FEUER!
KEINER DER ELEFANTEN konnte in dieser Nacht ein Auge zu tun. Jeder von ihnen war noch immer nervös und machte sich große Sorgen, wie es der armen Rashmi wohl ergehen möge, die allein und völlig auf sich gestellt ihr Kalb zur Welt bringen musste. Kaum ein Tier legte so viel Wert auf die Anwesenheit erfahrener Artgenossen bei einer Geburt, wie ein Elefant. Rashmi musste diese Erfahrung nun allein sammeln, doch zumindest war sie davor geschützt, dem Kalb das Leben zu nehmen, das sie ihm gerade erst geschenkt hatte. Denn auch, wenn sie dies aus reiner Not und in größter Verzweiflung getan und damit nur die allerbesten Absichten für das Neugeborene verfolgt hätte, so hätte sie diese Tat für den Rest ihres Lebens verfolgt und sie wäre mit Sicherheit daran zerbrochen. Vermutlich wäre sie ihrem Kalb nach kurzer Zeit gefolgt oder hätte den Verstand verloren.
»Vielleicht wäre sie irregeworden und hätte das Lager der Zweibeiner mitsamt allen Bewohnern niedergetrampelt und wir alle wären frei gewesen.« Nirriti machte sich mal wieder ihre eigenen Gedanken über die Situation und konnte sich einen anmaßenden Kommentar nicht verkneifen.
»Das wissen wir nicht«, sagte Nivetha, eine alte Elefantin, deren Stimme Shiva in dieser Nacht zum ersten Mal hörte.
Bislang hatte sie vermutet, dass auch sie nach all den Jahren in Gefangenschaft vergessen hatte, wie man mit Artgenossen kommunizierte.
»Selbst wenn Rashmi in ihrer Pein einen solchen Angriff gestartet hätte, hätten die Zweibeiner sie nicht tatenlos gewähren lassen. Ihr habt sie noch nicht gesehen, wenn sie auf der Jagd sind. Ihr seid Arbeitselefanten und für das Beschaffen von Baumaterialien zuständig. Ich jedoch werde für die Nahrungsbeschaffung eingesetzt. Ich habe gesehen, wie sie Tiere erlegen mit ihren Speeren und Bögen. Sie können einen ausgewachsenen Büffel aus weiter Entfernung mit nur einem Pfeil zu Fall bringen. Glaubt mir, ihr würdet um nichts in der Welt sehen wollen, wie sie ihre feigen Waffen gegen uns einsetzen. Sie machen nicht einmal vor ihrer eigenen Spezies halt, wenn dies nötig sein sollte.«
Die Elefanten lauschten den Worten der Alten aufmerksam und jeder für sich dachte darüber nach, warum er sich vorher nie die Frage gestellt hatte, woher die Zweibeiner ein so nahrhaftes Nahrungsangebot her hatten.
»Sie jagen also nicht mit ihrer eigenen Körperkraft?«, fragte Shiva. »Sie nutzen ihre langen Stöcke und glänzenden Blätter, um Tiere zu töten?«
»Und sie lassen ihnen nicht einmal die Gelegenheit, sich zu wehren oder davon zu laufen?«, empörte sich sogar Nirriti aufrichtig über diese Information. »Kerngesunde Beutetiere? Das ist gegen das Gesetz des Dschungels!«
»Ja, das ist es. Aber es interessiert sie nicht.« Tivra raunte einen dumpfen Ton und scharrte auf dem Boden. »Ich glaube, ihr jüngeren Elefanten sollten so langsam begreifen, mit wem wir es hier tatsächlich zu tun haben. Diese Art von Primaten ist ganz anders als alle Affen, die ihr bisher kanntet. Sie halten sich für etwas Besseres, sie denken, sie seien uns überlegen und könnten uns besitzen und benutzen, wie es ihnen gerade passt. Bei uns Elefanten und den Hühnern und Ziegen, die sie hinter ihren Hütten halten, wird es nicht bleiben. Sie stellen eine Gefahr für den ganzen Dschungel dar, wenn sie so weitermachen.«
Unruhe brach unter den übrigen Elefanten aus.
