DIE ENTSCHULDIGUNG
SHIVA KONNTE IN den Nächten nach dem Urteil König Aloks seit langer Zeit wieder gut schlafen. Es schien, als wäre ihr eine riesige Last von den kleinen schwachen Schultern gefallen. Nun würden sie alle einsehen müssen, dass sie keine Schuld an dem tragischen Unfall trug, der ihrer Freundin Dayita das Leben kostete.
Die Herde, die nach der Verhandlung eine gehörige Standpauke der Leitkuh erhielt, gab sich damit zufrieden, dass sich Shiva und ihre Mutter wieder in ihren Reihen aufhalten durfte.
Doch Chandani und die alte Bindi mieden es weiterhin, ein normales oder gar freundschaftliches Verhältnis zu den beiden aufzubauen. Und sie waren nicht die Einzigen. Innerhalb der Herde bemühte man sich, unter den strengen Blicken Aasthas, ein harmonisches Herdenleben vorzutäuschen, doch im Verborgenen sprach man sich weiterhin gegen Shiva und Sadhana aus.
Auch einige der Kälber konnten sich nicht dazu herablassen, mit Shiva zu spielen. Immer wieder wurden sie von Nirriti angestachelt, sich über ihren krummen Rüssel zu amüsieren, ihre hagere Statur zu kritisieren oder sich daran zu erinnern, was Shiva den kleineren Tieren so oft angetan hatte.
Shiva wusste es. Sie war sich selbstverständlich im Klaren darüber, dass sie kein kleiner Sonnenschein war und immer mal wieder die Regeln und Gesetze der Herde brach, um ein wenig Spaß zu haben. Sie wusste aber auch, dass sie nicht das einzige Kalb war, das hin und wieder übermütig wurde.
Ihr damaliger bester Freund und Halbbruder Abinash begleitete sie stets zu kleineren und größeren Dummheiten. Doch ihm schien man keine Vorwürfe zu machen. Niemals hatte man ihn strenger bestraft, als mit einem kleinen Klaps mit dem Rüssel. Es war immer Shiva gewesen, der man nachsagte, ein böser Geist würde in ihr hausen und man müsse sie hart rügen, um diesen auszutreiben.
Aastha ermahnte die anderen Kühe ein paarmal und Shiva wusste, dass sie es ihr und vor allem ihrer Mutter zu verdanken hatte, dass sie überhaupt noch Teil der Herde und am Leben sein durfte. Doch Aastha hatte bislang leider völlig unterschätzt, wie tief die Abneigung und die Angst vor bösen Geistern bei den Elefanten wirklich verankert war und immer sein würde. Ein ums andere Mal dachte Shiva daran, dass Aastha keine gute Herdenführerin war. Sie hatte es nicht verdient, sich Leitkuh zu nennen, wenn sie nicht bemerkte und vor allem so lange nicht ernst nahm, wenn einige ihrer Schützlinge von den anderen terrorisiert, verurteilt und ausgegrenzt wurden.
Einige Wochen waren seit der Verhandlung beim hohen König vergangen. Der Herdenalltag war längst eingezogen und auch die Sticheleien gegen Shiva wurden wieder häufiger und intensiver zelebriert. Abinash jedoch hatte in dieser Zeit kaum ein Wort mit ihr gewechselt. Vermutlich, so dachte Shiva, plagte ihm das schlechte Gewissen, weil er damals diese falschen Anschuldigungen gegen sie erhob, um sich selbst straffrei aus der Sache herauszubringen. Shiva konnte sich durchaus damit zufriedengeben, dass ihm das sein Leben lang nachhängen würde. Sie für ihren Teil war fertig mit ihm und seiner sogenannten Freundschaft.
Doch dann war da noch Nirriti. Sie wechselt mehr Worte mit Shiva, als es der jungen Elefantin lieb war. Denn es waren ohnehin nur böse Worte. Eines Tages jedoch klang ihre Widersacherin ungewöhnlich milde gestimmt.
»Shiva, es tut mir leid«, begann sie fast schon flüsternd zu sprechen. »Ich war all die Jahre und vor allem in der letzten Zeit immer gemein zu dir. Aber das möchte ich nicht mehr. Wir waren früher einmal gute Freundinnen, erinnerst du dich?«
Shiva erinnerte sich sehr gut daran. Die beiden haben viel miteinander gespielt, als sie noch kleine Kälbchen waren.
