Traum

Kapitel 4 – Traum


„Hast du nicht gesagt, dass du jetzt mit mir redest?", kam es ungeduldig von dem Mädchen. Die gesamte Aufklärungslegion befand sich auf dem Rückweg. Auch wenn sie wegen eines Notfalls zurückkehren mussten, behielten sie ihre Formation bei. Riesen gab es immer und so gut wie überall. „Das war vor zehn Minuten, Nervensäge", erinnerte Levi sie. Sein Blick galt seinem Weg.

Sie ließ ein langes Seufzen von sich hören. „Ernsthaft?! Das hat sich mindestens wie eine halbe Stunde angefühlt!" Sie fing an, schnelle Kreise über ihm und sein Pferd zu ziehen. „Der Hinweg war viel schneller. Ihr seid so langsam!"

„Wir fliegen nicht", erwiderte der Schwarzhaarige schlicht. Aber im Punkt Geschwindigkeit musste er ihr zustimmen. Am liebsten würde er innerhalb eines Wimpernschlags in die Stadt sausen, um zu helfen. Soweit er das wusste, waren dort momentan bloß die Stadtwache und eine frisch ausgebildete Trainingseinheit.

„Trotzdem." Sie zog die Vokale besonders lang und ihre Kreise tiefer. Direkt auf Levis Augenhöhe. „Geh weg! Du versperrst mir die Sicht", teilte er ihr mit.

„Oh, sorry." Sie flog wieder höher und ließ das Kreisen. „Huch!" Ihr Blick eierte etwas umher und sie fiel zurück. „Mir ist ganz schwindelig." Sie war in der Luft stehengeblieben und bemerkte nicht, dass Levi ihr quasi davonritt.

Doch früher oder später tat sie es doch. „He, warte!" Sie schoss nach vorne und hatte ihn in wenigen Augenblicken wieder eingeholt. Danach flog sie einfach neben ihm her.

Einige Momente war es zwischen ihnen still. Levi hatte überlegt. Und er musste es noch ein wenig tun, um die nächsten Sätze zu formulieren: „Ich würde am liebsten nochmal fragen, wer oder was du bist." Das Mädchen sagte ausnahmsweise mal nichts, sondern flog einfach weiter. Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Doch es blieb ihr erspart. „Aber", ergänzte Levi, „du hast so darauf bestanden, dass ich dir glaube, dass du es schon viel früher gesagt hättest. Doch du hast es nicht." Sie schwieg weiterhin, aber dieses Mal, weil sie abwartete. „Du weißt es selber nicht." Es war eine Feststellung seinerseits, keine Frage.

Dass sie eine Weile brauchte, um zu antworten, bewies ihm seine Aussage. „Nein, ich weiß es nicht", gestand sie schließlich. „Das heißt, ich weiß sehr wohl, wer ich bin. Aber was ich bin, ist mir ein Rätsel." Nun war es Levi, der abwartend schwieg. „Ich weiß auch nicht, was ich hier mache..." Er schielte zu ihr rüber und sah dabei, dass sie nach vorne blickte, doch sie wirkte nicht ganz da. Geistesabwesend rieb sie abwechselnd ihre Handgelenke. Wenn er genauer hinschaute, entdeckte er die sachten, rötlichen Abdrücke, die sich um ihre Gelenke zog. Sie hatten grob die Form seiner Hände. So fest hatte er gar nicht zupacken wollen.

Sie fing an, schneller die Hand zu wechseln und wirkte so etwas angespannt. „Ich..." Sie schloss die Augen und atmete einmal tief aus und ein. Sie blickte wieder geradeaus und platzierte ihre Arme nun neben ihrem horizontal fliegenden Körper. „Ich sag dir, was ich weiß, aber es kann sein, dass du mir nicht glaubst." Das überraschte ihn gar nicht. „Gut", fing sie an. „Letzte Nacht bin ich wie jeden Tag auch ins Bett gegangen und eingeschlafen. Als ich aufgewacht bin, war ich... hier. Also, in Trost. Und ich hatte die Rekrutenuniform an." Eher beiläufig wies mit ihrer Hand ihren Körper entlang nach unten. „Keiner konnte mich sehen oder hören. Allerdings hat jemand zu seinen Freunden gesagt, dass es kalt sei, als ich ihn aus Versehen berührt habe. War es das für dich eigentlich auch?" Sie blickte ihn fragend an. Er nickte und sie redete weiter: „Der Kolossale Riese ist aufgetaucht und ich hab versucht, ihn davon abzuhalten, die Mauer einzureißen..."

