DER RAT DER TIERE

10 Jahre zuvor

SEIT DEM TÖDLICHEN Unfall der jungen Elefantenkuh Dayita hat sich Shivas Leben mehr und mehr ins Negative entwickelt. Die anderen Herdenmitglieder und vor allem die Jungtiere und Kälber mieden sie oder, wie in Nirritis Fall, hänselten sie und ließen sie nicht mehr an ihrem Leben teilhaben.

Allein Shivas Mutter, Sadhana, hielt weiterhin zu ihrem Kind und beteuerte vor den anderen Kühen stets, dass ihre Tochter nicht Schuld an diesem Unglück war und, dass in ihr kein böser Geist innewohne. Doch es war immer im Leben so, dass die einfachere Erklärung der Wahrheit oft vorgezogen wurde.

»Wir verstehen, dass du bei ihr bleibst. Du bist ihre Mutter«, sagte eines Tages die alte Bindi zu Sadhana. »Doch können wir es nicht länger tolerieren, dieses Kalb in unseren Reihen zu dulden und mit ihm unser Futter zu teilen. Was, wenn es das nächste Unglück heraufbeschwört?«

»Shiva trägt keine Schuld an dem, was Dayita zugestoßen ist. Sie ist ein Kalb, wie jedes andere. Sie beschwört nichts herauf!«, sagte Sadhana und stellte sich schützend vor ihre Tochter, die unter Bindis strengen Blicken bebte. »Es war eine törichte Idee, beim Monsun zum Fluss zu gehen, aber wir hatten alle unsere Flausen im Kopf, als wir noch Kälber waren. Ist uns damals nicht auch mal etwas zugestoßen? Nur so lernen wir für unser späteres Leben. Fehler gehören zum Erwachsenwerden dazu, Bindi.«

»Zu meiner Zeit haben die Kälber noch den Anweisungen der Herdenältesten folge geleistet. So etwas gab es damals nicht«, schnaufte Bindi und stampfte mit dem linken Vorderfuß in Richtung Shiva einmal kräftig auf den Boden, woraufhin einige Vögel panisch aufflogen.

»Natürlich. Damals war alles besser«, verdrehte Sadhana die Augen und bedeutete ihrem Kalb, noch ein paar Schritte weiter zurückzugehen.

»Das war es. Vor allem bevor Rajesh, dieser Chaot, seine rebellischen Gene in unsere Herde verbreitet hat.« Bindi warf Shiva, die eine der Töchter Rajeshs war, einen verächtlichen Blick zu.

»Lass ihren Vater aus dem Spiel«, protestierte Sadhana. »Die Bullen haben mit der Erziehung nichts zu tun. Was das angeht, nehme ich alles auf meine Kappe. Aber vielleicht suchst du ja einfach nur nach irgendeinem Grund, um beweisen zu können, dass Shiva dazu bestimmt ist, Unheil anzurichten. Damit ist dieses Gespräch für mich beendet, Bindi.«

»Schön, dann geh und nimm dein Kalb mit. Sollt ihr beiden doch sonst wo bleiben aber nicht –«

Ein kräftiges Trompeten ließ Bindi ihre letzten Worte ungesagt. Aastha, die Leitkuh, mischte sich in das Streitgespräch ein. Sie war nach wie vor eine der wenigen, die sich für Shiva einsetzte, was vermutlich der einzige Grund war, warum die anderen Elefanten sie und ihre Mutter überhaupt noch in der Herde akzeptierten.

»Bindi, hier bestimme ich und niemand anderes als ich, wer unsere Herde verlässt und wer nicht.« Ein tiefes Brummen ging von der mächtigen und weisen Elefantin aus. »Sadhana und ihr Kalb bleiben bei uns. Ich kann keinen Grund nennen, der dagegen spräche.«

»Ich kann einen Haufen Gründe nennen, der sie des –«

»Unterbrich mich nicht, Bindi und vor allem, widersprich mir nicht«, gebot die Leitkuh Bindi erneut Einhalt. »Beides sind Gründe, die zu einem Herdenausschluss führen können. Kindliche Streiche und tragische Unfälle jedoch nicht. Sadhana, geh mit der Kleinen dort drüben hin. Sie braucht dringend nahrhafteres Futter«, wandte sich Aastha zu Shiva und ihrer Mutter. Dabei musterte sie den bereits ziemlich dünnen Körper der jungen Elefantenkuh.

Sadhana verbeugte sich tief vor der Matriarchin und zog mit ihrem Kalb in die Richtung, in der auch die anderen Elefanten weideten.

»Was hat Bindi gemeint, als sie von meinem Vater sprach?«, fragte die kleine Shiva ihre Mutter, als sie weit genug entfernt waren, von den hasserfüllten Blicken der alten Bindi.