»Mein krummer Rüssel hat dich dann eines Besseren belehrt, Nirriti«, entgegnete Shiva kühl und kaute unbeeindruckt auf einem Büschel Gras herum. »Mit so etwas Absonderlichen kann man nicht befreundet sein. In mir steckt das Böse!«
Nirriti schreckte zurück, als sich Shiva plötzlich zu ihr umdrehte und sie mit seltsam verzerrtem Gesicht anstarrte.
»Siehst du? Es ist besser, sich von mir fernzuhalten.«
»Nein, Shiva. Ich bin jetzt viel älter geworden«, behauptete Nirriti und nickte kräftig mit dem Kopf, um ihre Aussage zu unterstreichen. Dabei wirbelte ihr Rüssel herum, wie eine übermütige Schlange. »Ich glaube diesen Unsinn mit dem bösen Geist nicht mehr und dein Rüssel stört mich auch nicht. Glaub mir.«
»Ach, ja? Auch nicht meine hagere Figur, die mal ganz nebenbei davon kommt, dass ihr mich nie von den saftigsten Pflanzen essen lasst?«
Nirriti verstummte kurz, dann schüttelte sie ihren Kopf, dass ihr Rüssel nun in die andere Richtung wackelte.
»Wir geben dir jetzt ganz viel von dem guten Essen ab. Versprochen«, beteuerte sie und machte große Augen.
»Tut mir leid. Nach allem, was du und die anderen mir und meiner Mutter angetan habt, kann ich dir nicht mehr vertrauen«, sagte Shiva und setzte ihre Mahlzeit fort, während sie abwehrend mit dem Schwanz in Nirritis Richtung schlug.
»Aber was wäre, wenn ich es dir beweisen würde?«, fragte Nirriti und trampelte ungeduldig von einem Vorderbein auf das andere.
»Beweisen?«, rief Shiva und lachte höhnisch. »Was beweisen? Dass du meinen Rüssel nicht mehr abschreckend findest? Dass in mir kein böser Geist wohnt? Wenn, dann beweise das erstmal der alten Bindi. Die hetzt heimlich noch immer gegen mich und meine Mutter.«
»Ja, und Chandani auch«, gestand Nirriti, was Shiva ohnehin schon wusste. »Aber wir jüngeren Elefanten sollten doch mit gutem Beispiel vorangehen und den älteren zeigen, wie es sein sollte!«
Shiva wand ihren Blick nach wie vor nicht von ihrem Essen. Eine Weile stand Nirriti ungeduldig neben ihr und erwartete offenbar eine Antwort. Doch das Einzige, was zu hören war, waren die Kaugeräusche der jungen Shiva und das Zwitschern der Vögel des Dschungels.
»Also, was ist nun?«, ergriff Nirriti schließlich erneut das Wort und stellte sich Shiva gegenüber. »Kommst du mit mir mit? Ich weiß einen Ort, da wachsen die leckersten Pflanzen! Oder willst du weiter an diesem dürren Zeug herumnagen?«
»Bindi würde das begrüßen«, grummelte Shiva mit vollgestopftem Maul und ihre Ohren wehrten flatternd ein paar Moskitos ab.
»Bindi kann uns mal!«, rief Nirriti und schaute sich anschließend suchend um, ob die Alte dies auch nicht gehört hatte.
»Hast wohl doch Angst, dass sie dich ebenfalls an den Rand der Herde drängt, was?«, fragte Shiva, der diese Unsicherheit ihres Gegenübers nicht entgangen war.
»Ich will nur nicht, dass sie von diesem Ort erfährt und uns alles wegfuttert«, behauptete Nirriti und nickte abermals selbstzustimmend mit dem Kopf.
»Und wo soll dieser Ort mit diesem ach so tollen Futter sein?«, fragte Shiva und wollte eigentlich nur erreichen, dass Nirriti sich tollt und sie in Ruhe weiter essen ließ. Aber diese blieb hartnäckig.
»Also willst du es doch wissen?«, fragte Nirriti und klang dermaßen überzeugt, ihre ehemalige Freundin überredet zu haben, dass sich Shiva schließlich entschied, ihr zu diesem Platz zu folgen.
»Na gut, dann zeig mir diesen Ort, wenn du unbedingt darauf bestehst. Sonst stehst du noch bis heute Abend vor mir herum und guckst mir beim Schmatzen zu.«
»Großartig!«, freute sich Nirriti über die Einsicht Shivas und tänzelte mit ihren großen runden Füßen durch das Dickicht des Urwaldes davon.