„Moment", unterbrach Levi sie. „Es war der Kolossale Riese, mit dem du gesprochen hast?!" Jetzt war er wirklich erstaunt.

Sie nickte. „Ja, aber er hat mich erst gehört, als er das Tor längst zerstört hat. Jedenfalls bin ich danach die ganze Zeit durch Trost geflogen und hab immer wieder versucht, mit Menschen zu reden und ihnen zusagen, was sie tun sollen, weil sonst dies und jenes passiert. Es hat nicht mehr geklappt." Sie wirkte geknickt. „Alle, die sterben sollten, sind gestorben. Alles ist so, wie ich es bereits wusste. Ich hatte es schon gesehen, doch das nochmal vor den eigenen Augen vorgeführt zu kriegen ist ganz anders... Irgendwann ist mir eingefallen, dass es euch noch gibt, und bin los, um euch zu suchen."

„Was meinst du mit", fragte Levi nach, „du... wusstest das alles?"

„Ich... äh..." Sie wirkte wieder etwas nervös. „Ich... bin nicht... von hier. Ich komme von weit weg..." Er wartete ab, ritt und hielt seinen Blick nach vorne gerichtet. „Ich... bin aus einer... hm..." Sie strich sich nervös durch ihren Pony. „... anderen Welt."

„Was?!" Levi blickte sie mit vor Erstaunen geweiteten Augen an. Er hatte mit Vielem gerechnet, aber nicht damit.

Angespannt spielte sie mit ihren Ärmeln rum. „Ich hab doch gesagt, dass es sein kann, dass du mir nicht glaubst...", murmelte sie. Sie biss auf ihre Unterlippe und blickte auf ihre auf Brusthöhe gehobenen Hände, deren Finger mit dem Saum der Ärmel fummelte.

Er beobachtete sie ein paar Sekunden dabei. Es war wirklich schwer zu glauben. Aber er wollte ihr eine Chance geben. Sein Blick bewegte sich wieder nach vorne. „Sprich weiter. Danach entscheide ich, ob ich dir glaube." Er war gespannt, was er zu hören bekam.

Sie war erstaunt und unterbrach ihr Fingerspiel. „Ich... äh..." Sie räusperte sich, nahm eine geradere Haltung ein und blickte ebenfalls wieder nach vorne. „Ja, ich komme aus einer anderen Welt. Diese Welt ist anders als die hier. Es gibt keine Mauern und keine Riesen. Menschen, Tiere und Pflanzen sind dort die einzigen Lebewesen. Dementsprechend gibt es bei uns viel mehr Menschen als hier. Auch sind wir – Sorry, das klingt jetzt überheblich – fortgeschrittener. Und dort gibt es etwas, das wir Anime nennen. Ähm... Das ist schwer zu erklären. Öhm... Im Prinzip seid ihr dort eine Geschichte."

„Wie?", fragte Levi nach. Er begriff nicht ganz.

„Ihr seid eine Geschichte", wiederholte sie. „Bei uns gucken euch Menschen dabei zu, wie ihr die Riesen bekämpft und euer Überleben sichert." Sie fing an, mit ihren Fingern eine Art Rechteck zu formen. „Weißt du, wir haben da sowas, es heißt Laptop. Da kann man auf bestimmten Seiten..."

„Warte", stoppte er sie. Es schwang Härte in seiner Stimme mit. „Du meinst, die Menschen bei euch sehen zu, wie wir Tag für Tag kämpfen, Leute sterben und die Riesen uns nach und nach zurückdrängen... und das alles zu ihrer Unterhaltung?!" Äußerlich blieb er ruhig, aber er war wirklich sauer. Wie konnte so etwas Menschen erfreuen?!

