. Die Zofen sind zierlich und dünn. Ihre Kostüme liegen hauteng an ihren Körpern.

„Wenn du diese Figur nicht beim nächsten Mal richtig tanzt, dann gibt es für euch alle hier kein Abendessen!"
Elly spürte, wie ihr der Schweiß die Stirn hinab lief, ihre Füße brannten, als hätte sie sich in heißem Wasser verbrannt und ihre Beine zitterten. Sie wusste, dass ihre Muskeln bald nicht mehr in der Lage wären, sie zu tragen.
Die Figur bestand aus drei vollen Umdrehungen und einem Sprung, nach welchem sie in die Arme des Prinzen fallen sollte. Seit die Sonne heute morgen aufgegangen war, übten sie für das neue Ballett. Wenn Elly es geschafft hätte, den „sterbenden Schwan" korrekt auszuführen, dann wären jetzt alle entlassen. Jetzt tanzten sie schon vier Stunden länger als sonst.
In den Augen der anderen konnte man die Schwäche bereits sehen. Sie glänzten nicht mehr und die Haut in den Gesichtern war so transparent, dass man meinen könnte, die Knochen zu sehen.

Die Melodie spitzt sich dramatisch zu und der Schwann beginnt mit den Drehungen. Die Tänzerin dreht sich drei Mal, auf ihren Lippen klebt noch immer ein Lächeln. Mit einem anschließenden Sprung fällt sie in die Arme des Prinzen und die Musik setzt kurz aus. Das Publikum hält den Atem an. Sie bewundern den perfekt ausgeführten „sterbenden Schwan".

Als sie die Schuhe auszog, lösten sich die Riemen nur schwer aus der Haut, in die sie sich geschnitten hatten. Blut quoll aus den Wunden und ihre Füße waren übersähet mit Blasen.
„Morgen sind diese Schuhe aber wieder sauber! Sonst fällt das Frühstück morgen ebenfalls weg!"
Elly konnte nur nicken.
Die ganze Nacht saß sie wach und schrubbte verzweifelt an ihren Schuhen, um das mittlerweile getrocknete Blut aus dem weißen Stoff zu waschen. Ihre Hände taten weh, doch sie wollte nicht wieder Schuld sein, wenn jemand zusammenbrach, weil er kein Essen bekommen hatte.

Der Prinz trauert, weint um seine Prinzessin. Er beklagt sich, wie er sich nur hatte irren können. Die Scheinwerfer lassen das weiße Kleid und die weißen Schuhe leuchten.

„Die Schlussszene muss morgen besser werden! Ich hoffe für euch, dass ihr nur die Generalprobe so grauenvoll seid!"
Die Gruppe hatte mal wieder das Verbeugen und Präsentieren vor dem Publikum nicht perfekt ausgeführt. Erst sollten Prinz und Prinzessin auf die Bühne und dann alle.
„Wenn das morgen nicht klappt, dann gibt es kein freies Wochenende, damit wir uns verstehen!"

Prinz und Prinzessin erscheinen noch einmal auf der Bühne. Sie verbeugen sich und jetzt folgen auch die anderen Tänzer und Tänzerinnen. Auch sie verbeugen sich und das Publikum spendet tosenden Applaus. Begeisterte Rufe werden laut und die Menschen sind begeistert.
Jeder auf der Bühne lächelt.

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