Nicht einmal. Immer.
Menschen stehen überall auf dem Gang. Ihre Stimmen füllen das Gebäude mit Worten; freien Worten, die von den Wänden wieder abprallen und in ihr Bewusstsein dringen. Was machst du am Wochenende? Warum wusstest du die Antwort auf seine Frage vorhin nicht? Hast du etwa mit deinem Vater über Kaugummis gestritten? - Alles normale Gespräche zwischen ganz normalen Menschen. Alles ist normal. Sie lächeln sich an, werden rot, wenn ihnen etwas peinlich ist, sie suchen nach Nähe, wenn sie verletzt sind. All das Normale verschwindet, wenn sie an ihnen vorbeigeht. Sie ist nicht normal. Etwas an ihr ist anders, doch niemand weiß was. Nicht einmal sie selbst. Trotzdem starrt man sie an. Böse Blicke sind es, wütend; angeekelt. Man sagt, sie hat einen Pakt mit dem Teufel, vielleicht legt sie sich auch unter das Messer. Sie ist zu schön, um menschlich zu sein. Allerdings könnte sie auch wie Medusa sein. Sieh ihr in die Augen und du versteinerst. Vielleicht ist sie auch das Kind einer Vergewaltigung und der Vergewaltiger war irgendein Supermodel. Niemand von ihnen kennt sie wirklich. Woher sollten sie auch? Man spricht ja nicht mit ihr. Jedenfalls nicht so. "Schon wieder von der nächsten Schönheitsoperationen zurück?", ruft ihr ein Jungs aus einer Ecke zu. "Drei ist doch wohl ein bisschen viel in einer Woche, oder? Wir haben erst Mittwoch!", wirft ihr ein Mädchen aus dem ältesten Jahrgang an den Kopf. Vor ihr machen alle Platz. Niemand will sie berühren. Schließlich könnte sie giftig sein. Sie fällt. Jemand hat ihr ein Bein gestellt. Man kann sie also wieder berühren, denn er steht noch und lacht. Alle lachen. Eine Gruppe von Älteren baut sich vor ihr auf. "Wo hast du denn deinen Giftpanzer gelassen, Schlange?", johlt einer und tritt ihr mit voller Wucht in den Magen. Ihr wird sofort schlecht und ihre Atmung versagt. Sie bekommt keine Luft, hechelt verzweifelt. "Seht sie euch an! Nicht einmal atmen kann die!" Wieder lachen alle. Sie lachen laut, gehässig. Sie freuen sich über ihre Schmerzen. Ein weiterer Tritt folgt. Diesmal ist ihr jedoch keine Pause vergönnt. Die anderen machen mit. Sie sieht nur Füße. Immer wieder. Verzweifelt schützt sie ihren Kopf mit den Händen. Man dreht sie auf den Rücken und sie spürt ein Gewicht auf ihrem geschundenen Bauch. Ihre Augen hat die geschlossen, nichts will sie sehen. "Was ist denn? Willst du dem Vater deines zukünftigen Kindes nicht in die Augen sehen?", fragt der Junge, der auf ihrem Brustkorb thront und ihr die Luft nimmt, laut. "Er will ein Kind von dir, er will ein Kind von dir!", rufen alle in einer Art Sprechgesang. "Du solltest dich geehrt fühlen. Jedes Mädchen hier will mit mir schlafen, hab ich Recht Mädels?" Sie hört wie andere Mädchen kreischen. "Dann müsst ihr wohl zum nächsten Schönheitschirurg, denn wie ihr seht, stehe ich nur auf Unechtes!" Wieder lacht die Menge. Er hat den besten Witz des Tages gerissen. "Jetzt sieh mich an!", fordert er wütend und reißt ihre Hände weg. Ihre Augen kneift sie zusammen, aber er presst ihr seinen Finger hinein, sodass sie sie öffnen muss. "Na geht doch! Was kann man an Augen denn so alles operieren lassen?", fragt er und kommt ihrem Gesicht mit