Die Wölfin

Ich sah mich in dem Teil der Höhle um, der nun mein vorübergehendes Zuhause sein sollte. Hier drin stank es geradezu nach dem Alpha hinter mir. Allerdings war der Geruch nach Pinienzweigen nicht unangenehm. Ich mochte ihn. Selbst wenn nicht, hätte ich ihn ertragen. Ich war allein wegen der Güte des Alphas hier und somit nicht in der Position, Forderungen zu stellen.
Jedoch war der Raum klein und es lag nur eine geflochtene Matte auf dem Boden. Gerade mal groß genug für eine Person.

„Du hast bestimmt den Geruch eines anderen Mannes an mir wahrgenommen", begann ich, ohne mich allerdings zu dem Alpha umzudrehen. „Ich liebe ihn. Falls du dir also etwas von mir erhoffst, muss ich diese Hoffnung zerstören. Aus Respekt zu meinem Geliebten werde ich in angemessenem Abstand auf dem Boden schlafen."

Es würde unbequem sein, aber ich war schlimmeres gewohnt. Einen Moment lang war es still hinter mir, bevor schließlich die ruhige und tiefe Stimme des Alphas erklang:
„Wenn das so ist, wo ist dann dein Geliebter jetzt, um dich vor den bösen Ansichten anderer Männer zu bewahren?"

Ich versteifte mich. Denn Leon...nein, ich wollte nicht darüber nachdenken.
„Er konnte nicht mitkommen, aber das ändert nichts."

Wieder einen Moment Schweigen. Dann:
„Es hat nicht zwischen euch beiden funktioniert, oder?"

Schnell wie der Blitz wirbelte ich zu ihm herum und fauchte ihn an:
„Wie kommst du darauf? Was geht es dich überhaupt an?"
Gleich darauf schalt ich mich selbst. Er hatte einen wunden Punkt getroffen und das hatte ich ihm gerade sehr offensichtlich gezeigt.

So ruhig wie ein Fels stand er mit verschränkten Armen an dem Eingang zum Raum gelehnt und betrachtete mich. Ich ignorierte die ansehnliche Wölbung seines Bizeps, die in dieser Haltung deutlich zur Geltung kam.

Der Alpha ignorierte meine Worte und sagte stattdessen, so selbstsicher, als hätte er die Weisheit wie einen Hasen verschlungen:
„Weißt du, warum es zwischen dir und dem Menschenmann nicht funktioniert hat? Weil Werwölfe und Menschen nicht füreinander gemacht sind. Du musstest dich bei ihm zurückhalten. Konntest nicht du selbst sein, konntest dich nicht fallen lassen. Dabei bedeutet Liebe genau das: man selbst sein. Ganz darin einzutauchen."

Ich schnaubte spöttisch auf. Für wen hielt er sich eigentlich? Wut schwang in meiner Stimme mit, als ich ihn anschnauzte:
„Was weißt du schon von Liebe? Du hast doch keine Ahnung. Hast keine Ahnung darüber, wie aufregend, schön und verzehrend sie ist. Wie schmerzhaft, wenn sie zerbricht. Wie dein Herz in all seine Einzelteile zerspringt."

Er zeigte kein Mitleid, kein Einsehen. Nicht, dass ich es erwartet hätte. Er wusste nicht, wie es war, wenn man jemanden liebte. Unbarmherzig blickten mich seine eisblauen Augen an.

„Was du fühlst, ist keine Liebe. Zumindest nicht die wahre Liebe. Du hast diesen Menschen nur gemocht, weil er der Erste in einer ganzen Weile war, der dir Zuneigung gezeigt hat. Fürsorglichkeit. Weil du dich beschützt gefühlt hast. Du hast ihn nicht um seinetwillen geliebt. Sondern wegen der Dinge, die er dir geschenkt hat: Nähe und Freundlichkeit."

„Das ist nicht wahr!", knurrte ich und wandte mich stur von ihm ab, nicht gewillt, ihm länger in die Augen zu sehen. Denn trotz meiner Behauptungen, trotz meiner Gewissheit...plötzlich fühlte sich das alles so fragil an. Die Samen des Zweifels, die er mit seinen Worten in mir gesät hatte, blühten auf. Was, wenn er recht hatte?

Es war Leons fürsorgliche Art gewesen, die meine Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt hatte. Zuerst war ich wachsam gewesen, sicher, dass es nur eine neuartige Form von Folter in diesem Labor war...aber mit der Zeit hatte sich mein vorsichtiges Interesse verändert. Mit jeder weiteren zärtlichen Berührung, die manchmal länger als nötig hielt, jedem weiteren mitleidigen Blick, mit jedem weiteren freundlichen Wort hatten sich meine Gefühle für Leon verändert, verstärkt.

Ich hatte mich nach ihm gesehnt, wenn er nicht da war. Hatte seine Berührungen genossen, wenn er sie mir schenkte. Hatte mir mit Tagträumen über ihn geholfen, wenn die anderen Laboranten mich mal wieder piksten und auf andere Art demütigend behandelten.
Doch warum? Ich wusste kaum was über ihn. Nur dass er mich wie einen Menschen behandelt hatte, nicht wie ein Objekt. Dass er anders als die Laboranten seine Patienten als lebende, fühlende Wesen behandelte. Dass er nach Sanddornholz roch und solch sanfte Hände hatte.