»Ich habe gesehen, dass einige von ihnen in Fellen gekleidet waren, die wie die Pelze von großen Raubkatzen aussahen«, sprach Shiva. »Kann es sein, dass die Zweibeiner sogar Löwen, Leoparden und Tiger erlegen? Würden sie nicht einmal vor Alok, unserem König, haltmachen?«
»Würden sie nicht«, knurrte Nivetha. »Sie machen vor nichts und niemanden halt. Wer es wagt, den Dschungel derart für sich zu vereinnahmen, dem ist nichts heilig. Auch dein Freund Pati wird eines Tages diesem Pfad folgen. Er möge Rashmi für heute geholfen haben, aber der Einfluss seiner Artgenossen wird auf ihn abfärben. Schon bald wird er dir nicht mehr den Rüssel streicheln, Shiva. Er wird dich zur Arbeit oder sogar zur Jagd mitnehmen und dich Dinge tun lassen, die dir mehr als alles andere widerstreben.«
»Das glaube ich nicht! Nicht Pati. Er ist anders. Ihr habt es selbst gesehen.« Shiva schüttelte den Kopf, als wolle sie all die eben gesprochenen Worte aus ihren Ohren schleudern.
»Du kannst aus einem Tiger keinen Hirsch machen und ebenso wenig kannst du aus einem Zweibeiner einen Elefanten machen. Sie alle sind unsere Feinde.« Tivra trat auf den Boden und signalisierte, dass sie mit diesem Thema abschließen wollte, doch Nirriti musste wie immer nachtreten.
»Aber vielleicht kann man aus Shiva einen Zweibeiner machen«, feixte sie. »Viel fehlt ja nicht mehr.«
Shiva ignorierte sie erneut und versuchte, noch ein wenig Ruhe zu finden, bis der Morgen kam und sie alle wieder ihrer von den Zweibeinern auferlegten Arbeit nachgehen mussten. Bei allem, was sie jetzt von den Ältesten erfahren hatte, ahnte sie nichts Gutes bei dem Gedanken, wie die Zweibeiner wohl reagieren würden, wenn sie den Verlust einer der Elefanten bemerkten.
Die Sonne ließ ihre ersten Strahlen am Horizont aufsteigen, als in den kleinen Hütten aus Lehm und Stroh warme Lichtscheine aufleuchteten. Man konnte die Zweibeiner erwachen hören. Die Herde, die nicht geschlafen hatte, bemerkte es ebenfalls und sofort hörte Shiva unruhiges Schnauben und nervöses Trampeln. Erste Zweibeiner kamen auf ihren seltsamen, langen und dürren Hinterbeinen aus ihren Bauen und streckten sich gen Himmel. Einige von ihnen schlossen sich zusammen, reichten sich die Hände, die noch geschickter waren als jene der Languren und sprachen miteinander. Dann tauchten weitere Zweibeiner mit Speeren auf und die Elefanten wussten, dass es jene waren, die sie nun für die Arbeit vorbereiten würden. Sie gingen zielgerichtet auf einen Platz zu, auf dem ihre Gurte lagen und ein weiterer eilte zu dem Haufen Stroh und Frischfutter, welcher dahinter lag.
Die Elefanten bemühten sich, sich so unauffällig wie immer zu verhalten. Vielleicht würden die Zweibeiner ja gar nicht bemerken, dass einer der Dickhäuter fehlte? Doch sie sollten sich irren. Der Kerl mit dem Futter streute zunächst ein Haufen neben dem anderen und rieb sich immer wieder die müden Augen. Als er an der Stelle ankam, an der hätte Rashmi stehen müssen, hielt er inne und begann die Herde durchzuzählen.
»Kumar? Ich glaube, uns ist einer entwischt!«, rief er seinem Kollegen zu.
Dieser kam kopfschüttelnd auf seinen Kameraden zu. »Du kannst einfach nicht zählen, Ramso!«, rief er und warf anschließend selbst einen Blick auf die grauen Riesen.
