Ahorn

Meine Augen starren auf den Punkt in der Ferne... Wie kann das sein? Er sollte doch tot sein! Ich stehe Auge in Auge mit einem Geist. Als würde es das eben gesehene verschwinden lassen, reibe ich mir über die Augen, nur um Sekunden später wieder fassungslos zum Horizont zu blicken. Meine Hände zittern vor Angst und ein kalter Schauer läuft über meinen Rücken. Mein Puls rast. DAS. IST. EINFACH. NICHT. MÖGLICH! Ich habe gesehen, wie er gesprungen ist. So tief. Ich weiß noch, wie er mich angesehen hat. Damals schon habe ich mir die Frage gestellt, warum er nicht bei mir bleiben wollte und jetzt war er doch noch da. Jetzt erinnere ich mich. Wie ich ihm damals gefolgt bin. Bis zum Klippenrand. Die Wut in seinen Augen, als er bemerkte, was ich vorhatte, habe ich bis heute nicht vergessen. Er hatte mich zurück geschubst und war dabei gestolpert; bis in sein Verderben.

Sein Verderben, das er sich ausgesucht hatte; was mir das Herz gebrochen hatte, rufe ich mir in den Sinn. Ich hatte am Rand gekniet und meinen Tränen nachgesehen, die in den Abgrund fielen. Sie waren den Berghang entlanggekullert, bis zu der Stelle an der er lag; hatten den Boden an der Stelle gewässert, an der er lag, und wie die Natur es gewollt hatte, war ein wunderschöner Ahorn daraus gewachsen, auf dem die Amseln sangen, an dem Ort seines Todes. Heute stehe ich hier wieder und streiche mit meinen Fingern über die Blätter, des Ahorns. Und dann kommt er auf mich zu, sein wunderschöner Geist, schmilzt mein erstarrtes Herz, und ich will nur noch eins: wieder mit ihm zusammen zu sein, seine Nähe zu spüren, sein Lachen zu hören, seine Hände zu berühren. Und da verschwindet er und ich weiß, es wird nie mehr so sein wie damals. Wieder fließen Tränen über meine Wangen, doch diesmal sind es Tränen, die mich erlösen sollen. Ich kann das nicht mehr, ich will nicht mehr leben: ich klettere die Klippe hoch und bereite mich innerlich auf meinen letzten Atemzug vor. Der Wind zieht an meinen Haaren, trocknet meine Tränen. Ich schaue ein letztes Mal auf den Baum hinab. Ich blicke zu diesem Baum und weiß, dass wir gleich vereint sind. Eine leise Stimme im Wind lässt mich zögern, seine Stimme. Er würde es nicht wollen; genau das denke ich, als sich eine warme Hand auf meine Schulter legt. Ohne mich umzudrehen, weiß ich wessen Hand das ist. Sie zieht mich von der Kante weg und ich lasse mich ziehen, weit, weit, weg.

Ich drehe mich um und blicke in das Gesicht meines Retters; das Gesicht seines Bruders. Nach seinem Tod hatte er mich aufgefangen, mich gerettet, mich unterstützt. Ich sehe, wie auch ihm die Tränen über die Wangen laufen, während er flüstert: "Alles wird gut." Ich nicke nur, unfähig zu sprechen. Er führt mich nach Hause, und ich weiß, dass nichts mehr gut wird, doch denke ich, dass man sich an den kleinen Dingen des Lebens erfreuen soll; obwohl du traurig bist, musst du Glück erfahren und wenn du glücklich bist, musst du auch einmal Leid ertragen; doch auch wenn du das Glück nicht kennst, musst du bereit sein, es kennenzulernen.

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Eine Geschichte, die zusammen mit meinem Follower auf Instagram entstanden ist. Ein Gang großes Dankeschön dafür von mir. Sie ist echt super geworden.

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