DIE DÜRRE

9 Jahre zuvor

ES HATTE SEIT Wochen nicht mehr geregnet. Die Erde staubte unter den kräftigen Schritten der Elefanten und es fiel ihnen immer schwerer, geeignete Nahrung zu finden. Viele der kleineren Pflanzenfresser hatten die Region bereits verlassen, um andernorts ihr Glück zu versuchen. Für Aastha und ihre Herde war das hingegen nicht so einfach. Sie lebten im Reich des Tigerkönigs Alok und waren an seine Grenzen gebunden, denn diese boten ihnen Schutz vor anderen Raubtieren.

»Aastha«, sprach Bindi ihre Anführerin an jenem Morgen mit knurrendem Magen an. »Meine Tochter Bhavani wird in den kommenden Tagen ihr Kalb zur Welt bringen. Wir brauchen dringend etwas zu essen.«

Aastha blickte der alten Elefantin wortlos in die Augen. Sie wusste, welche Forderung diese an sie stellen wollte.

»Lass uns das Königreich verlassen und woanders nach Futterquellen suchen. Machen wir es wie die anderen Herden und gehen auf weite Wanderungen. Wenn wir hierbleiben, dann verhungern wir.«

»Sobald wir Aloks Reich verlassen, laufen wir Gefahr, von Raubtieren angegriffen zu werden, und das wäre gerade für dein jüngstes Enkelkind lebensgefährlich«, sprach Aastha ihren Einwand mit gedämpfter Stimme aus, damit die Kälber keine Angst bekamen.

Keiner der jüngeren Elefanten ihrer Gruppe hatte sich jemals vor den Angriffen fleischfressender Tiere fürchten müssen. Die grauen Riesen genossen dank ihrer Stärke, Weisheit und Gutmütigkeit hohes Ansehen in dieser Region. Selbst Tiger und andere Raubkatzen, die der Königsfamilie nicht nahestanden, begegneten ihnen stets mit Respekt. Außerhalb dieser Schutzzone konnte die Anführerin nicht für die Sicherheit ihrer schwächsten Herdenmitglieder garantieren.

»Welche Wahl haben wir?«, pochte Bindi weiter auf ihre Meinung. »Die Antilopen sind bereits fort und sie sind sehr viel wehrloser als wir. Falls es zu einem Angriff kommt, werden wir uns zu verteidigen wissen.«

»Ich möchte es nicht darauf ankommen lassen, Bindi.« Aastha schüttelte den Kopf und wendete sich ab. Das ausgetrocknete Gras unter ihren Füßen knackte und knisterte.

»Dann sind wir dem Tode geweiht. Wir alle. Ist es das, was du willst? Du bist unsere Anführerin. Schau nicht weg, wenn deine Herde verhungert.«

Aastha ließ ihren Blick zu den übrigen Mitgliedern ihrer Herde schweifen. Sie alle sahen sie mit leeren und müden Blicken an, während die heiße Mittagssonne unablässig auf sie herab schien. Als sie sich der Aufmerksamkeit ihrer Patriarchin bewusst wurden, klappten sie erwartungsvoll die Ohren nach vorn.

»Sie warten auf einen Befehl«, flüsterte Bindi und ließ den Blick nicht von Aastha.

Diese atmete schwer aus und senkte den Kopf wieder. Diese Geste löste Diskussionen innerhalb der Herde aus. Eines der jüngsten Kälber kam auf sie zu und stupste Aastha mit seiner Rüsselspitze an.

»Ich habe ganz fürchterlichen Hunger, Tante«, sagte das Mädchen namens Ganesha mit zarter Stimme.

»Es werden die Kleinsten sein, die als erste sterben«, wagte Chandani auszusprechen, was sich ihre Anführerin nicht traute. »Ich möchte nicht noch ein Kalb verlieren.« Ein Bullenkalb, kaum drei Monate alt, versteckte sich zwischen den kräftigen Beinen seiner Mutter.

»An Dayitas Tod trägt Aastha keine Schuld«, warf Bindi einen schnippischen Kommentar in Shivas Richtung.

»Meine Tochter ist nicht für diese Dürre verantwortlich«, brummte Sadhana ihre Herdenkollegin an.

»Hört auf zu streiten«, versuchte Aastha, für Ruhe zu sorgen. »Niemandem wird die Schuld an dieser Situation zugeschoben. Es ist das Gesetz der Natur, dass unser Leben nicht immer einfach ist. Wir müssen lernen, damit umzugehen.«

»Jetzt kommt sie uns mit dem Gesetz des Stärkeren«, spottete Bindi.

»Sie will uns opfern – absichtlich!«, rief eine Elefantin, die etwas außerhalb der Gruppe stand und an einem trockenen Zweig nagte.

»Ihr ist mein ungeborenes Kalb völlig egal!«, protestierte Bhavani, Bindis Tochter.

