SHIVAS VERRAT

AM NÄCHSTEN MORGEN marschierte die Herde los, als die Sonne kaum über die niedrigsten Baumwipfel emporgestiegen war. Sie gingen ohne Rast und erreichten die nördliche Grenzlinie des Königreichs am späten Nachmittag.

»Es ist so weit. Wir haben die Grenze erreicht. Sadhana«, wandte sich Aastha an Shiva und ihre Mutter, »Ihr beide geht weiter nach Norden und gebt uns ein Signal, sobald wir folgen sollen. Passt auf euch auf.«

»Machs gut, Shiva. Versau es nicht wieder«, konnte sich Nirriti einen gehässigen Kommentar nicht verkneifen.

Es schmerzte Shiva sehr, dass die Herde billigend in Kauf nahm, dass sie und ihre Mutter verletzt oder sogar getötet werden könnten.

Vielleicht haben sie endlich einen Weg gefunden, mich für immer loszuwerden, dachte die junge Elefantin.

Die zwei wanderten ohne Pause, aber ihnen begegneten weiterhin nichts als vertrocknete Bäume, Sträucher und Gräser. Viele davon wurden bereits von anderen Tieren abgeknabbert, sodass für sie kaum etwas übrig blieb, um sich für den weiteren Weg zu stärken.

Schließlich wurde es Nacht. Ihre erste Nacht außerhalb des geschützten Reichs und ohne die Herde. Aber Shiva hatte keine Angst. Im Gegenteil! Die Gewissheit, dass Bindi, Nirriti und die anderen gehässigen Elefanten weit weg waren und ihr nichts tun konnten, erfüllte sie mit einer nie da gewesenen Zufriedenheit.

Ich wünschte, ich müsste sie alle niemals wiedersehen.

Am nächsten Morgen setzten sie und ihre Mutter den Weg fort. Es schien jedoch eine Reise ins Nichts zu werden. Die regenarmen Wochen hatten überall ihren Tribut gezollt. Wenn das so weiterging, würden sie beide verhungern, bevor sie irgendeine Nachricht an ihre Kameraden hätten schicken könnten.

Als es bereits wieder dunkel wurde, hörten sie plötzlich ein unbekanntes Geräusch. Ein Rauschen, welches immer lauter wurde, je näher sie Richtung Nordosten gingen.

Im letzten schwachen Licht des Tages erreichten sie einen Ort, der so unwahrscheinlich aussah, dass Shiva und Sadhana zuerst annahmen, sie würden träumen.

Ein klarer und breiter Fluss schlängelte sich durch ein schattiges und kühles Tal. Die Sonne hatte dort nicht genug Kraft, um alle Feuchtigkeit aus der Erde zu ziehen, wodurch die Vegetation in saftiger Fülle von einem Ende zum anderen wuchs und gedieh. Aber das Erstaunlichste war das Wasser, welches von einer hohen Klippe unablässig in den Fluss herab donnerte.

»Mama, ist das ein Wasserfall?«, fragte Shiva ihre Mutter.

»Ja, mein Kind. Ich denke, das ist einer. Ich habe bislang nur davon gehört. Vorstellbar, dass er in der Regenzeit, wenn der Fluss mehr Wasser führt, noch viel beeindruckender ist als jetzt«, antwortete Sadhana.

»Mir ist das schon genug. Das ist schöner als alles, was ich bisher in meinem Leben gesehen habe.« Shiva hob glücklich ihren Rüssel und traute sich nicht, zu zwinkern, aus Angst, der Wasserfall könnte wieder verschwinden.

»Warum gehört er nicht zu Aloks Reich? So etwas Tolles möchte doch sicher jeder König sein Eigen nennen dürfen.«

»Ich weiß nicht, mein Kind. Denkbar, dass diese Gegend einem anderen König gehört. Wir sollten vorsichtig sein.«

»Aber ich habe Hunger, Mama. Wenn ich nicht bald etwas esse, dann falle ich um«, nörgelte Shiva und scharrte ungeduldig auf dem weichen Boden. »Guck! Da sind kleine Hirsche. Sie scheinen keine Angst zu haben. Wie es aussieht, sind wir hier sicher. Darf ich essen? Bitte!«

»In Ordnung. Lass uns kosten, was wir entdeckt haben und dann der Herde Bescheid geben«, gab Sadhana ihr Einverständnis.