„Nein... äh..." Das Mädchen wusste nicht genau, was sie daraufhin erwidern sollte. „Das siehst du falsch! Ich... äh... Wir..." Sie stoppte, um den Satz erst mal in Gedanken zu formen. Levi beobachtete sie scharf abwartend. „Wir", begann sie schließlich, „sind für euch, für die Menschen! Wir trauern bei jedem Tod eines Unschuldigen. Wir feiern jeden Sieg mit. Wir sind begeistert, wenn Riesen sterben, je cooler die Art, desto besser. Wir erfreuen uns an den Chaoten, die die Welt etwas lustiger gestalten. Deswegen ist das für uns Unterhaltung. Und es ist ja nicht so, als wärt ihr die einzige Geschichte. Es gibt unzählige, die die wir schauen oder lesen. Euch kennen Viele, aber noch lange nicht alle Menschen." Levi sagte nichts. „Außerdem", ergänzte sie noch, „ist es für uns nicht so schlimm. Für uns ist das hier nur eine Geschichte, nichts weiter. Eine Welt, die sich jemand ausgedacht hat und Andere daran teilhaben lässt."

Automatisch packte Levi die Zügel etwas fester. „Das ist die beschissene Realität!", wollte er ihr klar machen.

Aber sie ließ sich nicht beirren. „Für dich vielleicht", erwiderte das Mädchen ruhig. „Für alle hier. Aber nicht für mich. Ich..." Er sah, dass sie etwas traurig schien „... träume."

„Du scheinst darüber nicht begeistert zu sein", stellte er wieder mit sanfterer Stimme fest. Es war zwar keine Frage, aber man hörte an seinem Ton, dass sie darauf etwas erwidern sollte. Sie zögerte etwas. „Äh... Nun ja... Ich, ähm..." Ein wenig betreten blickte sie zu Boden. „Ich bin gerne hier."

Aus dem Augenwinkel beobachtete er sie: „Du hast in der Stadt viele Menschen sterben sehen und gerade eben den Soldaten. Es hat dich geschockt. Das kannst du nicht leugnen. Wieso magst du es hier?" Es war eine ehrliche Frage.

„Hm..." Sie musste überlegen. „So genau weiß ich das auch nicht... Vermutlich... weil... Keine Ahnung... Für mich ist es eine Fantasiewelt. Eine Welt, die es nicht gibt. In die man eintauchen und jemand ganz anderes sein kann. Hier herrscht zwar Schrecken, aber hier gibt es auch Menschen, die Mut beweisen und für die Menschheit kämpfen." Sie warf einen kurzen Blick auf Levi, der das ignorierte. Während er zuhörte, schaute er geradeaus. „Sie sind bewundernswert", schloss sie.

Ihm blieben noch zwei Fragen. „Warum kann nur ich dich sehen und hören?", wollte er wissen.

„Keine Ahnung", kam es ehrlich von ihr. „Du bist nicht einmal die Hauptperson der Geschichte."

„Das ist meiner Meinung nach irrelevant", kam es prompt von ihm. „Ich bin, wie jeder andere Mensch auch, die Hauptperson meines Lebens und das reicht." Er spürte ihren bewundernden Blick auf ihm. Er beachtete es nicht weiter und ritt einfach weiter. „Eins noch", meinte er und sie merkte abwartend auf. „Wenn das hier alles in deiner Welt wirklich eine Geschichte ist, weißt du dann auch, wie alles... endet?"

„Nein", antwortete sie. Dieses kurze Wort überraschte ihn. „Ich hab keine Ahnung, wie alles hier enden wird", ergänzte sie noch. „Die Geschichte ist noch nicht vorbei. Ab einem gewissen Zeitpunkt, wird also auch für mich alles neu sein."

„Wann ist dieser Punkt?", fragte er nach. Sie überlegte kurz. „In ein oder zwei Monaten."

Dann fiel Levi tatsächlich noch etwas ein, was er wissen wollte. „Sagst du, was passiert?"