»Ihr wisst, dass das nicht wahr ist«, trompetete Aastha, die endlich aus ihrer Lethargie zu erwachen schien. »Als eure Leitkuh bin ich für die Sicherheit der Herde verantwortlich. Führe ich euch hinter die Grenzen von Aloks Reich, kann ich dafür nicht mehr garantieren. Dennoch gebe ich euch recht. Bleiben wir hier, dann bedeutet das, dass wir weiterhin hungern müssen. Soll ich es also riskieren, und eine Bedrohung gegen die andere austauschen? Was sagt ihr? Folgt ihr mir, wenn ich euch in Regionen führen, in denen es zwar frisches Grün, dafür aber Raubtiere gibt, gegen die ihr euch niemals zuvor in eurem Leben habt verteidigen müssen? Seid ihr bereit, dies Wagnis einzugehen?«

Unruhiges Murmeln durchzog die Herde. Die Elefanten steckten die Rüssel zusammen und sprachen sich ab. Trotz ihres Unmuts über die derzeitige Situation war es für die meisten nicht einfach, eine endgültige Entscheidung zu treffen. Aastha hatte nicht unrecht damit, dass gerade die Kälber Gefahren durch fremde Fleischfresser nicht gewohnt waren und sich möglicherweise zu leichtsinnig verhalten könnten.

Sadhana und ihre Tochter Shiva wurden nicht mit in diese Gespräche einbezogen. Sie standen am Rand der Herde, wie sie es seit nunmehr einem Jahr taten. Seit dem Vorfall mit der missglückten Strafarbeit, nach welcher die junge Elefantin im gesamten Dschungel in Verruf gekommen war, durfte Shiva die Gruppe nicht mehr ohne eine erwachsene Begleitperson verlassen. Die anderen Kälber und Jungelefanten spielten nicht mehr mit ihr, wenn sie es, zumindest die meiste Zeit, auch unterließen, sie weiterhin aufzuziehen.

»Ich habe eine Idee!«, erklang Nirritis schrille Stimme aus dem allgemeinen Gemurmel hervor. »Shiva hat der Herde so viel Unglück gebracht. Es wird Zeit, dass sie etwas dafür tut, diesen Frevel wieder gutzumachen.«

Alle Blicke waren auf die junge Elefantin gerichtet, die selbstbewusst ihren Rüssel in die Luft hielt und mit den Ohren flatterte.

»Nirriti, sag ruhig, was du dir ausgedacht hast«, forderte Aastha sie auf, zu sprechen.

Das ließ sich Nirriti nicht zweimal sagen. Stolz platzierte sie sich vor der Herde und erklärte den anderen ihren Plan.

»Wir gehen alle zusammen bis an den Rand von Aloks Reich«, begann sie zu erklären. »Anschließend schicken wir Sadhana und ihre Tochter voraus, um die Gegend zu erkunden. Sobald sie frisches Grün gefunden haben, lassen sie uns das wissen und wir folgen ihnen dorthin. Sollten sie Gefahr wittern, geben sie uns ebenfalls Bescheid und kehren zu uns zurück. Dann können wir einen anderen Weg einschlagen. Was haltet ihr davon?«

Aufgeregt ließ Nirriti ihren Schwanz in der Luft herumwirbeln, während der Rest der Herde sich weiter beratschlagte.

»Ich finde, das ist eine hervorragende Idee!« Binde war die Erste, die etwas sagte. »Auf diese Weise bringen wir nicht die gesamte Herde in Gefahr. Shiva ist kein kleines Kalb mehr. Sie stellt keine Beute für Leoparden dar und ich bin mir sicher, dass Sadhana einen Tiger mit Leichtigkeit abwehren kann.«

Der abwertende Unterton in Bindis Stimme war nicht zu überhören, dennoch begannen die ersten Köpfe zustimmend zu nicken.

»Damit sind wir einverstanden«, verkündete Chandani ihren Zuspruch, ohne Shiva und ihre Mutter ein einziges Mal angesehen zu haben.

»Wenn niemand einen Einwand hat, dann ist es beschlossen«, gab letztlich auch Aastha ihr Einverständnis. »Morgen nach Sonnenaufgang ziehen wir gen Norden, von dem man sich erzählt, dass er mehr Pflanzen und Wasser zu bieten hat.«

Inmitten der lauten Jubelschreie der anderen Elefanten trat Aastha an Sadhana und Shiva heran, um mit ihnen unter drei Rüsseln zu sprechen.

»Sadhana, du bist klug und umsichtig«, begann sie zu reden und vermied den direkten Augenkontakt mit Shivas Mutter. »Bring dich und deine Tochter in keine unnötigen Gefahren. Kehre sofort zu uns zurück, falls du etwas witterst.« Mit einem letzten Kopfnicken ging Aastha wieder, ohne eine Antwort abzuwarten.

»Sie ist eine schwache Leitkuh«, sagte Shiva zu ihrer Mutter.

»Du hast recht, mein Kind. Aber wir müssen ihrem Befehl Folge leisten.«

Beide wussten, dass es eigentlich Bindi war, die in dieser Herde die Kommandos erteilte.

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