ARBEITSTIERE

2 Jahre zuvor

DIE SONNE GING AM HORIZONT AUF und tauchte den Dschungel in ein pastellfarbenes Licht. Shiva erwachte und blinzelte, in die vertraute Umgebung schauend, mit ihren großen neugierigen Augen. Heute würde die Herde weiterziehen und neue Weidegründe suchen. Die junge Elefantin freute sich bereits auf die Wanderung, denn diese versprach nicht nur neue Orte, sondern auch neue Tiere, die sie kennenlernen würde.

Ihre Vergangenheit als Ausgestoßene lag weit hinter ihr. Sie galt weder als verflucht, von einem bösen Geist besessen, noch war man der Ansicht, sie würde Unglück bringen. Man hatte ihr ihre Vergangenheit verziehen und war darum bemüht, alles für sie zu tun, was man auch für die anderen Jungelefanten tat. Uma, ihre neue Herdenführerin behandelte Shiva und ihre Mutter Sadhana nicht anders, als den Rest ihrer kleinen, freundlichen Truppe.

Shiva hatte Freunde gefunden, die sie dabei unterstützten, sich endlich wieder wie ein normaler Elefant zu fühlen. Sie teilten Essen mit ihr und trauten ihr auch die ein oder andere wichtige Aufgabe zu, wie zum Beispiel das Aufspüren neuer Nahrung. Shiva war jetzt ein vollwertiges Herdenmitglied und als solches nicht mehr mager und traurig. Sie war glücklich, zum ersten Mal in ihrem Leben konnte sie nichts als ungetrübtes Glück spüren.

Shiva rannte mit ihren Freunden durch den Dschungel, stets darauf bedacht, auf die kleineren Tiere zu ihren Füßen zu achten, und fühlte sich frei und stark. Sie freute sich auf ihre Zukunft und alles, was noch auf sie warten würde und dann ...

... wachte Shiva auf.

Sie fand sich an einem Ort wieder, der seit zwei Jahren ihre Heimat war, doch er blieb nach wie vor fremd für sie. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber um sie herum herrschte bereits reges Treiben. Auch die Zweibeiner ließen die Arbeit lediglich für ein wenig Schlaf ruhen und standen am nächsten Morgen sehr früh wieder auf, um mit ihrem endlos scheinenden Tagewerk fortzufahren. Die herrschende Dunkelheit bezwangen sie mit Feuer, welches sie gezähmt zu haben schienen. Es loderte bedrohlich flackernd an den Enden massiver Stöcke, die die felllosen Affen überall in ihrem Lager verteilt hatten. Anfangs hatte Shiva panische Angst davor, aber jetzt hatte sie sich daran gewöhnt, dass für diese andersartigen Tiere der gewöhnliche Tag-Nacht-Rhythmus nicht galt.

Nur an eine Sache konnte sich die junge Elefantin niemals gewöhnen:

Die Fesseln.

Die ganze Nacht und manchmal auch einen Großteil des Tages standen sie, ihre Mutter und etwa ein halbes Dutzend anderer Elefanten an ein und derselben Stelle. Die wurden Beine mit Schlingen fixiert, die sie an der Flucht hindern sollten. Diese wurden nur gelöst, wenn Shiva und die anderen zur Arbeit ausrücken mussten. Dann trugen sie wieder Holzstämme, verrückten diese oder hievten sie irgendwo hoch, um den Zweibeinern bei der Errichtung ihrer Höhlen zu helfen. Es war eine harte Arbeit, die oft ohne nennenswerte Pausen von Morgengrauen bis zum Sonnenuntergang dauerte. Wenn ein Elefant vor Schwäche aufhörte zu arbeiten, dann bekam er die langen spitzen Stöcke der Zweibeiner zu spüren und manche diese fremdartigen Affen scheute auch vor härteren Strafen nicht zurück. Zahlreiche neue Narben zierten Shivas ohnehin schon geschundenen Körper und trotz, dass sie täglich Futter gereicht bekamen, hatte sie wieder stark an Gewicht verloren.

Die furchteinflößende, hagere und narbige Shiva war zurückgekehrt.

Von ihrem vormaligen Ich, welches in Umas Herde zu neuem Glück, neuer Zuversicht und Gesundheit gefunden hatte, war nichts mehr übrig. Sie war jetzt mehr ein Schatten ihrer selbst als jemals zuvor. Ihre Kindheit war endgültig vorbei.

Doch mehr noch als sie selbst litt ihre Mutter unter dieser neuerlichen Veränderung ihrer Lebenssituation. Bereits der Rausschmiss aus der Herde, in der sie geboren wurde, hatte Sadhana stark zugesetzt. Nun allerdings baute sie nicht nur körperlich mehr und mehr ab, sondern vor allem geistig. Shiva konnte ihre einstmals so gütige und starke Mutter kaum noch wiedererkennen. Sie starrte die meiste Zeit ziellos in der Gegend herum und in ihren trüben, weit aufgerissenen Augen spiegelte sich kein Lebenswille mehr. Wenn sie angebunden war, schwankte sie unaufhörlich mit dem Kopf von einer Seite auf die andere. Sie war aber nicht der einzige Elefant, der dieses andauernde Wippen und Schaukeln zeigte. Zwei weitere, ältere Tiere litten an demselben Trauma.

