Wandel
Kapitel 53 – Wandel
„Man kann also sagen, dass der Hafen bald fertiggestellt ist, oder?", fasste Hanji das zusammen, was in den letzten paar Stunden besprochen worden war, und wartete gar keine Antwort ab. „Das ist ja wunderbar! Damit ist ein großer Sprung geschafft. Es geht bergauf mit unserer Infrastruktur." Sie wandte sich an Motte. „Ich habe gehört, du hast mit ein paar der Freiwilligen ein Modell für eine Eisenbahn erstellt?"
Das Mädchen nickte. „Das kann euch einen besseren Eindruck geben als eine Skizze, schätze ich."
„Es sieht aus wie ein verdammtes Kinderspielzeug", brummte Levi verstimmt, der dabei gewesen war, als das Modell gebaut worden war, obwohl er nichts hatte beitragen können. Denn unbewaffnet hin oder her, nie im Leben hätte er Motte alleine mit den Freiwilligen gelassen.
„Tatsächlich hab ich früher mit einer Holzeisenbahn gespielt", gestand sie und schenkte ihm für seinen bissigen Tonfall einen grimmigen Blick. „Das macht richtig Spaß. Vielleicht solltest du es auch mal ausprobieren, könnte dir guttun." Levi schnaubte bloß, da wandte sie sich bereits wieder an Hanji. „Die Umsetzung ist meiner Meinung nach weiterhin das Problem."
„Dabei unterstützen wir euch natürlich auch", mischte Yelena sich ein und deutete auf Onyankopon und sich. „Ressourcen zu beschaffen, sollte kein Problem sein."
Motte lächelte dankbar, Hanji strahlte sogar vor Begeisterung, Levi jedoch blickte sie nur mit eiserner Miene an. „Wenn es soweit ist", sprach Yelena, „würde ich mich freuen, die Details mit dir weiter auszuarbeiten, Motte. Dein Wissen zu Schienen ist beeindruckend."
Sie hat auch stundenlang damit zugebracht, sich in ihrer Welt dazu zu belesen, wusste Levi, doch so sehr er wollte, dass Mottes Einsatz von anderen wertgeschätzt wurde, konnte er es nicht aussprechen. Sie wussten schließlich nicht um ihre Herkunft.
Die große, blonde Frau leerte ihre Teetasse und erhob sich. „Wenn ihr mich entschuldigen würdet... Es ist bald Mittag und ich habe Nicolo versprochen, ihm beim Kochen zu helfen. Habt ihr schonmal Meeresfrüchte probiert?" Das Lächeln auf ihren Lippen war wie immer sanft und doch erreichte es ihre stumpfen Augen nicht.
Levi schwieg, Motte nickte und Hanji sagte: „Nein." Yelenas Lächeln vertiefte sich ein wenig. „Dann könnt ihr auf etwas gespannt sein." Sie verließ das kleine Häuschen. Onyankopon entschuldigte sich ebenfalls und folgte ihr.
Motte und Hanji unterhielten sich nochmals über die aktuellen Pläne, blickten dabei auf Karten: Skizzen vom fertiggestellten Hafen, Karten von Paradis und Routen, die nach Marley führten.
Levi hörte ihnen nicht zu. Sein Blick blieb an der Tür hängen, durch die die beiden Freiwilligen soeben verschwunden waren. Er erinnerte sich noch gut daran, wie sie vor einigen Monaten zu ihnen gekommen waren und sich vorgestellt hatten. Kurz nachdem sie alle zum ersten Mal bis zum Meer vorgedrungen waren, hatten sie sich auf Besucher vorbereitet. Sie waren sich sicher gewesen, dass Marley bald Leute schicken würde – wenn nicht zum Angriff, dann zur Auskundschaft. Schließlich war bereits ein Jahr vergangen, seit sie gegen die Krieger von Marley in Shiganshina gekämpft hatten. Und sie hatten recht behalten: In jener Nacht war ein Aufklärungsschiff von Marley eingetroffen und während sich Levi und Hanji sicher gewesen waren, dass sie kämpfen werden würden, so hatte sich das Blatt zu ihren Gunsten gewendet. Auf diesem Schiff hatten sich Yelena, Onyankopon und weitere Anhänger der – wie sie es nannten – Anti-Marley-Befreiungsfront befunden, Leute, die sich gegen Marley stellten und somit bereit waren, sich mit den Eldia auf Paradis zu verbünden.