»Dein Vater, Rajesh, ist ein stattlicher und gutaussehender Bulle«, begann Sadhana schwärmerisch zu erzählen. »Doch er hat ein zuweilen aufbrausendes Gemüt und hält sich nicht gern an Regeln. Es ist leider schon vorgekommen, dass er sich mit dem König, Alok, anlegte, weil dieser ihm verboten hatte, einen bestimmten Teil des Dschungels zu betreten.«

»Warum hat er ihm das Verboten?«, wollte Shiva wissen.

»Weil die Pflanzen dort zu weit von den Tieren abgefressen wurden und sich erholen mussten, bevor dieses Gebiet wieder als Nahrungsquelle dienen konnte. Doch Rajesh war der Meinung, dass Alok sich dort irgendetwas einheimsen wollte. Das würde dem Gesetzt des Dschungels widersprechen, dass der Wald, der Fluss und alles was darin lebt jedem gehört und selbst der König keine persönlichen Anrechte darauf haben darf. Es sei denn, es ist vom Rat der Tiere genehmigt worden.«

Shiva hörte ihrer Mutter aufmerksam zu. »Der Rat der Tiere?«, fragte sie und begann zu überlegen. »Kann dieser Rat nicht auch über mich bestimmen und mich von diesem Vorwurf freisprechen, ich hätte meine Freundin in den Fluss gestoßen?«

Sadhana überlegte eine Weile und wiegte ihren Rüssel hin und her. »Ich weiß nicht, ob der Rat sich dieser Sache nach mehr als zwölf Monden noch annehmen wird. Aber vielleicht hast du Recht. Wir sollten es versuchen.«

Ein paar Tage nachdem Sadhana mit Aastha über den Vorschlag ihres Kalbes gesprochen hatte, ließ König Alok den Rat der Tiere zusammenrufen. Dieser bestand aus Affen, Vögeln, einem Panzernashorn, zwei Kobras, einem Leoparden und natürlich dem König selbst. Shiva schlotterten die Knie beim Anblick dieser weisen und streng dreinblickenden Tiere.

Neben ihr selbst war ihr Freund und Zeuge des Vorfalls Abinash zu der Verhandlung geladen. Allerdings war auch er ein Sohn des Rajesh, was das Urteil der Tiere womöglich beeinflussen könnte. Aastha stand neben den beiden Kälbern, deren Mütter wegen Befangenheit die Aussage verwehrt wurde. Zu Shivas Glück war auch Bindi nicht zugelassen, da sie weder Zeugin noch Betreuerin der beiden Hauptzeugen war. Als Erstes jedoch wurde Chandani in den Zeugenstand gerufen, Dayitas Mutter.

»Hiermit erkläre ich die Verhandlung über den Todesfall des jungen Kalbes Dayita offiziell für eröffnet«, brüllte König Alok. Der muskulöse Tiger stand majestätisch auf einem großen Felsen, um den sich die anderen Tiere kreisförmig aufgestellt hatten. »Als Erstes möchte ich Ihnen, Chandani, mein tiefstes Mitgefühl zu ihrem Verlust aussprechen. Ihre kleine Tochter war eines der zahlreichen Opfer, die der Monsun gefordert hatte. Doch war mir bislang nicht bekannt, dass es in ihrer Herde die Vermutung gibt, dass eines der anderen Kälber Schuld an dieser Tragödie sein soll. Was halten Sie, als Mutter der Verunglückten, von dieser Behauptung? Wie würden sie Shiva und das Verhältnis zwischen ihr und ihrer Tochter beschreiben?«

Es herrschte einen Moment lang Stille, dann fing Chandani mit bebender Stimme an, zu sprechen.

»Shiva hat schon immer für Unruhe innerhalb der Herde gesorgt. Sie hat sich selten an Regeln gehalten, oft andere Tiere geärgert und je mehr Untaten sie beging, desto krummer wurde ihr Rüssel, meine ich. Majestät. In diesem Kalb steckt ein Thaye, ein böser Geist. Davon sind alle in unserer Herde überzeugt.«

Erneut erfüllte Schweigen die Luft, bis Aastha ihren Rüssel hob und sich zu Wort meldete.

»Majestät, verzeihen Sie die Unterbrechung. Ich als Leitkuh bin keinesfalls der Ansicht, dass diesem jungen Elefanten ein böser Geist innewohnt. Sie ist ein aufgewecktes Kalb, aber sie ist nicht bösartig.«

»Sie waren noch nicht an der Reihe, Aastha« Alok schenkte der Elefantin einen strengen Blick, ließ ihre Unhöflichkeit aber folgenlos. »Chandani, bitte reden Sie weiter.«

Aastha verbeugte sich kurz und ließ Chandani wieder den Vortritt.

»Shiva und Dayita, meine Toch-Tochter«, setzte sie ihre Erzählungen unter Tränen fort. »Die beiden waren nicht oft zusammen unterwegs. Majestät. Dayita war zwei Jahre jünger als Shiva und hatte noch kaum Erfahrungen außerhalb der schützenden Herde gesammelt. Ich hätte sie nicht aus den Augen lassen dürfen, schon gar nicht mit den Nachkommen Rajeshs.«

Shiva schrak zusammen, als Chandani ihren Vater ins Gespräch brachte. Sie sah, dass der Klang seines Namens eine Veränderung der Gesichtszüge des Königs zur Folge hatte.