Shiva hatte etwas Mühe, ihr zu folgen, zumal sie eigentlich auch gar keine Lust dazu hatte. Aber nun war sie bereits auf dem Weg und eine neuerliche Abkehr von ihrer Entscheidung würde nur alles schlimmer machen, war sie sich sicher.
Sie gingen an den übrigen Kälbern der Herde vorbei und Shiva bemerkte deren erwartungsvolle Blicke. Allein Abinash schien ihr einen besorgten Blick zuzuwerfen, dem die junge Elefanten-Dame allerdings keinen weiteren Gedanken opferte. Vielmehr achtete sie darauf, sich den Weg genau einzuprägen, den Nirriti ihr wies. Denn wer weiß, in welche Falle sie ihre Widersacherin locken wolle?
Nirriti ging weiterhin zielstrebig voran und Shiva hätte schwören können, dass sie sich ungewohnt fröhlich verhielt. Sollte sie sich wirklich darüber freuen, wieder mit ihrer alten Freundin aus Kälbchen-Tagen durch die dichten Wälder zu streifen? Kaum vorstellbar. Aber Shiva wurde schon bald eines Besseren belehrt.
»Schau dir das mal an, Shiva!«, sagte Nirriti und deutete mit ihrem Rüssel auf ein Meer aus Sauergrasgewächsen und Elefantenäpfeln.
»Wer hat das alles gepflückt?«, fragte Shiva misstrauisch. Denn, wer würde so viel leckeres Zeug sammeln und zu einem großen Haufen zusammentragen, um es dann ohne Aufsicht zurückzulassen?
»Das waren ich und die anderen Kälber!«, behauptete Nirriti in grinste Shiva mit s-förmig erhobenen Rüssel breit und strahlend an.
»Warum esst ihr das dann nicht selbst?«
»Du bist noch immer sauer auf uns, was? Das kann ich verstehen«, sagte Nirriti und ließ sowohl ihren Rüssel als auch die Ohren schlaff herabhängen. »Aber wie gesagt, es tut uns sehr leid, dass wir dich immer gehänselt und ausgeschlossen haben. Wir möchten uns auf diese Weise bei dir entschuldigen.«
»Es wäre mir lieber gewesen, wenn ihr zuerst mit mir gesprochen hättet, anstatt mich hier mitten in den Urwald zu führen«, sagte Shiva und wollte gerade den Heimweg antreten, solange sie den Weg noch wusste.
»Bleibst du wohl hier!«, rief ihr Nirriti nach und Shiva vernahm ein wenig Panik in ihrer Stimme. »Wir haben uns so viel Mühe gegeben. Du würdest uns kränken, wenn du nichts isst.«
»Ich euch kränken?«, fragte Shiva in einem sarkastischen Unterton. »Als ob ich das jemals schaffen würde, wo ihr euch doch für etwas Besseres haltet mit euren geraden Rüsseln.«
»Ach, vergiss den Rüssel! Das verwächst sich bestimmt bald«, meinte Nirriti und stupste Shiva in Richtung der aufgehäuften Leckereien. »Los, iss!«
Shiva blickte ihre sogenannte neue Freundin weiterhin misstrauisch an, konnte letzten Endes jedoch dem Duft nicht widerstehen, der von den Elefantenäpfeln und den frisch gerupften Sauergrasgewächsen ausströmte. Nach einem neuerlichen zustimmenden Nicken Nirritis stapfte sie die kleine Anhöhe herunter und reckte zögerlich ihren Rüssel nach einem der Elefantenäpfel aus.
Auf Shivas Zunge machte sich das Gefühl eines heftigen Gewittersturms breit, nur eben auf eine sehr angenehme Art. Einen solchermaßen wunderbaren Geschmack hatte sie lange nicht mehr genießen können. Sie spürte förmlich, wie alte und längst vergessen geglaubte Lebensgeister in ihr erwachten. Sie nahm einen Apfel und noch einen. Dann machte sie sich über das Sauergras her und verschlang es mit wonnigem Genuss.
Dabei bemerkte sie nicht, dass Nirriti sich heimlich davonstahl. Shiva, die sich immer weiter in den Haufen hineinfraß, war allein. Erst nach einer ganzen Weile und nachdem sie gesehen hatte, dass kaum noch Elefantenäpfel übrig waren, drehte sie sich wieder zu der Stelle um, an der ihre Freundin vorhin gestanden hatte. Doch sie war verschwunden.
»Nirriti? Wo steckst du?«, rief die kleine Elefantin ängstlich und schaute sich suchend um.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top