Es gab einen Plan, entworfen vom Befehlshaber der Befreiungsfront, Zeke Jäger. Anscheinend ließ er Marley im Glauben, für das Land zu arbeiten, während er in Wahrheit ein anderes Ziel verfolgte. Welches genau, wollte er allerdings nicht verraten. Er brauchte dafür den Gründertitanen und einen Titanen von königlichem Blut. Eren und Zeke.
Zunächst hatte das Militär es für eine lächerlich schlechte Falle gehalten, doch dann hatte Eren gestanden, in den Erinnerungen seines Vaters schon etwas Derartiges gesehen zu haben. Waren der Gründertitan und königliches Blut vereint, wurde gewaltige Macht entfesselt. Macht, die die Erinnerungen eines gesamten Volkes manipulieren konnte. Macht, die die Riesen aus den Mauern befreien und einen Kontinent niedertrampeln lassen konnte. Man nannte es das Grollen. Das momentan stärkste Ass im Ärmel, das sie gegen Marley besaßen.
Seit Yelena und Onyankopon angekommen waren, waren weitere Aufklärungsschiffe gefolgt. Keines war je wieder nach Marley zurückgekehrt. Sie ließen den Besatzungen die Wahl: Entweder sie kamen auf die Insel und schlossen sich ihnen an oder sie schwammen nach Hause. Seit einigen Monaten schon halfen die Freiwilligen – ein eigentlich sehr makabrer Name – unter Yelenas Leitung Paradis dabei, sich weiterzuentwickeln.
Die meisten von ihnen waren zögerlich, wurden schließlich gezwungen, hielten die Eldia immer noch für die Brut des Teufels. Einige aber schienen sie wirklich unterstützen zu wollen. Yelena zum Beispiel. Unwillkürlich verengten sich Levis Augen, als er an diese undurchschaubare Frau dachte. Er traute ihr immer noch nicht. Bis jetzt hatte sie ihnen keinerlei Anlass gegeben, Misstrauen zu erregen, aber er konnte nichts daran ändern. Sie bereitete ihm Unbehagen. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie Zeke vergötterte. Levi konnte nicht glauben, dass er auf ihrer Seite stehen sollte.
Er konnte im Allgemeinen viele Dinge nicht glauben, die zurzeit um sie herum geschahen. Und doch passierten sie und Levi musste sich ihnen anpassen.
Draußen schrie Sasha plötzlich begeistert auf, dass sie noch nie etwas derart Köstliches geschmeckt habe. Ein indirekter Aufruf zum Essen, dem Hanji gerne Folge leistete. Bevor sie ging, fragte sie ihn: „Willst du auch mitkommen? Du hast noch nie Früchte aus dem Meer gegessen!"
Während Motte lachen musste, erwiderte er nur abgeneigt: „Vielleicht komm ich später nach." Zusätzlich hob er ablehnend die Hand. Er hätte genauso gut Nein sagen können. Offensichtlich war Hanji zu hungrig, um zu diskutieren, denn sie zuckte bloß die Schultern und ging.
Halbherzig rollte er die Karten zusammen, dann verließen auch er und Motte das kleine Häuschen. Es war eigentlich eine Art Hütte, die nur ein Zimmer besaß. Sobald sie draußen waren, schlug ihnen die warme, salzige Luft des Meeres entgegen, während über ihnen die Möwen kreischten. Sie waren am fast fertiggestellten Hafen. Wo vor wenigen Monaten nur kantige Felsen ins Wasser geragt waren, gab es nun gepflasterten Boden und stabile Häuser.
Lärm wehte zu ihnen herüber und sie sahen die anderen nahe des Ufers. Yelena hatte sich eine Schürze übergezogen und assistierte Nicolo, dem Koch. Er gehörte ebenfalls zur ersten Aufklärungstruppe aus Marley, doch im Gegensatz zu Yelena leistete er seine Dienste nur bedingt freiwillig. Dennoch bemerkte Levi, wie er mit der Zeit ausgelassener wurde. Die beiden servierten gerade seiner Einheit das neuartige Mittagessen. Sasha und Connie waren Feuer und Flamme, Jean und Mikasa schienen eher skeptisch. Sie alle hatten offensichtlich eine gute Zeit.
„Ich seh gar kein Obst", murmelte Levi gedankenverloren bei sich.
Motte, die inzwischen entmanifestiert neben ihm schwebte, glotzte ihn verwundert an. „Wovon redest du?"
„Hat Yelena nicht irgendwas von Früchten gesagt?"