Das Mädchen blieb still, dachte nach. Es verstrichen wirklich mehrere Minuten, bis sie ihren Gedankengang beendet hatte. „Ich weiß es nicht", gab sie zu. „Ich hab keine Ahnung, wie das hier endet, aber falls die Menschheit eigentlich siegen sollte und ich so weit eingegriffen habe, dass am Ende das Gegenteil geschieht, will ich dafür nicht verantwortlich sein."

„Wenn du träumst, kommst du sowieso früher oder später hier weg. Was hat das für eine Bedeutung für dich?", konterte Levi ruhig.

„Das Schuldgefühl wäre zu groß", antwortete sie schlicht.

Er schwieg und ritt. Sie sagte ebenfalls nichts mehr. Das war gut für ihn. Er musste in Ruhe nachdenken. Vermutlich wusste sie das.

Eine andere Welt also..., überlegte er. Eine Welt, in der der Kampf gegen die Riesen zur Unterhaltung diente. Eine Welt ohne Riesen, ohne Mauern... Er verstand nicht, wieso das Mädchen gerne hier war. Er betrachtete sie aus dem Augenwinkel. Sie flog neben ihm, der Blick war nach vorne gerichtet. Wenn er so genauer darüber nachdachte, konnte er sie ein kleinwenig verstehen. Das wunderbare Gefühl, Neues zu sehen ohne sich zuvor bewusst gewesen zu sein, es gebraucht zu haben, war unbeschreiblich. Leise seufzte er. Gut, das Thema ließ er sein.

„Hey! Da vorne ist die Mauer!", rief das Mädchen begeistert aus. Levi blickte auf. Schon? Tatsächlich war in einigen Kilometern Entfernung ein schmaler Strich am Horizont zu erkennen. Die Mauer. Die Sonne ging allmählich unter. Er hatte gar nicht bemerkt, wie viel Zeit insgesamt verstrichen war. „Mussten wir gar keinen Riesen ausweichen?", fragte er mehr sich selber, doch sie antwortete ihm trotzdem. „Doch, drei Stück!" Er musste ja richtig vertieft gewesen sein... „Hast du das gar nicht mitgekriegt?" Sie hielt sich den Bauch und lachte.

Die Nervensäge... Sie träumte also. Sie wusste, was in den nächsten zwei Monaten geschehen würde, kannte bereits Geheimnisse, die noch entdeckt werden mussten. Bewiesen hatte sie es bereits. Es ist schwer zu begreifen, gestand Levi sich ein, ]aber ich glaube ihr. Er blickte sie an, ohne dass sie es bemerkte.

„Übrigens", meinte sie auf einmal, „solltet ihr über die Mauer in die Stadt klettern."

Überrascht merkte er auf. „Wieso denn?"

„Anders kommt ihr nicht rein", erklärte sie und schaute ihn unschuldig an.

„Ich dachte, das Tor ist zerstört worden!", erinnerte er sie und hob seine Stimme ein wenig. „Kein Grund, mich anzuschreien!", verteidigte sie sich und hob automatisch abwehrend die Hände. Schreien war in diesem Fall wirklich totale Übertreibung. Sie flog seitwärts. „Ihr könnt halt nicht durch. Freu dich lieber!"

Er zog seine Augenbrauen etwas tiefer. Er mochte diese Anspielungen nicht. „Warum sollte ich mich...?"

„Sag mal, Levi, mit wem redest du da eigentlich die ganze Zeit?" Er wandte seinen Kopf zur anderen Seite und sah in Hanjis fragende Augen. „Was ist?"

„Nachdem wir aufgebrochen sind und jetzt gerade auch", erklärte sie, „höre ich, wie du redest und redest und niemand ist da." Levi sagte nichts, sondern wartete darauf, dass seine Nebenfrau endlich fertig sprach. „Du Freak, führst doch nicht wirklich Selbstgespräche?!", endete sie belustigt fragend.

„Klappe, Vierauge", wandte er sich lustlos ab. „Also", wollte er die Nervensäge fragen. „Was ist am To-...?" Seine Augen weiteten sich ein wenig erstaunt.

Das Mädchen war weg.

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