Doch mehr war es nicht. Und nach allem, was passiert ist, war ich mir nicht einmal mehr sicher, ob all das gespielt gewesen oder wahr war.
Ich wollte an letzteres glauben. Schließlich hatte er mich am Ende gerettet. Und doch...was, wenn es nur wieder ein weiterer teuflischer Plan des Labors war?
Egal, was es letztlich war, trotz alldem schmerzte mein Herz. Ich litt. Das musste doch bedeuten, dass ich ihn liebte? Ich mochte nicht viel über Leon wissen, aber muss man das denn? Kann man eine Person nicht lieben, ohne ihre Lieblingsfarbe, Lieblingsessen oder sonstiges aus ihrem Leben zu kennen?

Ich hatte keine Ahnung. Und die Worte des Alphas...
Warmer Atem strich über meinen Nacken und ließ meine Härchen sich alarmiert aufrichten.
Sofort versteifte ich mich. Doch gleichzeitig musste ich einen angenehmen Schauer unterdrücken. Wärme breitete sich in mir aus. Ich ignorierte sie.

Ich war so vertieft in meine Gedanken gewesen, dass ich nicht bemerkt hatte, wie der Alpha näher an mich herangetreten war. Doch jetzt konnte ich nicht umhin, die Wärme seines Körpers so nah hinter meinem zu spüren. Seinen Geruch nach Pinienzweigen einzuatmen. Sein warmer Atem an meiner Kehle entfachte das Verlangen in mir, ihm meine Kehle darzubieten. Nicht als Zeichen der Unterwerfung, sondern als Aufforderung, daran zu knabbern. Ich biss die Zähne zusammen.

Wie kam es, dass ich so reagierte? Ich liebte doch Leon. Ich wollte nur ihn. Wieso sehnte sich dann mein Körper nach dem des Mannes hinter mir? Lag es daran, dass es ein Wolf war? War es der Instinkt des Wolfes in mir, der sich nach dem Alpha sehnte?

„Du weißt, dass ich die Wahrheit spreche."
Seine Stimme war tief und sicher. Die Stimme eines Anführers.
„Du willst es dir nur nicht eingestehen, aber tief in deinem Inneren weißt du Bescheid. Genauso wie du weißt, dass du jemand besseren verdienst."

Etwas in seiner Stimme machte mich stutzig. Keinen Moment später hatte ich mich umgedreht und sah zu ihm hoch. Ich zuckte zusammen, als mir bewusst wurde, wie nah unsere Gesichter jetzt waren. Ein paar Zentimeter trennten nur noch unsere Lippen voneinander.

Mühsam und verärgert über mich selbst riss ich den Blick von diesen verführerischen Lippen fort und sah ihm in die hellen klaren blauen Augen. Sein Blick war ruhig, aber durchdringend. Trotz dieses Blicks und unserer Nähe wich ich keinen einzigen Schritt zurück.
Wir waren Wölfe.
Zurückweichen war ein Zeichen der Schwäche. Auch ein Zeichen des Respekts, der Anerkennung seines Alphastatus. Allerdings war das hier nicht mein Rudel und er nicht mein Alpha. Und obwohl ich emotional geschwächt war, was er nur zu gut wusste, würde ich nicht in allen Belangen schwach sein.
Ich reckte das Kinn und fragte herausfordernd:
„Jemand besseren? Und wer soll dieser Jemand sein?"

Ruhig und selbstsicher erwiderte er meinen Blick.
„Jemand, bei dem du du selbst sein kannst. Jemand, der deine Bedürfnisse befriedigen kann - all deine Bedürfnisse. Jemand, mit dem du als Wolf im Wald herumtollen kannst. Jemand, den du herausfordern kannst und der stark genug ist, dieser Herausforderung stand zu halten. Jemand, der genauso dominant ist wie du. Jemand, der dich wie die Königin behandelt, die du bist. Jemand wie ich."

Alles in mir erstarrte für einen Moment. Jemand wie ich, hallten seine letzten Worte in mir nach. Und zum ersten Mal, seitdem der Alpha mich im Wald gefunden und bereit erklärt hatte, mich für temporäre Zeit in seinem Rudel aufzunehmen und bei sich wohnen zu lassen, nahm ich ihn wirklich wahr.

Ich musterte sein Gesicht, den starken, kantigen Kiefer, die vollen Lippen, den leichten Bartschatten auf Kinn und Wangen. Die Nase mit dem leichten Höcker, als wäre sie schon einmal gebrochen worden. Die eisblauen Augen, die ruhig wie ein See sein konnten und stürmisch wie das Meer bei einem Orkan. Die tief liegenden Augenbrauen, und das straßenköterblonde Haar, das immer verwuschelt schien.
Seine Haltung war gerade und selbstsicher. Er verströmte eine Aura von Dominanz, Selbstbewusstsein und Autorität. Sein Körper war ein Bild von Schnelligkeit, Kraft und Können.