Da musste die Nervensäge laut auflachen und irgendwie tat es ihm gut, das zu hören. „Ich hab mich schon gewundert, was Hanji vorhin gemeint hat. Das heißt zwar Meeresfrüchte, aber das ist kein Obst. Es geht um Essen, das aus dem Meer stammt. Schalentiere. Sowas wie Hummer oder Krebs."
Levi kannte diese Tiere nicht, aber er hatte keine Lust, ihr das bewusst zu machen. Seine Laune, die sich kurzzeitig gehoben hatte, sackte wieder in den Keller. „Komm", verlangte er, wandte sich von der Gruppe ab und lief in die entgegengesetzte Richtung.
„Du solltest was essen", rief sie ihm hinterher und rührte sich nicht vom Fleck.
„Ich zeig dir, wie man richtig Tee kocht", brummte er bloß. Eigentlich erwartete er, dass sie ihn erinnern würde, wie oft er ihr die Prozedur der Teezubereitung bereits gezeigt hatte, doch sie meinte nur: „Ach so." Im nächsten Augenblick schwebte sie neben ihm.
Sie gingen in ein anderes Häuschen. Provisorisch gab es momentan mehrere von diesen, alle mit einem anderen Zweck. Dieses diente als Küche, doch da Nicolo und Yelena momentan draußen Essen servierten, war niemand hier drin. Gut, Levi hatte gerade keine Lust auf Menschen. Er begann sofort, sich die Sachen zusammenzusuchen, die er brauchte. Stumm arbeitete er vor sich hin und merkte, wie Motte um ihn herumflog und aufmerksam beobachtete. Während das Wasser erhitzt wurde, kamen einige Minuten, in denen Levi sich nicht beschäftigen konnte, und er starrte einfach auf die Kanne.
„Was ist los?", durchbrach Motte die Stille. Sie blickte ihn immer noch eindringlich an und erst jetzt begriff er, dass sie auf sein Gesicht und nicht auf seine Handlungen geachtet hatte.
„Was soll denn schon los sein?", entgegnete er schnaubend.
Unbeeindruckt erklärte sie: „Immer wenn's dir schlecht geht, kochst du Tee."
Missbilligend wandte er sich ab, fühlte sich dummerweise ertappt und meinte nur leise: „Ach ja?"
„Jap", bestätigte sie und flog über die Arbeitsplatte, auf der das Wasser allmählich wärmer wurde. Unentschlossen, welche Position am gemütlichsten für sie war, drehte und eierte sie umher. „Deine Laune ist schon eine ganze Weile eher mies, diese Woche schlimmer als sonst." Sie entschied sich, entmanifestiert auf der Tischplatte ihren Platz zu finden und die Beine anzuziehen, sodass sie ihre Arme drumherum schlingen konnte.
„Kann sein", erwiderte er bloß und stierte wieder zur Kanne.
Sie seufzte und drängte nicht weiter. Nach einigen weiteren Momenten der Stille, hob sie erneut die Stimme: „Ich weiß echt nicht, woran es liegt. Die meisten Freiwilligen find ich inzwischen sehr nett, aber Yelena ist und bleibt einfach gruselig. Die Art, wie sie spricht, als ob sie uns jeden Moment ein Messer in den Rücken stechen würde. Und dieses leise Lächeln...!" Sie schauderte. „War schon unheimlich genug, dass sie von mir wusste."
Da musste Levi innerlich schmunzeln. „Du musst diesen Affen ganz schön beeindruckt haben, dass er Marley von einem unberechenbaren Geistermädchen berichtet hat." Diese Beschreibung passte sogar wie die Faust aufs Auge, doch als Yelena nach ebenjenem Geistermädchen gefragt hatte, schien sie auf der Hut gewesen zu sein, als würde es sich hierbei um eine große Gefahr handeln. Hanji hatte für Levi gleich mit laut aufgelacht. Bei dem Gedanken an Yelena, wurde sein Tonfall gleich wieder grollender. „Du solltest dich nicht nur vor dieser großen Frau hüten", gab er von sich. „Sie alle sind vom Kontinent. Wer weiß, ob sie uns nicht gerade heimlich infiltrieren."
„Weiß nicht...", murmelte sie nachdenklich. „Onyankopon ist immer so fröhlich und Nicolo kocht echt, echt gut!"
„Du hattest eine Woche Bauchschmerzen", erinnerte er sie mit hochgezogenen Brauen.