Auch Shiva zeigte bereits einige Stereotypen, die der monatelangen Gefangenschaft und Ausbeute als Arbeitstier geschuldet waren. So trat sie oft mit den Vorderbeinen immer wieder auf einer Stelle, als würde sie sich auf Wanderschaft befinden. Jedoch bewegte sie sich dabei nur hinter ihren geschlossenen Augen von dem Ort weg, an dem sie nach dem Willen der Zweibeiner stehen zu bleiben hatte.

Es war nicht so, als hätten sie und die Elefanten nicht schon einmal versucht, aus diesem elenden Dasein zu fliehen, doch das war leichter gesagt, als getan. Die Zweibeiner waren schlau, schnell und geschickt und mit den Jahren hatten sich die meisten der Elefanten an ihr unterdrücktes Dasein in deren Mitte gewöhnt, oder redeten sich dies zumindest ein.

Wahrlich gab es auch einige Zweibeiner, die die grauen Riesen mit viel Liebe und Fürsorge behandelten. So wurde Shiva bereits mehrmals von einem halbwüchsigen Zweibeiner namens Pati mit feinen Köstlichkeiten verwöhnt, im Fluss gebadet und an ihren Wunden versorgt. Sie konnte nicht leugnen, dass sie für diesen felllosen Affen tiefe Zuneigung empfand. Manchmal kam er auch in der Nacht zu ihr und streichelte sie sanft in den Schlaf, wenn er merkte, dass sie nervös war. Dann erzählte er ihr etwas in seiner ihr unverständlichen Sprache. Pati gab ihr das Gefühl, nicht allein zu sein. Zu ihrer Mutter, die fortan in ihrer eigenen kranken Welt lebte, hatte Shiva keinen näheren Kontakt mehr. Dies war die tiefste und schmerzhafteste Wunde von allen und die einzige von ihnen, die Pati nicht heilen konnte.

Damals, als sie mit ihrer Mutter allein durch den Dschungel ziehen musste, hatte Shiva sich davor gefürchtet einzuschlafen. Die Albträume bereiteten ihr immer wieder Angst und Kummer. Heute war das Gegenteil der Fall. Sie freute sich auf die Nacht und konnte es nicht erwarten, in einen tiefen Schlaf zu fallen und von den schönen Tagen in Umas Herde zu träumen. Nun war das Erwachen der Albtraum und der Beginn eines neuerlichen Martyriums. Auch an diesem Tag würde es wieder so sein, wusste sie.

Einer der Zweibeiner kam zu den Elefanten und hielt in der Hand die bedrohliche Flamme, die alle Schatten geisterhaft verzerrt zappeln ließ. Hinter ihm kamen weitere Zweibeiner, die spitzen Stöcke drohend auf die Elefanten gerichtet. Schließlich wurden Shivas Fesseln gelöst und man gab ihr den harschen Befehl, sich auf den Boden zu legen. Von allen Dingen, die man hier von ihr verlangte, war das, das Schlimmste für sie gewesen:

Die Zweibeiner ritten während der Arbeit auf ihrem Rücken.

Wie viel konnte ein Tier ertragen, bis es vor dem Leben kapitulierte?

Es schien ein gewöhnlicher Tag zu werden, der gefüllt war mit harter Arbeit und schmerzenden Gelenken und einem Gefühl der Taubheit in Shivas Rüssel. Sie schleppte drei Baumstämme auf einmal und stolperte dabei über eine Wurzel, die der letzte Regen aus dem Boden gespült hatte. Die Strafe spürte sie unverzüglich mit einem stechenden Schmerz in der Flanke. Heute hatte sie das Pech die grimmigsten der Zweibeiner als Anführer zu haben. Sie wünschte sich, Pati wäre bei ihr. Er hätte sich ihrer Unversehrtheit vergewissert, anstatt sie für diesen ungewollten Unfall zu rügen. Aber Shiva wusste, dass er noch zu jung war, um als Elefantentreiber arbeiten zu können. So sah sie auch diesem Tag mit wenig Zuversicht entgegen, dass er besser verlaufen würde, als die zahllosen Tage vor ihm.

Dann bemerkte sie, wie die Zweibeiner ihre Aufmerksamkeit auf etwas richteten, was ein paar Meter entfernt von ihnen im Gebüsch auf sie zuzukommen schien. Shiva bemerkte sofort, dass es ein wilder Elefant war. Sie hoffte aus tiefstem Herzen, dass der Artgenosse sofort kehrt machen und den Fängen der Zweibeiner entkommen würde. Doch diese machten sich längst mit Speeren und Fesseln bereit, auch diesem armen Geschöpf seiner Freiheit zu berauben.

Unbefangen und ohne jede Ahnung, was auf ihn wartete, trat der graue Riese aus dem Dickicht hervor. Auf der Stelle wurde er mit Seilen und Lianen beworfen und mit den Flammen bedroht, die die Zweibeiner bei sich trugen. Die Spitzen ihrer langen Speere bohrten sich in die Haut des Elefanten und dann erkannte Shiva, wen ihre Herrscher da gefangen nahmen.

Nirriti, ihre alte Widersacherin.

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