Shiva und ihre Herde blieben ruhig – zu ruhig, denn jetzt wurde auch der zweite Felllose misstrauisch. »Verdammt, du hast recht! Eine fehlt. Die Schwangere noch dazu. Wie konnte das passieren? Ich hätte das Kalb so gern aufgezogen und zu einem tüchtigen und verlässlichen Arbeitselefanten abgerichtet«, schimpfte Kumar. »Vielleicht wäre es ein Bulle geworden, mit dem wir hätten züchten können. Verflucht noch einer! Pati!«
Shiva zuckte zusammen, als Kumar den Namen ihres Freundes und Helfers der letzten Nacht rief. Konnte es sein, dass er wusste, dass Pati etwas mit dem Verschwinden der tragenden Elefantenkuh zu tun hatte?
Verschlafen stakste der junge Pati aus seiner Hütte und trat neben Kumar und Ramso.
»Warum siehst du so aus, als hättest du diese Nacht kaum geschlafen, Pati?«, fragte er seinen jungen Schützling misstrauisch.
»Habe ich auch nicht. Da waren Moskitos in meinem Haus. Ich konnte kaum ein Auge schließen.« Pati hoffte, dass diese Ausrede glaubhaft klingen würde, doch Kumar war ein strenger und misstrauischer Mann. Er konnte Pati ansehen, dass er die Wahrheit über seine nächtlichen Aktivitäten verschwieg.
»Vielleicht hast du dann ja mitbekommen, was mit unserer schwangeren Elefantin passiert ist?«, stellte er die nächste Frage und kniff zornig die Augen zusammen.
»Was soll mit ihr passiert sein?«, tat Pati so, als wüsste er nicht, worauf sein Vorgesetzter hinaus wollte. »Hat sie ihr Kalb etwa schon bekommen?«
»Das würde ich gern von dir wissen«, knurrte Kumar. »Wir alle wissen, dass du diese Tiere zu sehr verhätschelst. Du hast Mitleid mit ihnen und es ehrt dich, dass so ein so großes Herz hast, Pati. Aber sie sind unser Eigentum und wir sind auf ihre Leistungen angewiesen. Wir können auf keinen von ihnen verzichten. Also sag uns, wo hast du sie versteckt?«
Pati senkte schuldbewusst seinen Kopf und mied jeden Blickkontakt mit Kumar. Dieser bäumte sich weiterhin vor dem Jungen auf und wartete auf eine Antwort.
»Ich – ich habe sie frei gelassen«, flüsterte Pati schließlich und blickte dabei auf seine langen und flachen Füße. »Sie stand kurz vor der Niederkunft und ich konnte ihr ansehen, dass sie ihr Kalb nicht hier in unserem Lager zur Welt bringen wollte.«
Kumar spannte seinen ganzen Körper an und atmete tief ein. Dann trat er ein paar Schritte von Pati weg, um seine in ihm aufsteigende Wut in den Griff zu bekommen.
»Es tut mir leid«, sagte Pati und verkniff sich ein paar Tränen. »Ich wollte nur das Beste für die Elefantin und ihr Kalb. Ich wollte nichts Böses tun. Sie konnte die letzten Monate ohnehin nicht arbeiten. Wir werden kaum merken, dass sie nicht mehr da ist.«
»Darum geht es nicht, Junge!«, schrie Kumar in den Wald, um seine Wut weiterhin nicht in Gewalt an Pati ausarten zu lassen. »Du hast über unseren Kopf entschieden und davon abgesehen ist die Elefantin jetzt da draußen allein. Wie kannst du sicher sein, dass ihr und dem Kalb nichts passiert? Hier hätten wir uns um die beiden kümmern können. Vielleicht hast du sie in den Tod geschickt, Pati.«
Nun drehte sich Kumar zu dem Jungen um und schaute ihn vorwurfsvoll in die Augen. Doch Pati sollte nicht mehr dazu kommen zu antworten.
»Feuer! Es brennt!«
Große Panik brach bei den Menschen im Dorf aus. Ein Holzstapel hatte Feuer gefangen. Kumar und Pati wandten sich wortlos von den Elefanten ab und rannten ihren Kameraden zur Hilfe. Die Elefanten, die sich in ihrem angebundenen Zustand den größer werdenden Flammen hilflos gegenüberstehen sahen, rissen panisch die Augen auf und trompeteten die Zweibeiner um Hilfe an. Doch diese waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um auf ihre Tiere zu achten.
Shiva entschloss sich, dem drohenden Schicksal zu ergeben, von welchem sie sich endlich Erlösung versprach und schloss abwartend die Augen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top