Dezember
❄ Ein Geschenk in letzter Minute ❄
Die Tür erschien ihm wie die auf dem Meer treibende Eisscholle. Ein Zufluchtsort inmitten der Kälte, des Lärms und Trubels des Weihnachtsmarktes. Viel zu viele Menschen auf viel zu wenig Platz. In Mäntel gepackte Menschen und deren Ellenbogen, wohin er auch schaute und mehr als einer davon hatten ihn bereits angerempelt oder zur Seite gestoßen. Aber die Krönung war die Dudelmusik irgendwelcher Weihnachtslieder in Endlosschleife.
Die Tür verhieß ihm ein Entkommen aus der wahrgewordenen Hölle des Konsums lange nachdem sie ihm Kopfschmerzen bereitet hatte.
Die Tür gehörte zu einem kleinen Laden in einer Seitenstraße. Er hatte sie gewählt, weil erstens keine grelle Leuchtreklame über der Fassade prangte und zweitens ein gedämmtes Licht aus dem daneben gelegenen Schaufenster ihn magisch anzog.
Und drittens, weil er sehen konnte, dass sich nicht viele Menschen im Inneren aufhielten. Genau genommen, sah er gar keinen. Beim Aufschwingen der Tür klimperte eine Glocke, von der aber niemand Notiz zu nehmen schien, denn noch immer stand der Junge alleine auf der Schwelle zum Verkaufsraum. Erleichtert atmete er aus. Keine Atemwölckchen, stellte er fest und befreite seine klammen Hände aus den dünnen Wollhandschuhen, um sie aneinanderzureiben.
Aber das war nicht alles, was er bemerkte. Hier dudelte keine Musik im Hintergrund. Eine Stille umfing ihn und erlaubte zum ersten Mal seit Stunden, dass sich seine Sinne erholen konnten. Vielleicht würde er hier doch noch das Geschenk für seine Eltern finden.
Unschlüssig stand er da und blickte sich um. Er konnte nicht sagen, was für einen Laden er da betreten hatte. Hier gab es alles Mögliche und doch nichts, wie es schien. Im Schaufenster lag eine rote Decke aus Samt, auf der verschiedene Handwerksarbeiten ausgestellt waren. Darunter befanden sich geschnitzte Sterne, Krippenfiguren, Tannenzapfen, Laternen aber auch ein altes Spinnrad und Bücher. Der dahinter liegende Verkaufsraum war nicht groß. Es gab verschiedene Regale mit Krimskrams und ganz am Ende stand ein Thekentisch aus Holz. Irgendetwas ihn ihm sträubte sich, sich weiter in den Raum hinein zu begeben. Vielleicht, weil niemand da war, um ihn hereinzubeten oder Willkommen zu heißen. Irgendwie fühlte er sich ungut bei dem Gedanken, durch die Bücher im Regal zu seiner linken Seite zu blättern und auch die Idee, sich den Figürchen und Döschen im Regal rechterhand zuzuwenden, erschien ihm nicht als einladend.
Obwohl alles in dem Laden einladend auf ihn wirkte, das gedämpfte Licht, die Stille, selbst der Duft nach Staub, Pergament und Kerzenwachs. Er klammerte sich auf das schmale Plätzchen seiner rettenden Eisscholle, das er soeben eingenommen hatte und bewegte sich keinen Schritt weiter, um nicht versehentlich herunterzurutschen und zurück auf die Straße gespült zu werden. Er fürchtete, dass jede falsche Bewegung seine Oase der Ruhe und Besinnlichkeit zerstören könnte.
Und dann war es mit einem Mal vorbei mit der Stille. Ganz plötzlich erklang eine Stimme und der Junge zuckte zusammen.
"Da eilen die Leute vorbei und keiner bleibt stehen, um wirklich zu sehen."
"Ja, es ist eine Schande. Siehst du, wie gestresst sie sind?"
"Es ist kaum zu übersehen. Und all die Tüten, die sie nach Hause tragen als gäbe es kein Morgen."
Das war nicht nur eine Stimme, sondern mehrere, die da miteinander sprachen, aber noch immer war niemand zu sehen. Der Junge wollte schon fragen, wer da sei und auf sich aufmerksam machen. Irgendwie fühlte er sich fehl am Platz. Wie das störende fünfte Rad am Wagen, wie der ungebetene Lauscher hinter der Tür, aber wohin er sich auch wandte, da war niemand.
"Und dann verpesten sie den Sternenhimmel mit ihren Blinklichtern."
"Und verschmutzen die Luft mit ihren unerträglichen Schallwellen. Früher wurde wenigstens noch gemeinsam gesungen."
Jemand seufzte. "Nicht einmal Geschichten erzählen sie sich noch."
"Sie kennen keine mehr und haben auch keine Zeit dafür."
"Die Welt ist ein seltsamer Ort geworden."
"Aber wenigstens feiern die Menschen noch das Weihnachtsfest."
Jetzt brach jemand in Lachen aus, aber es war kein fröhliches Gelächter.
"Feiern nennst du das? Wie die fressen und sich die Wänste vollschlagen?" Jemand klang empört.
"Wie sie sich sinnlos mit Geschenken überhäufen, die keiner braucht und die, die es am nötigsten hätten, gehen leer aus." Die Stimme klang unglaublich traurig und das Gesagte trieb dem Jungen die Tränen in die Augen.