„Das lag aber nur daran, dass ich das Essen von hier einfach nicht vertrage!", protestierte sie jammernd. Dann wurde sie wieder etwas ruhiger und biss sich auf die Unterlippe. „Aber ich verstehe dich. Es ist fast zu schön, um wahr zu sein! Genau dann, wenn wir Unterstützung brauchen, um uns gegen das zu wappnen, was noch kommt, erscheinen sie. Einfach über Nacht."
In jener Nacht, in der Yelena und die anderen nach Paradis kamen, war Motte wach gewesen. Erst am nächsten Morgen war sie aufgetaucht, hatte das ganze Treiben mitbekommen und verwundert wissen wollen, was denn passiert sei. Levi, der zu diesem Zeitpunkt die Besucher und ihr Angebot noch heftig verdaut hatte, hatte nur eine knappe Zusammenfassung rausbringen können: „Wir haben neue Freunde."
Levis Blick verfinsterte sich. „Was mir mehr Unbehagen bereitet, ist einem Plan zuzustimmen, den wir gar nicht kennen."
„Das stimmt", nuschelte sie, da sie jetzt ihre Wange auf ihrem Knie abgelegt hatte. Dann aber wanderte ihr Blick zu ihm und in ihren Augen blitzte Belustigung. „Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob dich mehr der Mann stört, der den Plan aufgestellt hat."
Verärgert schnalzte er mit der Zunge. „Natürlich stört mich dieser Scheißaffe! Nach allem, was er hier angerichtet hat, hilft er uns jetzt?! Er kommt nicht einmal selbst her, sondern schickt seine Handlanger! Und seinen Plan will er uns auch nicht verraten! Nur ein Vollidiot geht mit so jemanden eine Allianz ein!" Das Wasser begann zu brodeln und er nahm die Kanne vom kleinen Feuer. Den Tee goss er in zwei Tassen. Dann nahm er sich eine und setzte sich an den Tisch. Den Stuhl drehte er so, dass er Motte zugewandt saß.
„Ein Vollidiot", stimmte sie ruhig zu und griff die andere Tasse, „oder jemand, der keine andere Möglichkeit hat."
Daraufhin schwiegen sie beide. Sie wussten, dass es stimmte; dass sie, die Menschen von Paradis, verzweifelt waren. Vor noch einem Jahr hatten sie noch nicht einmal gewusst, was eine Insel war, und jetzt mussten sie sich gegen einen Feind verteidigen können, der so viel fortschrittlicher war als sie.
Das Holz knarzte leise, als Motte sich manifestierte, um ihren Tee trinken zu können. Sie pustete und die Dampfwolken, die von ihrer Tasse emporstiegen, verwirbelten sich. „Irgendwie ist das alles so... kompliziert geworden", murmelte sie gedankenverloren und sprach damit das aus, was Levi beschäftigte, seit... Ja, eigentlich, seit sie in diesen Keller gegangen waren. „Ganz am Anfang, da war noch alles so klar: Es gab Menschen in den Mauern und Riesen außerhalb der Mauern. Die Riesen wollen die Menschen fressen, deswegen stellen sie eine Gefahr da. Ganz einfach. Da ist mein Hereinpurzeln in diese Welt noch die größte Verwirrung gewesen."
„ Na ja", warf Levi ein. „Als du hier aufgetaucht bist, kam auch gleichzeitig Eren, der sich in einen Riesen verwandeln konnte. Das war auch nicht gerade gewöhnlich."
„Schon", seufzte sie, „aber das Ziel war trotzdem klar. Die Seiten standen eindeutig fest. Menschen, gut. Riesen, böse. Basta. Dann kam raus, dass Riesen eigentlich Menschen sind, die von anderen Menschen zu diesen Monstern gemacht worden sind. Gut, dann gab es halt neue Grenzen: Paradis, gut. Marley, böse. Und dann kam diese Befreiungsfront..." Mit einer halbherzigen Armbewegung wedelte sie zur Tür. „... die teilweise auch aus Marley stammt und jetzt ist alles komisch. Es gibt Leute auf Marley, die gegen uns sind, und es gibt Leute auf Marley, die für uns sind. Und irgendwie müssen wir uns auf einen Krieg vorbereiten, obwohl wir eigentlich gar nichts gemacht haben." Sie nahm einen Schluck und verbrannte sich die Zunge.
Ihre Flüche ignorierend, meinte Levi: „Nicht alle Menschen auf Paradis sind oder waren gut. Hier war schon kein Friede, Freude, Eierkuchen, bevor wir von Marley wussten." Er erinnerte sich an seine Zeit im Untergrund, an die Zentralbrigade, an Kenny. „Menschen... sind nun mal Menschen."
