Engelsblut

"Wo bist du gewesen?" "Möchtest du wirklich eine Antwort auf diese Frage haben?" "Würde ich fragen, wenn ich es nicht wollte?" "Nein. Vermutlich nicht." Ich bin froh, dass er meine rotgeweinten Augen nicht sehen kann. Leise raschelt es als er näher kommt, doch ich halte in auf. "Beantworte mir zuerst meine Frage." In meinem Kopf entsteht ein Bild, wie er die Augen verdreht. So ist er immer. "Was ist, wenn ich dir deine Frage überhaupt nicht beantworten kann?" In seiner Stimme scheinen tausende von anderen Menschen mitzuklingen und alle Gefühle, die er je erlebt hat, färben den Klang. Wie jedes Mal, wenn ich mit ihm spreche, wünsche ich mir ihm auf Ewig zuhören zu können. Er spricht so sanft und doch so grausam. Liebevoll und doch mit so viel Hass. "Du kannst es, wenn du es nur wolltest." Sein Lachen ist genauso atemberaubend, wie seine Stimme. Es ist wie eine ständiges aufeinander Prasseln von Glasscherben. Hell, schön, melodisch und doch beängstigend und gefährlich. "Und damit sagst du mir, dass ich dir nicht sagen will, wo ich war?" "Ja." "Das ist aber nicht sehr liebenswert von dir." Sein Flüstern hingegen ist schaurig und grässlich. Wie das Zischen einer Schlange. Giftig. Hinterlistig. "Ist es denn besonders liebenswert von dir, mir zu verschweigen warum du so lange fort warst?" Entgegen meinen Willen zittert meine Stimme leicht. Ich bin das genaue Gegenteil von ihm. "Vielleicht ist es das. Vielleicht auch nicht. Wer weiß das schon." "Ich denke, dass du es weißt." "Ja. Da hast du wohl Recht." "Und? Ist es liebenswert?" "Nein." "Warum beantwortest du mir dann nicht einfach meine Frage?" "Vielleicht, weil ich gar nicht liebenswert sein will." Kurz scheint das Blut in meinen Adern zu gefrieren, aber ich atme einmal tief durch. "Was bist du dann? Wenn nicht liebenswert?" "Verabscheuungswürdig." Die Kälte, die auf einmal in seiner Stimme mitschwingt, lässt mich zittern. "Und woher willst du wissen, dass du verabscheuungswürdig bist?" "Dreh dich um." Was wenn nicht? Was wenn ich nicht sehen will, was du bereit bist mir zu zeigen?" "Dann hättest du nicht gefragt." Ich blinzle mir dir letzten Tränen weg und drehe mich zu ihm um. Er ist einfach nur wunderschön. In Worten ist gar nicht zu beschreiben, wie wundervoll er ist. Diese Worte müssten erst erfunden werden, bevor man sie für ihn verwenden kann. Genau wie die Farbe seiner Augen. Eine Farbe, die eigentlich gar nicht existiert. Ohne Namen. Geheimnisvoll. Wie er. "Kannst du es sehen?" Mein Blick richtet sich auf seine prachtvollen, weißen Flügel. Normalerweise jedenfalls. Heute sind sie grau und sein Gefieder ist in Blut getränkt. Natürlich ist es nicht sein Blut. Engelsblut ist golden. Dieses hier ist rot. So wie meines. "Ich bin ein Monster." "Das glaube ich nicht." "Du weißt nicht, wessen Blut das ist." "Nein. Sagst du es mir? Sagst du mir einmal die Wahrheit?" "Es ist das Blut hunderter Unschuldiger." "Bist du dir sicher, dass alle so unschuldig waren." "Ja. Es waren Babys." Mein Atem stockt. Kalt schließt sich eine eisige Faust um mein Herz. "Verstehst du jetzt? Ich bin nicht der für den du mich hältst." "Doch das bist du." "Wie meinst du das?" "Mein Vater hat mir mal aus einem Buch vorgelesen in dem es um Engel ging. Ich habe dieses Buch nie wieder gesehen, aber ein Satz ist mir in Erinnerung geblieben. So gut als würde ich ihn jedes Mal vor mir sehen: 'Er breitete seine breiten befederten Schwingen aus, um in die weite, weite Welt zu entfliehen.' Das beschreibt für mich was du bist. Wild. Brutal. Liebevoll. Du bist alles in einem Körper, aber vor allem bist du frei. Darum beneide ich dich. Ums frei sein. Du kannst machen, was auch immer du willst. Für immer. Du stirbst nicht." "Es ist eine schreckliche Qual unsterblich zu sein." "Warum?" "Weil du es nicht bist."

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