»Das sind beides Rajeshs Kälber?«, fragte Alok und Chandani und Aastha nickten. »Was ist dann passiert? Nachdem die drei die Herde verlassen hatten?«, fragte Alok weiter, ohne näher auf Rajesh einzugehen.

»Sie sind zum Fluss gegangen, um zuzusehen, wie er zu einem reißenden Monster wurde. Diese ganze negative Energie, die von dem Fluss ausging, muss sich auf Shiva übertragen und den bösen Geist in ihr wachgerufen haben. Sie hat sie dann einfach geschubst. Meine Tochter. Meine kleine Dayita. Shiva hat sie rücksichtslos in den Fluss und damit in den Tod gestoßen.«

Chandani schaute mit ernstem Blick zum König rauf. Dieser beäugte nun Shiva, die einen großen Kloß im Hals spürte und Angst hatte, dass sie nichts zu ihrer Verteidigung würde sagen können.

»Shiva und Abinash. Stellt euch in die Mitte und berichtet uns, was ihr zu diesem Vorfall sagen könnt«, sagte der König und klang dabei überraschend sanft.

»Ich – ich habe sie nicht geschubst!«, stotterte Shiva und schaute verzweifelt in die vielen eisernen Gesichter um sich herum. »Der schlammige Boden war schuld daran. Ich bin weggerutscht und gegen Dayita gefallen. Sie war noch zu klein, um sich halten zu können. Aber ich wollte das nicht, wirklich!«

Dicke Tränen kullerten über ihre graue Haut und Abinash schaute verlegen zu Boden.

»Ich kann nicht genau sagen, was passiert ist«, flüsterte er kaum hörbar.

Chandani kam daraufhin zu ihm und hob mit ihrem Rüssel sein Gesicht an.

»Junger Mann! Du hast damals selbst gesagt, dass du gesehen hast, wie Shiva meine Tochter geschubst hat«, fauchte sie den Jungbullen an.

»Raus aus dem Zeugenstand, meine Dame!«, brüllte der König und sein gestreiftes Fell bebte. »Der Junge darf nicht beeinflusst werden. Abinash, sag uns bitte allen, was du damals gesehen hast.«

»Ich, na ja. Eigentlich habe ich nicht gesehen, wie es passiert ist«, fing der Kleine an zu erzählen und schaute Shiva schuldbewusst von der Seite an. »Ich wollte nur keinen Ärger und weil Shiva sowieso einen schlechten Ruf in der Herde hat, dachte ich, nun ja, da dachte ich, dass ich keine Strafe kriegen würde, wenn ich sage, dass sie es war.«

Chandani schluckte schwer und Aastha atmete deutlich hörbar aus. Shiva wusste in diesem Augenblick nicht, ob sie böse auf Abinash sein sollte, oder dankbar dafür, dass er endlich die Wahrheit gesagt hatte.

»Aastha«, wandte sich Alok der Leitkuh zu. »Entspricht die Aussagen des Jungen der Wahrheit? Geht man in ihrer Herde davon aus, dass in dieser kleinen Elefantin ein böser Geist wohnt?«

»Das ist leider wahr, Eure Majestät«, bejahte Aastha diese unangenehme Frage. »Diese Geschichten beschäftigen vor allem die ältesten Kühe in meiner Herde und ich konnte sie bislang nicht davon überzeugen, dies als Aberglaube abzutun. Auch die Kälber lassen sich sehr schnell von diesen Gruselmärchen beeinflussen.«

»Das sollten sie schleunigst ändern«, knurrte König Alok. »Ich halte die Schilderung des Mädchens für plausibel. Warum sollte ein Kalb mutwillig ein anderes in einen reißenden Fluss schubsen? Lächerlich. Aastha, Sie sollten sich ernsthaft Gedanken darüber machen, wie leicht ihre Herde zu beeinflussen ist. Dieses junge Tier sollte nicht der Sündenbock sein, für irgendwelche Unfälle. Es ist ein Kind und hiermit offiziell von dem Vorwurf der vorsätzlichen Tötung Dayitas freigesprochen, sofern es keine Einwände gibt.«

Alok schaute sich in der Runde seines Rates um, doch alle Tiere schüttelten mit dem Kopf. Einzig Chandani schien mit dem Urteil des Königs nicht zufrieden zu sein, doch mit einem drohenden Schlag mit dem Rüssel sorgte Aastha dafür, dass auch sie keinen Einspruch erhob.

Shiva fiel ein Stein vom Herzen. Sie hoffte, dass sie und ihre Mutter nun wieder ein normales Herdenleben führen konnten. Doch ihre Zukunft sah auch ohne diesen bitteren Vorwurf wenig rosig aus. Davon ahnte die junge Elefantenkuh an diesem Tag jedoch noch nichts.

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