„Da hast du wohl recht", erwiderte sie mit hängenden Mundwinkeln und unterbrach somit kurzzeitig ihre wilde Pusterei. „Scheiße, Mann, das Ganze war eine Serie, um sich vom Alltag abzulenken und jetzt ist das alles so... so!" Frustriert gab sie auf, ihren Tee zeitig zu kühlen, stellte ihn ab und massierte sich stattdessen die Schläfen.
Für einen Moment beobachtete Levi sie und dachte darüber nach, wie sie in den letzten Monaten agiert hatte. Es war nicht das erste Mal, dass die beiden ein Gespräch darüber führten, wie schwierig es für sie war, diese neuen Entwicklungen zu akzeptieren, doch er hatte den Eindruck, dass sie gut damit zurechtkam. Zumindest besser als er. Schnell hatte sie sich in ihre Rolle eingelebt, Paradis über Technologien aufzuklären, die es in Marley anscheinend gab. Und auch jetzt, wo die Freiwilligen da waren, setzte sie diese Konstrukte um. Sie sowie die anderen aus seiner Einheit waren noch jung. Sie kamen mit Veränderungen besser zurecht als er oder Hanji. Es war ermüdend.
„Ich mach mir Sorgen um Eren", gestand das Mädchen plötzlich und blickte gedankenverloren in den Tee. „Er ist so... so entschlossen. Nein, das ist nicht das richtige Wort. Er war schon immer entschlossen. Aber irgendwie... ist seine Zuversicht weg. Er wirkt so..." Sie hob die Tasse erneut und pustete nochmals. „So kalt."
Levi wusste nicht recht, was er darauf erwidern sollte. Seit sie am Meer angekommen waren, war er nicht mehr Rund um die Uhr mit Eren und den anderen beschäftigt, doch es stimmte, was Motte sagte. Erens Temperament... Es schien fast schon erloschen. „Das ist eine Phase", murmelte er und nahm einen Schluck. „Er ist sechzehn. Jungs in dem Alter..." Er ließ den Satz in der Luft hängen, unschlüssig, wie er ihn beenden sollte.
„Hm", machte sie nach einer Weile. „Vielleicht hast du recht."
Die Stimmung war drückend, aber Levi fühlte sich wieder ein Stück leichter. Nachdem er seine Tasse geleert hatte, schenkte er sich nach. Apropos, Jungs in diesem Alter... „Wie geht's Finn?", fragte er beiläufig, doch er beobachtete Mottes Reaktion genau.
Kaum merklich zuckte sie zusammen, beinahe verschluckte sie sich an ihrem Tee. „Gut, glaube ich. Geht schon", hustete sie und mied seinen Blick.
Misstrauisch verengte er die Augen. „Was ist los?"
„Nichts!", erwiderte sie empört. „Wieso soll was los sein?! Mit Finn ist alles gut, richtig prima. Jetzt lass uns über was anderes reden." Nervös spielte sie mit den Enden ihrer Ärmel und sie trank eilig, nur damit sie beschäftigt war.
„Du bist immer noch eine grottenschlechte Lügnerin", seufzte er.
„Selbst wenn, er kann dir doch echt egal sein", brummte sie.
„Ich wünschte, es wäre so", erwiderte er ohne Umfangen, „aber er ist dein Freund. Also ist es nicht egal." Sie druckste immer noch rum und ihm kam ein böser Gedanke. Energisch stellte er seine Tasse ab und knurrte: „Hat er dir irgendwas angetan?! Denn ich schwöre, wenn er...!"
„Nein!", unterbrach sie ihn schnell. „Nein, er hat mir nichts getan, was ich nicht wollte. Hat mich auch zu nichts gedrängt, wirklich!" Sie sah, wie er immer noch nicht überzeugt war und sie mit verengten Augen eindringlich musterte. Auf einmal blinzelte sie erstaunt. „Was würdest du denn machen, wenn er was angestellt hätte? Oder besser gesagt, wie willst du irgendetwas machen?"
„Ich finde schon einen Weg", versprach er grimmig und ließ vermutlich ein kleines bisschen zu viel Hoffnung durchsickern. Er musste gestehen, dass er von Anfang an nicht viel davon gehalten hatte, als Motte vor einigen Wochen zum ersten Mal erzählt hatte, nun in einer Beziehung zu sein. Seine Missbilligung versteckte er nicht, aber gleichzeitig wollte er keine Widerworte geben. Sie sollte ihr anderes Leben schließlich auch führen können.