"Ob die sich überhaupt noch daran erinnern, was sie da eigentlich feiern und warum?" Auch die dritte Stimme klang resigniert. Dann fielen alle in ein einvernehmliches Seufzen, ehe sie verstummten.
Der Junge schluckte. Er hatte alles genau gehört und verstanden. Das war aus dem Schaufenster gekommen, von dem er keine zwei Meter weit entfernt stand. Aber da war niemand. Eine Bandansage, schlussfolgerte er. Veilleicht war sein Erscheinen doch nicht so unbemerkt geblieben, wie er bisher geglaubt hatte.
Oder hatte das Öffnen der Tür, die Ansage automatisch gestartet?
So musste es sein. Er fühlte sich unwohl, ertappt und irgendwie getroffen. Hier würde er wohl doch nichts für seine Eltern finden. Ob sie sehr enttäuscht wären, wenn er dieses Jahr kein Geschenk für sie hätte?
Langsam streckte er seine Hand nach dem Türgriff aus. Er wollte nur noch raus und weg, aber dann fiel ihm etwas ins Auge.
Ein Leuchten. Da strahlte etwas hell und klar im Schaufenster. Das Licht fesselte seinen Blick. Er konnte sich gar nicht mehr abwenden und vergessen war jeder Gedanke an Flucht. Ganz im Gegenteil. Seine Schritte lenkten ihn direkt dorthin, wo der Schein herkam.
Und dann stand er direkt vor dem Schaufenster, an dem die Menschen vorübereilten, ohne auch nur ein Auge auf das Licht zu werfen. Er verstand mit einem Mal, wovon die Stimmen gesprochen hatten. Er sah, wie sie unter Zeitdruck standen, wie gestresst sie waren, unbedingt das schönste und dabei noch günstigste Geschenk zu finden, das es gab. Wie wenig sie der Musik lauschten und wie sie kaum auf die Lichter achteten, die kreuz und quer an Ständen hingen und die aufgestellten Tannenbäume schmückte.
Nicht einmal die Not der Bettlerin nahmen sie wahr, auch wenn ihr manche im Vorbeigehen ein paar Münzen in die Schüssel warfen. Keiner bemerkte das weinende Kind, das im Trubel seine Mutter verloren hatte. Auch auf das weinende Baby achtete keiner, das von Lärm und Leuchten völlig überfordert war. Stattdessen drückte man ihm einfach eine Zuckerstange in die Hand.
"Die Menschen sind für die Menschen blind geworden", flüsterte er.
"Blind und taub", bestätigte die Stimme und der Junge erkannte in diesem Moment, wer da zu ihm sprach.
Das Leuchten ging von einem hölzernen Lichterbogen aus. Jemand hatte Figuren in das filigrane Holz geschnitzt. Josef und Maria betrachteten ihr Kind in der Krippe. Mit weit aufgerissenen Augen bestaunte der Junge das Kunstwerk. Je länger er auf die Lichter starrte, umso mehr verschwammen sie vor seinen Augen und umso wärmer wurde ihm ums Herz. In dieser kleinen Szene sah er deutlich, worauf es wirklich ankam, was wirklich wichtig war. Er wurde erfüllt von einer Erkenntnis, die heller strahlte als die Sonne und sein Innerstes mit Liebe und Hoffnung überflutete.
"Du hast Blinde und Taube geheilt als du erwachsen warst. Vielleicht kannst du das wieder tun?", fragte er leise.
Aber er erhielt keine Antwort. Alles blieb stumm.
Der Junge verharrte wie zu Eis gefroren. Dann langsam, ganz langsam löste er sich aus seiner Starre. Noch immer schlug sein Herz pochend schnell und seine Haut kribbelte.
"Du kannst sie hören?", fragte jemand von der anderen Seite des Raumes. Er nickte als Antwort und wandte den Kopf. Nicht noch einmal wollte er mit seiner Stimme den Zauber zerstören.
"Natürlich kannst du sie hören", wiederholte der alte Mann und humpelte auf ihn zu, bis er direkt vor ihm stand, "sonst wärst du ja nicht hier herein gekommen." Der weißbärtige Mann bückte sich langsam und griff nach dem Lichterbogen im Schaufenster. "Du besitzt eine seltene Gabe. Nur wer schweigen und lauschen kann, der kann sie vernehmen. Denn nur wer die Ruhe beherrscht, kann die Wunder noch sehen, die der Geist der Weihnacht den Menschen schenkt." Er drückte ihm das leuchtende Kunstwerk in die Hand. "Dann ist das hier genau das Richtige für dich und du sollst es haben. Vielleicht kannst du damit vielen Menschen Licht bringen in diesen dunklen Zeiten."
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Na, fehlen Euch die Weihnachtsmärkte in diesem Jahr?
Mir nur ein wenig. Eigentlich fehlt mir eher der persönliche Kontakt und das Treffen mit Freunden :-(
Habt ihr schon alle Geschenke?
Ich nämlich noch nicht und eingepackt ist auch noch nicht alles :-/
Grüße an alle anderen Last-Minute-Geschenke-Shopper ;-)
Ich hoffe, ihr habt einen Weg gefunden, um all das, was euch dieses Jahr fehlt, zu kompensieren.
Ich wünsche Euch jedenfalls ein zauberhaftes Weihnachtsfest und bleibt gesund.
Eure Alena ❄
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