»Wie wollen wir das machen?«, fragte Shiva und schaufelte sich mit ihrem Rüssel den ersten großen Bissen in den Mund.

»Ich bin nicht sicher, ob sie unsere Groll-Laute noch hören können. Wir sind sehr weit gewandert und der Boden hier ist zu weich, um Signale mit unseren Füßen zu senden«, grübelte Sadhana. »Ich fürchte, wir müssen uns den Weg genau einprägen und zurückgehen.«

»Nein! Ich gehe diese Strecke ganz bestimmt nicht ein zweites und drittes Mal«, protestierte Shiva.

»Wir haben es versprochen. Aastha verlässt sich auf uns.«

»Gar nichts haben wir versprochen. Es war Nirritis Idee, weil sie gehofft hat, uns auf diese Weise loszuwerden.«

»Shiva, ich möchte nicht, dass du so redest. Wir sind eine Herde und halten zusammen. Egal, was wir über einzelne Tiere denken. Es ist unsere Pflicht.«

»Ja, ist gut. Dann machen wir das eben so«, grummelte Shiva wenig einsichtig. »Aber erst mal essen wir uns satt. Sonst schaffen wir diesen Marsch nicht.«

Sadhana gab ihrer Tochter recht und gemeinsam futterten sie die saftigen Pflanzen in diesem Tal.

Es wurde bereits wieder dunkel, als Sadhana bemerkte, dass sie zu viel Zeit verloren hatten.

»Shiva, wir müssen jetzt wirklich los. Die Herde wird sich Sorgen um uns machen«, rief sie ihrer Tochter zu.

»Bist du dir da so sicher? Die wollen nur was zu essen, wir interessieren die nicht.«

»Shiva, fängst du schon wieder an«, trompetete Sadhana. »Wir können von Glück sprechen, dass wir zu Aasthas Herde gehören. Eine andere hätte uns längst verstoßen.«

»Verstoßen wofür? Wir beide haben nichts getan, was einen Verstoß rechtfertigen würde. Aastha ist einfach nur unfähig.«

»Shiva! Genug jetzt. So redest du nicht über unsere Anführerin. Habe ich dir denn keinen Respekt beigebracht?«

»Mir ja, den anderen nicht«, murmelte Shiva zu sich selbst und blickte zum Himmel rauf. »Es wird schon dunkel, Mama. Lass uns die Nacht hierbleiben und morgen früh zurückkehren.«

»Damit könntest du recht haben«, stimmte Sadhana ihrer Tochter zu. »Aber dann will ich nichts mehr von diesen Unarten hören. Haben wir uns verstanden?«

»Ja, Mutter.«

Beim ersten fahlen Licht des neuen Tages schlugen sich Shiva und ihre Mutter ein weiteres Mal die Bäuche voll. Als die junge Elefantin unter einem Akazienbau graste, bemerkte sie über sich einen Vogel krächzen.

»Guten Morgen, kleiner Dickhäuter!«, rief ihr die Wanderbaumelster zu und zuckte aufgeregt mit der langen Schwanzfeder.

»Morgen«, grummelte Shiva zurück, die noch ganz verschlafen war.

»Warum denn so mürrisch, junge Dame?«, versuchte die Elster, sie in ein Gespräch zu verwickeln. »Es ist doch so ein schöner Morgen an diesem herrlichen Ort.«

»Das ist ja das Problem«, antwortete Shiva lustlos. »Wir müssen wieder fort von hier und zurück zu unserer Herde gehen. Ich würde viel lieber hierbleiben.«

»Wo ist denn eure Herde und warum seid ihr nicht zusammen hergekommen?«, wollte die Elster wissen.

»Eil ... ähm ... Die Sache ist die«, überlegte Shiva, die in diesem Moment eine Idee hatte. »Elster, kannst du nicht zu unserer Herde fliegen und ihnen sagen, dass wir bereits weitergezogen sind?«, fragte sie schließlich und erklärte dem Vogel, wo sie die anderen Elefanten zurückgelassen hatten.

»Hast du alles verstanden?«, hakte Shiva anschließend nach.

»Ich fliege zur nördlichen Grenze von Deveshs Reich und gebe Aastha Bescheid, dass ihr beiden weiter nach Westen gezogen seid und dort auf sie wartet. Nichts leichter als das!«

»Du würdest uns damit einen großen Gefallen tun.«

»Ich helfe doch immer gern. Bis dann!« Krächzend flatterte die Elster davon.