Allerdings...
Sich dieses tollpatschige, kindische Mädchen mit einem festen Freund festzustellen, löste in ihm unweigerlich alle Beschützerinstinkte gleichzeitig aus. Öfters als er es zugeben würde, dachte er, dass dieser Finn sich glücklich schätzen konnte, nicht in derselben Welt wie Levi zu leben. Und Motte sah das genauso; sie hatte es sogar zugegeben.
„Er hat wirklich nichts gemacht", betonte sie erneut und spielte wieder mit ihren Fingern herum. „Ich glaube nur, dass wir beide... Keine Ahnung. Ich weiß nicht, wie das weitergehen soll. Irgendwie seh ich keine Zukunft für uns."
Levi, nun wieder etwas beruhigter, wartete weiter ab. „Ich glaube", sprach sie unaufgefordert, „ich bin gar nicht so sehr an ihm interessiert. Oder ich bin noch nicht bereit. Irgendwie sowas." Sie seufzte erneut, frustriert darüber, dass sie ihre eigenen Gefühle nicht verstand. „Weißt du, wir haben neulich über Lieblingsserien geredet und ausgemacht, dass wir sie uns gegenseitig zeigen werden. Und ich Dummkopf hab halt Attack on Titan genannt, eure Geschichte, diese Welt. Wir haben angefangen ein paar Folgen zu gucken und ich hab fast gekotzt. Oder geheult. Wahrscheinlich hätte ich beides gemacht. Er hat gemeint, er fand die Folgen ganz nett, weiß aber noch nicht, ob er weiterschauen möchte. Er ist gegangen und dann hab ich wirklich geheult." Die Worte trieben ihr Tränen in die Augen und sie biss sich auf die Unterlippe. „Mir ist bewusst geworden, dass ich ihm nicht von hier erzählen kann. Dass er das unmöglich verstehen wird. Und falls wir es ernst meinen, muss ich es ihm früher oder später sagen, oder? Aber für ihn ist das eine Serie, für ihn ist das ganz nett, mehr nicht! Ich... Ich kann das nicht."
So sehr es Levi erleichterte, sie in diesem Thema zweifeln zu sehen, so überwog deutlich der Teil, der sich wünschte, ihr würde es besser gehen; sie wäre glücklicher. „Du hast es Sofia sagen können", warf er mit ruhiger Stimme ein, der sich daran erinnerte, wie Motte vor ein paar Wochen erzählt hatte, dass sie ihrer Nachbarin und Freundin ihr größtes Geheimnis gestanden hatte. „Du wirst es Finn sicherlich auch sagen können. Wenn die Zeit reif ist."
Sie verdrehte die Augen. „Ich war zu betrunken auf Sofias Geburtstag, das war ein Versehen. Und vielleicht hätte ich es geschafft, es letztendlich als dumme Geschichte verkaufen zu können. Doch ein Teil von mir ist so froh gewesen, es jemanden aus meiner Welt zu erzählen. Sie glaubt mir zwar, aber sie findet das alles immer noch verrückt. Und mich glaube ich auch. Sie meint immer noch, dass ich es meiner Mum sagen sollte."
„Bereust du's, dass sie's weiß?", fragte Levi, obwohl er die Antwort schon kannte.
Sie ließ ein Bein herunterhängen, das andere nutzte sie als Stütze für ihre Wange. „Nein", antwortete sie ehrlich. „Es tut mir gut, mit jemanden hierüber reden zu können, der nicht... Keine Ahnung, Menschen umgebracht hat oder so." Er wusste nicht, ob er es sich einbildete, aber er meinte einen Hauch Vorwurf in ihrer Stimme herauszuhören. Er fand, den sollte sie niemals verlieren. „Sie findet es gut, dass ich zu unserem Schulpsychologen gehe, auch wenn es nichts bringt. Sie versucht auch, Leute zu finden, denen es so geht wie mir. Hat sich in sozialen Medien einen Decknamen gegeben und sucht in dubiosen Foren nach Menschen, die nachts in eine andere Welt wechseln. Nun..." Verbittert lachte sie auf. „... Es gibt Tausende, vielleicht sogar Millionen, die das behaupten, aber keinem geht es wie mir." Ihr Bein baumelte und malte Kreise in der Luft, während sie noch leise hinzufügte: „Sofia hilft mir schon wahnsinnig, indem sie es einfach versucht."