Er würde einen sehr guten Partner abgeben.

Aber da war immer noch Leon...selbst wenn es keine Liebe gewesen sein sollte, war es etwas. Ich musste erst darüber hinwegkommen. Oder mir bewusst werden, was, wen, ich wollte. Davon abgesehen war das hier vor mir ein Alpha. Der Anführer eines Rudels.

Und bevor ich zum Labor kam, mochte ich vielleicht eine gute Partnerin gewesen sein, aber nun? Ich war kaputt. Traute mich kaum, meine Wolfsgestalt anzunehmen. Zu viele düstere Erinnerungen waren damit verbunden. Ich war schwach. Der Wolf vor mir sollte mich nicht wollen. Schließlich musste er doch sehen, was für ein nutzloses Wrack ich war. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, wieso er trotzdem behauptete, wir hätten einander verdient. Also fragte ich ihn direkt danach:
„Warum willst du mich?"

Sein einer Mundwinkel hob sich amüsiert in die Höhe.
„Die Frage ist doch eher: wie könnte ich dich nicht wollen?"

Ich schüttelte den Kopf.
„Ich verstehe, warum du mich körperlich willst. Aber was du gesagt hast...wieso willst du mich als Partnerin? Ich habe Angst davor, meine Wolfsgestalt anzunehmen. Ich trauere einem anderen Mann hinterher, einem Menschen sogar. Ich wurde an erster Stelle von den Laboranten eingefangen. Ich bin keineswegs geeignet für einen Alpha. Es macht einfach keinen Sinn."

Sein Blick schien direkt in mein Inneres zu dringen. Ich fühlte mich nackt unter diesen durchdringenden blauen Augen. Aber komischerweise machte es mir nichts aus. Als wüsste ich tief in mir, dass er mir niemals wehtun würde. Sondern dass er mich vielmehr immer beschützen würde.

„Weißt du, was ich sehe, wenn ich dich angucke?", fragte er leise.

„Einen kaputten Wolf, denke ich."

Meine Antwort kam prompt, allerdings ohne Selbstmitleid, sondern als harter Fakt. Es nutzte nichts, die Wahrheit zu verschönern oder sich selbst zu bemitleiden. Das war nur unnötige Zeitverschwendung.

Finjas' Mundwinkel hoben sich traurig, doch sein Blick flammte blau auf.
„Nein. Im Gegenteil. Ich sehe einen Alpha vor mir."

Überrascht blinzelte ich. Einen Alpha? Doch er sprach bereits weiter.

„Einen Wolf, der es überlebt hat, von skrupellosen Laboranten untersucht zu werden. Einen Wolf, der trotz Herzschmerz und all der schlimmen Erfahrungen in diesem Labor furchtlos vor mir steht, ohne zurückzuweichen. Ohne Angst oder auch nur das kleinste Zeichen von Respekt. Einen Wolf, der bereit war, mein Pack zu zerfleischen, wenn es auch nur einen Schritt weiter auf dich zugetan hätte. Einen Wolf, der intelligent und reflexiv ist. Einen Wolf, der meiner würdig ist."

Der Atem stockte mir in der Kehle.
Keinen einzigen Moment lang löste Finjas den Blick von mir. Und auch ich machte keine Anstalten dazu. Seine eisblauen Augen hielten mich gefangen. Ich fühlte mich wie gebannt.

„Und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, damit du dich auch als meiner würdig erkennst. Du wirst diesen Menschen schneller vergessen als du denkst. Und dann wird es nur noch einen Mann in deinen Augen geben. Dafür werde ich sorgen."

Ich blinzelte einmal. Überrascht. Schockiert. Hatte der Alpha gerade Anspruch auf mich erhoben?
Sein durchdringender, entschlossener Blick sagte genug.
Und obwohl sich die Wölfin in mir wohlig in der Aufmerksamkeit eines solchen dominanten, starken und würdigen Partners räkelte, wehrte sich der Mensch in mir gegen den Gedanken.
Ich liebte Leon. Ich würde ihn nicht vergessen. Selbst wenn ein Alpha mich für sich beanspruchte und alles in seiner Macht Stehende tun wollte, um mich für sich zu gewinnen.

Trotzig reckte ich das Kinn.

„Dann würde ich dir raten, dich anzustrengen. Aber beschwer dich später nicht, weil all deine Bemühungen fruchtlos waren. Ich habe dir gesagt, dass ich einen anderen liebe. Und das wird sich so schnell nicht ändern."

Ein kleines wissendes Lächeln erschien auf Finjas' Lippen.
„Ich glaube, wir werden darüber übereinstimmen müssen, dass wir in dieser Gelegenheit nicht übereinstimmen."
Ein Feuer leuchtete in seinem Blick auf und mit absoluter Gewissheit flüsterte er:
„Wir gehören zusammen. Du willst es jetzt noch nicht erkennen, aber das wirst du schon noch. Ich bin ein geduldiger Mann."

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