»Was wollte denn der Vogel von dir?«, fragte Sadhana ihre Tochter, nachdem sie die beiden aus der Ferne beobachtet hatte.

»Mama, stell dir vor! Wir brauchen nicht zurückzugehen! Ihr können hierbleiben!«

»Wie das?«

»Ich habe der Elster gesagt, wo die anderen sind und wie sie uns finden können. Mach dir keine Sorgen, es wird alles gut.«

Shiva war mehr als zufrieden mit sich. Endlich hatte auch sie eine Idee gehabt, die zu ihrem Vorteil war. Aastha und die anderen würden den Weg nach Westen einschlagen und sich in der ausgedörrten Landschaft verirren, während sie und ihre Mutter weiterhin im Schlaraffenland leben konnten – weit entfernt von Bindis Sticheleien und Nirritis Gemeinheiten.

Aber Shivas Plan sollte nicht aufgehen. Zwar hatte die Baumelster die Elefantengruppe erreicht und ihnen die Nachricht übermittelt, jedoch hatte Shiva nicht bedacht, wie feinfühlig eine alte Elefantenkuh war. Sicher mag es Aastha an Durchsetzungsvermögen fehlen, doch konnte sich die Leitkuh uneingeschränkt auf ihre Instinkte verlassen – und vor allem auf ihre Augen.

»Sie sind hier lang gekommen«, sagte sie zum Rest der Herde, als sie der Spur abgeknickter Pflanzen folgte, welche Shiva und ihre Mutter auf ihrer Wanderung hinterlassen hatten. Auch waren auf dem trockenen Boden deutlich ihre Fußspuren zu erkennen.

»Aber die Elster sagte doch, dass die den Weg nach Westen eingeschlagen hätten«, wunderte sich Bhavani, deren Niederkunft kurz bevorstand.

»Sie könnte sich geirrt haben. Die Fährte führt eindeutig nach Norden, wie wir es vereinbart hatten. Folgen wir ihr und sehen, ob wir sie einholen können.«

»Elstern sind intelligent und zuverlässig. Hier und da dreist und diebisch, aber nicht verlogen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie eine falsche Nachricht übermittelt hat«, sagte Kunti, eine der ältesten Kühe.

»Eine andere Spur sehe ich aber nicht und rieche zumindest keine Raubtiere. Kommt, lasst uns keine Zeit verlieren. Möglicherweise haben sie sich erst später entschieden, nach Westen zu gehen.«

Ohne weitere Einwände zogen die Elefanten weiter und folgten dabei der deutlichen Spur, welche sie schließlich zum Tal mit dem Wasserfall führte. Dort fanden sie nicht nur unzählige genießbare Pflanzen, welche die Herde locker ein paar Wochen ernähren konnten, sondern auch zwei selig schmausende Elefanten.

»Das sind Sadhana und Shiva!«, rief Nirriti und zeigte mit ihrer Rüsselspitze auf ihre frühere Freundin. »So viel zum Thema Westen. Sie sind hier und futtern sich alleine satt, während wir in die Irre geführt werden sollten.«

»Das ist Verrat!«, rief Bindi so laut, dass Sadhana auf die Herde aufmerksam wurde.

»Schön, dass ihr uns gefunden habt. Ich hatte schon Angst, dass die Elster euch nicht findet. Ist es nicht schön hier?«, fragte Sadhana unbekümmert.

»Ja, sehr schön«, schnaufte Bindi. »So schön, dass ihr beide diesen Ort ganz für euch allein haben wolltet.«

»Wovon redest du? Ich verstehe nicht?«, wunderte sich Sadhana. »Meine Tochter hat eine Elster losgeschickt, um euch zu sagen, wo ihr uns findet. Wir haben nichts falsch gemacht.«

»Nichts falsch gemacht!«, prustete Bindi drauflos. »Aastha, klär sie auf, was die Elster zu uns gesagt hat.«

»Es tut mir leid«, fing die Leitkuh an, die Geschichte zu erzählen. »Die Elster meinte, dass wir euch weit im Westen finden würden. Jedoch haben wir eure Spuren gefunden und sind ihnen nach Norden gefolgt. Glücklicherweise, wie man sieht.«