Eine Weile musterte Levi sie, wie sie gedankenverloren ins Nichts starrte. „Hast du Angst, dass Finn dich für verrückt hält?"
„Natürlich!", schnaubte sie. „Himmel, ich würde mich für verrückt halten, wenn ich's nicht erleben würde."
„Als du hergekommen bist, hab ich dir gesagt, dass du dich bedeckt halten sollst. Zur Sicherheit sollten so wenig Menschen wie möglich von dir erfahren. Hier kenne ich die Menschen. Bei dir nicht. Deswegen kann ich dir auch nichts konkret raten. Aber ich glaube..." Er blickte in seine halbleere Tasse, beobachtete, wie sich das Licht an der dunklen Oberfläche brach. „... dass sowieso nur du allein entscheiden kannst, was richtig ist. Für dich zumindest. Du musst wissen, ob du den Menschen um dich herum vertraust oder nicht."
Kurz herrschte Schweigen. Dann meinte sie nur, fast schon vorwurfsvoll: „Das hast du Eren auch gesagt."
„Ja, weil es stimmt", erwiderte er trotzig. „Ich sage solche Dinge aus einem guten Grund."
„Hm", nuschelte sie. „Ich muss da drüber nachdenken. Können wir nicht mehr darüber reden?"
„Von mir aus. Aber wenn er etwas gegen deinen Willen tut, dann...!"
„Ja, ja, Kapitän, verstanden!" Sie verdrehte die Augen, grinste aber. „Sollte es allerdings dazu führen, dass du auch einen Weg in meine Welt findest, dann ist es das vielleicht sogar wert."
Levi verengte die Augen. „Sag sowas nicht, auch nicht als Witz!" Ergebend hob sie die Arme, streckte ihm trotzdem die Zunge raus. Seine Haltung wurde ein wenig sanfter. „Lass mich noch eine Sache sagen: Diese Welt und alles, was hier passiert, sollte dich nicht daran hindern, dein anderes Leben führen zu können."
Resigniert zuckte sie die Schultern und sagte nichts mehr dazu. Stattdessen seufzte sie tief und verlor dabei jegliche Körperspannung, als würde sie alle ihre Sorgen und Probleme in diesen einen Atemzug stecken.
Dann richtete sie sich plötzlich wieder kerzengerade auf. „So! Neues Thema! Das wollte ich dir eigentlich schon die ganze Zeit über zeigen, aber seit ich heute hier bin, war immer noch jemand dabei. Guck mal, was ich hab machen lassen!" Sie streifte ihre Jacke ab und drehte sich mit dem Rücken zu Levi. Dann raffte sie hintenrum ihr Hemd hoch, bis nahezu ihr kompletter Rücken frei lag. „Ich hab Ewigkeiten gebraucht, bis meine Mum einverstanden war, weil ich das nicht ohne ihre Zustimmung machen lassen wollte. Aber weil ich bald siebzehn werde, hat sie's mir sogar bezahlt. Als frühzeitiges Geburtstagsgeschenk quasi." Mit einer Hand hielt sie das Hemd, mit der anderen strich sie ihre Haare, die in den letzten Monaten deutlich länger geworden waren, zur Seite.
Zwischen ihren Schulterblättern war etwas Dunkles. Er stand auf und trat näher heran, um es besser erkennen zu können. In schwarzer Tinte und nicht größer als sein Daumen prangten die Flügel der Freiheit. Er wusste, dass eigentlich alles, was nicht zu Mottes Körper gehörte, von ihrer Kleidung, über Zopfgummis zu einfachem Dreck, nichts mit in diese Welt herüberkam, deswegen erstaunte es ihn, dieses Zeichen zu sehen. „Was ist das?", fragte er verwundert.
„Ein Tattoo!", erklärte sie stolz. „Da wird Tinte mit einer Nadel in die Haut gestochen. Man kann sich allerlei Motive stechen lassen. Die bleiben ein Leben lang."
„Ein Leben lang...", wiederholte er murmelnd. „Das wird Teil des Körpers?"
„Genau!"
Das war faszinierend. „Kann ich's mal anfassen?"
„Klar", meinte sie und manifestierte einen Teil ihres Rückens.