seinem ganz nah. Wie aus dem Nichts landet eine Faust auf ihrem Auge. "Das wirst du morgen gleich entfernen lassen müssen. Sonst kommst du noch mit einem Makel hierher!" Wieder schlägt er sie. Ihr ist klar, dass sie den Kampf gegen die Tränen gleich verlieren wird und dann haben sie wieder etwas zum Lachen. Aus dem Augenwinkel nimmt sie etwas wahr. Ein Lehrer. Er starrt sie direkt an, sieht, was passiert. Dann geht er einfach weiter. Vermeidet ihren Blickkontakt und verschwindet um die nächste Ecke. Er will sich nicht einmischen. Alle Schüler hätte er dann gegen sich. Wieder trifft sie ein Schlag. "Wenn ich dich jetzt so ansehe, dann bin ich doch gar nicht mehr so erregt", stellt der Junge fest, "Dein Blut ist ja gar nicht grün!" Und schon wieder lachen alle. Das Geräusch dröhnt in ihren Ohren, dringt durch das Rauschen ihres Blutes hindurch. Es klingelt. "Du musst aufstehen, sonst kommst du zu spät in deine Klasse", ruft jemand und wieder Gelächter. Wie soll sie aufstehen, wenn man sie festhält. Sie ist nicht stark. Mal wieder würde sie nicht zum Unterricht erscheinen und keine Begründung liefern können. Sicherlich kannte jeder die Wahrheit, aber sie ignorierten sie. "Na nun mach schon! Streng dich wenigstens an!" Das würde sie nicht. Es hatte keinen Sinn. Sie würden nur noch mehr lachen. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken. Einfach verschwunden und niemals wieder gekommen. Wie viel Hass lag in diesem Raum? Warum hatte man so viel Spaß daran, ihr wehzutun? "Ihr könnt jetzt aufhören!" Gelächter, Gemurmel und Geflüster. Alles verstummt. Eine Gasse bildet sich. "Geh von ihr runter", die Stimme ist weiblich. Sie kennt sie nicht, aber das muss nichts heißen. "Was genau willst du denn jetzt? Du solltest lieber bei deinen Freundinnen bleiben und den Mund halten! Ich beschütze dich vor diesem Ungetüm!", ruft der Junge, der sich noch immer nicht rührt. "Wovor genau musst du mich denn beschützen? Vor deiner eigenen Dummheit wohl am ehesten. Jetzt lass sie in Ruhe." Aus welchen Gründen auch immer geht niemand auf sie los. Vielleicht akzeptiert man ihren Mut, vielleicht auch nicht. Niemand beleidigt sie. Der Druck auf ihrem Brustkorb hebt sich und die hustet, weil sie endlich wieder Luft bekommt. Jemand lacht, verstummt aber sofort wieder. "Ist das jetzt ein neues Sozialprojekt?", fragt der Junge das Mädchen, das ihm den Spaß genommen hat. "Das ist seit zwei Wochen mal etwas Richtiges." Man tauscht Blicke. Dann verschwinden alle nach und nach im Unterricht. Eine Hand wird ihr entgegen gestreckt. Sie ergreift sie, will sich bedanken, doch das Mädchen winkt ab: "Du dürftest dich bedanken, wenn ich nicht zwei Wochen gewartet hätte." Sie nickt, weiß aber nicht, was sie davon halten soll. "Keiner traut sich, etwas gegen die Masse zu tun, nicht wahr?" Mit diesen Worten dreht das Mädchen sich um und verschwindet ebenfalls in ihrer Klasse. Die Flure sind jetzt verlassen. Niemand lacht, niemand spricht. Das einzige Geräusch ist ihr Atem. Langsam geht sie zur Tür. Hinaus an die frische Luft, auf dem Weg - zu einem Psychologen. Auf dem Weg zu jemandem, der ihr hilft. Nicht einmal. Immer.
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