Lebende Musik

Meine Finger zittern. Die Tasten verschwimmen vor meinen Augen. Ich kann nicht mehr sagen, wo sich die nächste Note befindet. Schlimmer noch. Ich weiß nicht einmal mehr, was ich als nächstes spielen muss. In meinem Kopf herrscht gähnende Leere. Eine undurchdringliche Dunkelheit, die alles in sich hinein saugt. Wie hieß das Stück überhaupt, das ich hätte spielen sollen? Vor meinen Augen zerfließen die weißen und schwarzen Tasten zu einem Meer aus grauen Wogen. Wütende Wellen schlagen nach meinen Händen, wollen sie mit sich in die Tiefe ziehen. Schweißperlen fließen meine Schläfe hinab. In diesen Sekunden scheint alles um mich herum, alles, was mit mir passiert, surreal zu sein. Jeden meiner Atemzüge nehme ich so deutlich wahr, als könnte ich ihn auf einem Monitor beobachten. Mein Herz hämmert in meinen Ohren einen Takt, der sich in mein Gedächtnis brennt. De-Dum, De-Dum, De-Dum. Immer und immer wieder pocht es. Es wird nicht unterbrochen, es wird nicht langsamer, nicht schneller. De-Dum, De-Dum. Ich spüre meine Fingerspitzen nicht mehr. Vielleicht bewegen sie sich, vielleicht aber auch nicht. Ich weiß nur, sie sind kalt. Erinnert an frostige Wintertage, schüttele ich mich. Die Gänsehaut kriecht über meine Arme und über meinen Rücken, überall prickelt es. Fast denke ich, den Wind in meine Haut schneiden zu fühlen. Den eiskalten, erbarmungslosen Sturm, der mit winzigen Messern seine Spuren in meinem Gesicht hinterlässt. Er heult durch die Luft und zieht an den so schwachen Bäumen, wirbelt Äste herum und dringt in jede schlecht isolierte Spalte. Was keinen Widerstand bieten kann, wird ohne Zögern überwunden. Ich fürchte er würde meine Hände mit sich reißen, fort von dem Klavier, fort von mir. Sie werden nach links gezogen, nach rechts und wieder nach links. Dann ist der Sturm weg. Sonnenstrahlen brechen durch die dicke Schicht aus grauen Wolken. Sie wärmen meine erfrorenen Finger, tauen sie langsam auf. In Sicherheit wiegen sie mich und verschleiern langsam meine Gedanken. Es ist wie in einer Blase, abgeschirmt von der Außenwelt und kuschelig warm. Seine Umgebung nimmt man nicht mehr wahr, alles verschwimmt und wird unwichtig. Ich weiß nicht mehr, wo ich bin und warum ich jemals hier war. Alles scheint egal. Doch auch diese Geborgenheit verschwindet, so wie das Meer und die Kälte zuvor. Jetzt sehe ich die Tasten wieder und ein anderes Geräusch als das meines Herzens dringt in mein Bewusstsein. Applaus. Viele Hände, die aufeinander schlagen und alle anderen Laute im Raum übertönen. In den Augen meiner Klavierlehrerin spiegelt sich meine Verwunderung wieder. Mir ist nicht bewusst, was passiert ist, aber irgendetwas muss ich gemacht haben.

"Warum hast du mir nicht gesagt, dass du selbst komponierst?"
Sie fragt mich das jetzt schon zum bestimmt einhundertsten Mal. Ich weiß immer noch nicht, warum ich vorhin nicht spielen konnte, was ich hätte spielen sollen. Meine Finger haben einfach gespielt, was in meinem Kopf geschehen ist. In der Aufnahme höre ich alles. Ich erkenne das Meer, den Sturm, die Kälte, die Sonne und meinen Herzschlag.
„Sprichst du mit mir?"
„Ich komponiere nicht", versuchen meine Lippen überzeugend zu übermitteln, aber ich bringe nur ein Krächzen zustande.
„Dann bist du ein Genie. Wo hast du den Bach gelassen?"
Ich schüttele mich. Vielleicht träume ich. Für mich fühlt es sich irgendwie so an. Meine Gedanken sind immer noch verschwommen und mein Gehirn braucht lange, um eingehende Informationen zu verarbeiten. Gesprochenen Worte dringen nur langsam zu mir hindurch.
„Denkst du, du kannst das wiederholen?"
Überrascht von der Frage starre ich sie an. Das Begreifen tritt erst Sekunden später ein und ich will eigentlich den Kopf schütteln, doch irgendetwas hält mich davon ab.
„Versuch es einfach", meint sie ruhig und lächelt mir aufmunternd zu.
Ich nehme mir jedoch ein Blatt und einen Stift und denke mich noch einmal hinein in meine Situation. Mir fallen die Noten wieder ein. Sie sind einfach da, erleuchten vor meinen Augen wie das „Sie haben eine neue Nachricht"-Symbol auf meinem Handydisplay. Das Einzige, was ich tun muss, ist, sie aufzuschreiben.

So hat es wohl angefangen. Jetzt sitze ich jeden Tag vor meinem Flügel und spiele einfach, notiere Noten und versinke in meiner kleinen Welt. Jedes Wochenende spiele ich in einem Saal, der gefüllt ist mit Menschen und sie klatschen, wenn ich wieder etwas Neues in mein Programm einbaue. Ich bin fünfundachtzig Jahre alt. Damals vielleicht fünfzehn. Genau weiß ich es nicht mehr. Manchmal frage ich mich, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn meine Eltern mir damals kein Klavier geschenkt hätten. Wäre ich glücklicher gewesen oder hätte ich stets von einem anderen Leben geträumt? Ich weiß es nicht, aber so wie es jetzt ist, bin ich glücklich. Musik ist mein Leben und Gefühle sind Musik. Alles, was ich je erlebt habe, spiegelt sich in dem wieder, was ich komponiere. Fünfundachtzig Stunden Musik, fünfundachtzig Jahre zu leben. Vielleicht kommen noch mehr hinzu, vielleicht ist mein Leben beendet, bevor ich ein weiteres Jahr vollenden kann, doch kein Detail aus meiner Existenz wird jemals vergessen, solange es Menschen auf der Welt gibt, die die Musik genauso spüren wie ich. Musik ist kein Gegenstand und kein totes Stück Papier, das man einfach kontrollieren kann. Musik ist ein lebendiges Wesen, das nur von dem verstanden wird, der sich auf all das einlässt, was sie ihm zeigt. Angst, Trauer und Wut, aber auch Freude, Lachen und Triumph. Nur wer sich furchtlos und bedingungslos von ihr führen lässt, kann sie verstehen und kann selbst etwas Wunderbares schaffen. Etwas Wunderbares und etwas unvergesslich Einzigartiges.

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