Mit seinen Fingerspitzen strich er über das Symbol. Es war glatt, als wäre dort eigentlich gar nichts. Als wäre Mottes Haut an dieser Stelle einfach schwarz. Allerdings sah er, dass die Haut drumherum gerötet war. Sie hatte doch was von Nadeln gesagt, oder? Das musste wehtun. Der Gedanke, dass dieses Zeichen Motte für immer begleiten würde, löste in ihm gemischte Gefühle aus: Einerseits war er gerührt, da es bedeutete, dass sie diese Welt immer bei sich tragen wollte, auch wenn es hieß, dafür Schmerzen auf sich zu nehmen. Andererseits aber versetzte es ihm ein Stich ins Herz. Irgendwie gab es ihm das Gefühl, dass diese Welt ihr gesamtes Leben dominierte. Und das sollte eigentlich nicht so sein. Seine Kehle wurde plötzlich trocken und er musste schlucken. „Warum sollte man das machen?", wollte er wissen und zog seine Hand wieder zurück.
„Weil es cool ausschaut?!", entgegnete sie empört. Sie setzte ihr Oberteil wieder an Ort und Stelle und fuhr anschließend zu ihm herum, damit sie ihn auch noch angemessen anfunkeln konnte. „Manche lassen sich etwas aus Spaß an der Freude stechen, manche aber haben Motive, die ihnen wirklich etwas bedeuten. Und wenn etwas für immer ein Teil von mir sein wird, dann ja wohl das hier." Sie machte eine allumfassende Armbewegung.
Levi hatte ein schlechtes Gewissen und er konnte nicht genau sagen, weshalb. Ihm schossen Fragen durch den Kopf, die er sich schon lange nicht mehr gestellt hatte; Fragen, die bei den Ereignissen des letzten Jahres in den Hintergrund gerückt waren: Würde Motte wirklich für den Rest ihres Lebens herkommen, oder hörte das irgendwann mal, von heute auf morgen auf? War ihr Auftauchen in dieser Welt an ihn gebunden und wenn ja, endete es mit seinem Leben? Er sprach nichts von alledem aus, denn es war, wie sie gesagt hatte: Egal, was geschehen würde, die Erinnerungen, die sie hier gemacht hatte, waren nun ein Teil von ihr.
Verärgert zog sie die Augenbrauen zusammen, als sie sein Gesicht sah. „Du guckst schon wieder so!", meinte sie vorwurfsvoll.
„Ich guck wie immer!", blaffte er gereizt zurück.
Mit ernster Miene nickte sie. „Das ist vermutlich das Problem. Du schaust als wäre sieben Tage Regenwetter. Komm! Du lernst jetzt was Neues kennen!"
Er konnte nur sein Gesicht verziehen und erwidern: „Das will ich aber gar nicht." Die Nervensäge hatte sich bereits neben ihm manifestiert und schob ihn aus der Tür. Zugegebenermaßen wehrte er sich nicht großartig, sonst hätte sie keine Chance gehabt, dennoch war er nicht begeistert. „Was lerne ich denn kennen?"
Die strahlende Sonne blendete sie beide und sie brauchten einen Moment, bis sie sich an das Licht gewöhnten. „Meeresfrüchte", antwortete sie bloß und schob weiter.
„Sasha hat bestimmt schon alles aufgegessen", murmelte er.
„Hey!", rief Motte laut und lang, um die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zu lenken. Levi zuckte bei der plötzlichen Lautstärke innerlich zusammen. „Ist noch was zu essen da?"
Yelena, zusammen mit Nicolo von dampfenden Töpfen und Pfannen umringt, meinte mit erhobener Stimme: „Es ist genug für alle da!"
„Ihr solltet euch aber beeilen!", ergänzte Jean und deutete mit dem Daumen hinter sich, direkt auf Sasha und Connie. „Die zwei spachteln alles weg!"
„Alles klar!", machte Motte und formte mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis zum Zeichen, dass sie verstanden hatte. Zeitgleich brummte Levi, sodass nur sie es hörte: „Sie sollen essen, wenn sie Hunger haben."
Da er nun selber lief, ließ Motte vom Schieben ab, sodass sie nebeneinander schlendern konnten. Sie war gewachsen, hatte Levi aber noch nicht eingeholt. „Sasha hat immer Hunger", warf sie wahrheitsgetreu ein.
Er seufzte und wusste, dass jegliche Proteste sinnlos waren. „Und du glaubst, das schmeckt mir?"
„Um ehrlich zu sein", grinste sie frech. „Nein. Ich find's superekelig."
Levi konnte nur die Augen verdrehen, da schaufelte Nicolo bereits einen Teller für ihn voll. „Nächstes Mal kochst du den Tee", entschied er an Motte gewandt. „Mal schauen, wie gut du aufgepasst hast."
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