»Das hat sie mit Absicht getan!«, rief Nirriti dazwischen. »Shiva hat der Elster eine falsche Nachricht überbringen lassen, damit wir uns verirren und alle verhungern. Sie wollte uns in den sicheren Tod schicken, während sie und ihre Mutter sich den Wanst vollschlugen.«

»Das ist nicht wahr!«, verteidigte Sadhana ihre Tochter. »Shiva, sag ihr, dass das nicht so gewesen ist.«

»Nein ... ähm ... ich – ich habe der Elster gesagt, dass wir im Norden sind. Sie muss das missverstanden haben«, behauptete Shiva und nickte ein paarmal mit dem Kopf, um ihre eigene Aussage zu bestätigen.

»Fragen wir sie doch«, schlug Chandani vor und deutete mit dem Rüssel zu einem Baum.

»Was? Oh!« Shiva erschrak sichtbar, als sie die Elster wieder auf der Akazie sitzen sah, auf der sie sie getroffen hatte.

»Sadhana – du und deine Tochter bleibt hier. Ich werde noch einmal mit dem Vogel sprechen«, sprach Aastha und kniff angespannt die Augen zusammen.

»Ich begleite dich«, bot sich Bindi an und gemeinsam suchten sie das Gespräch mit dem Vogel.

»Jetzt kriegst du richtig Ärger«, rief Nirriti Shiva zu.

Shiva wusste, dass ihre Widersacherin diesmal recht hatte. Sie hatte Mist gebaut. Dieses Mal wirklich und mit Absicht. Sie hatte ihren Plan nicht zu Ende gedacht und damit auch ihre eigene Mutter in Gefahr gebracht.

Wenige Minuten später kehrten Aastha und Bindi zum Rest der Herde zurück. Ihre ernsten Gesichter verrieten Shiva, dass sie nichts Positives zu berichten hatten.

»Nirriti hat recht«, begann die Leitkuh mit bebender Stimme zu sprechen. »Shiva hat uns verraten. Sie hat die Elster absichtlich eine falsche Nachricht überbringen lassen, um uns in die Irre zu führen. Damit hat sie unseren Tod in Kauf genommen.«

»Shiva ist ein böser Elefant, hab ich recht, Mama?«, fragte die kleine Ganesha ihre Mutter. »Ich würde so etwas Fürchterliches niemals tun.«

»Verräterin! Verräterin!«, rief die alte Kunti und es sollte nicht lange dauern, bis alle anderen Elefanten in diesen Reigen mit einstimmten.

»Es reicht endgültig! Wir müssen die beiden aus unserer Herde verbannen, bevor sie unser aller Ende bedeuten!«, brüllte Bindi und erhielt das entschlossene Trompeten aller Elefanten bis auf Aasthas zur Antwort.

»Das kannst du nicht zulassen«, flehte Sadhana ihre Anführerin an. »Shiva ist noch ein Kind. Wir können nicht ohne den Schutz einer Herde sein. Bitte, schließ uns nicht aus!«

»Ich fürchte, ich kann diesmal nichts für euch tun«, antwortete Aastha und blickte zu Boden. »Die Ausrede, dass Shiva noch ein Kalb ist, kann ich nicht weiterhin akzeptieren. So viel ist bereits geschehen. Ich kann nicht riskieren, dass sie die Herde weiter ins Unglück stürzt.«

»Ich habe verstanden«, sagte Sadhana resignierend. »Wir verlassen euch. Wir verlassen diese Oase und kehren niemals zu euch zurück.«

Aastha nickte stumm. »Es tut mir leid. Es ist einfach zu viel vorgefallen. Die Unruhen innerhalb der Herde sind zu stark und verängstigen unsere Kälber. Es gibt keine andere Möglichkeit.«

Die Herdenführerin neigte den Kopf und berührte mit ihrem Rüssel Shivas bebenden Körper. Dann gab sie Sadhana einen letzten mitleidigen Blick, bevor sie sich umdrehte und ging.

Shiva sah ihr wehmütig nach. Sie wusste, dass Aastha immer auf ihrer Seite gestanden hatte und alles versucht hat, sie vor den anderen Elefanten zu schützen. Doch sie wahr zu schwach, um gegen all den Hass anzukämpfen. Ab jetzt gab es nur noch Shiva und ihre Mutter und Shiva wusste, dass auch dieses neue Leben nicht leicht werden würde.

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