Rollenverteilung

Intermedium – Tag 32


Motte riss erschrocken die Augen auf, als sie spürte, wie sanft an ihrem Körper gerüttelt wurde. Sie brauchte einige Sekunden, um sich zu orientieren. Vor wenigen Momenten hatte sie noch Levis blasses Gesicht vor sich gesehen, mit seinen grauen Augen und dem nüchternen Blick, der kälter schien als sonst.

Nun blickte sie in das müde, aber lächelnde Antlitz ihrer Mutter. „Aufwachen, Schatz. Du musst in die Schule."

Schule.

Sie musste in die Schule.

Vor wenigen Wochen noch war es so ziemlich der ätzendste Ort gewesen, den sie sich hätte vorstellen können. Heute hatte sie Menschen sterben sehen. Gute Menschen. Menschen, die sie lieben gelernt hatte. Binnen eines Wimpernschlags hatten sie aufgehört zu atmen.

Motte sah sie bildlich vor sich, die leeren Augen und verdrehten Körper von Petra, Auruo, Eldo, Günther und all den anderen Soldaten. Das viele Blut und dessen Gestank. Die furchteinflößenden Fratzen der Riesen.

Levis wutverzerrtes Gesicht, als er sie anschrie und für den Tod ihrer Freunde verantwortlich machte. Seine Stimme hallte immer noch durch ihren Kopf.

Ihre Mutter in ihrer Welt zu sehen, war das, was Motte gerade am meisten brauchte. Die Ereignisse der letzten Stunden waren einfach zu viel gewesen. Bevor sie sich zurückhalten konnte, brach sie in Tränen aus.

Ihre Mutter nahm sie in den Arm, fragte sie, was los sei, ob sie schlecht geträumt habe, aber Motte brachte kein Wort heraus. Irgendwann schien die Mutter festzustellen, dass ein schlimmer Traum für so einen Zustand nicht ausreichte. Ohne eine Erklärung von ihrer Tochter zu erhalten, rief sie bei der Schule an, um Motte für heute vom Unterricht zu befreien.

Schule.

Als ob es keine größeren Probleme gäbe.

Selbst nachdem sie sich beruhigt hatte, sprach sie immer noch kein Wort. Ihre Mutter drückte ihr einen Kuss auf den Kopf, ehe sie zur Arbeit aufbrach.

Motte saß noch minutenlang im Bett und wusste nicht, was sie denken sollte.

Schließlich entschied sie, sich wieder schlafen zu legen, um zurückzukehren in die Welt der Monster.



Kapitel 45 – Rollenverteilung


Keith Shadis hatte Grisha Jäger außerhalb der Mauer Maria gefunden. Er war verwirrt gewesen und hatte alles vergessen außer seinen Namen und seinen Beruf als Arzt. Als Soldat hatte Shadis etwas bewirken wollen, doch selbst nachdem er zum Kommandant ernannt worden war, hatte er nichts erreicht. Währenddessen hatte Grisha Jäger geglänzt: Durch seine Tätigkeit als fähiger Arzt war er sehr beliebt gewesen und hatte schließlich die Frau namens Carla geheiratet, die ihnen immer die Getränke in der Kneipe ausgeschenkt hatte. Ab und zu hatte Shadis einen Blick in das Leben der Jägers erhaschen können; nach einer weiteren missglückten Mission außerhalb der Mauern hatte er seit langem Carla wiedergesehen. Sie hatte ihren kleinen Sohn auf ihren Armen gehabt. Und als Jahre später – Shadis hatte bereits seine Position als Kommandant an Erwin abgegeben – Mauer Maria gefallen war, war er in Trost auf Grisha getroffen. Wenige Tage später waren auch sein Sohn und dessen Freunde als Flüchtlinge in die Stadt gekommen.

Shadis hatte mitbekommen, wie Grisha eines Nachts Eren geweckt hatte, um ihn in den Wald zu bringen. Der ehemalige Kommandant hatte ihn aufhalten wollen. Obwohl aufhalten nicht das richtige Wort war; er hatte Zweifel sähen wollen. Lange hatte ihn der Gedanke geplagt, dass seine Unfähigkeit als Soldat, gar als Mensch, daraus herrührte, dass er niemand Besonderes war. Ihm war klar, dass es besondere Menschen gab – bei den Soldaten, die jünger waren als er selbst, fanden sich einige – er jedoch gehörte schlichteinfach nicht dazu. „Was ist", hatte er Grisha, der den verschlafenen Eren an der Hand gehalten, in jener Nacht gefragt, „wenn der Junge auch niemand Besonderes ist?"

„Er ist nicht wie du", hatte Grisha erbarmungslos geantwortet. „Schließlich ist er mein Sohn." Dann waren die beide im Wald verschwunden.

Nachdem Shadis Stunden später einen Blitz hatte aufleuchten sehen, war er nachschauen gegangen. Er hatte den bewusstlosen Eren gefunden und zu seinen Freunden zurückgebracht. Grisha hatte seitdem niemand mehr gesehen.

Keith Shadis selbst, der ehemalige Kommandant der Aufklärungslegion, der heutzutage die neuen Kadetten ausbildete, hatte ihnen all das erzählt. Dies war die Geschichte, die der Menschheit nutzlos ist, um es in seinen Worten auszudrücken.

Schon seit Wochen hatte Eren darüber gegrübelt, wer der Mann gewesen war, den er in den Kristallhöhlen in den Erinnerungen seines Vaters gesehen hatte. Der Mann, der Grisha Jäger wohl als letztes gesehen hatte. Gestern Abend war es dem Jungen eingefallen. Deswegen hatten Levi und seine Einheit zusammen mit Hanji Erwins Vorgänger aufgesucht. Nachdem sie sich begrüßt und Motte sich vorgestellt hatte, hatte Shadis sie zu einem Tee eingeladen und mit seiner Erzählung begonnen.

„Jetzt kennen wir den wahren Grund, warum Sie zurückgetreten sind", sprach Hanji, nachdem er geendet hatte. „Nicht um für die Soldaten zu büßen, die unter Ihrem Kommando gestorben sind, sondern weil Sie realisiert haben, dass Sie nie etwas Besonderes gewesen sind." Im Unterton konnte Levi ein leichtes Zischen vernehmen. „Das ist der kindische Grund, weswegen Sie heute hier sind."

„Das reicht, Hanji", wollte Levi sie stoppen. Denn die Wahrheit war, dass ihm dieser Gedankengang bekannt vorkam. So wie seine Freunde Erens Benehmen in letzter Zeit beschrieben hatten, dürfte es dem Jungen momentan ebenso ergehen. Sogar Motte ließ manchmal Ähnliches verlauten. Sie saß Levi schräg gegenüber und starrte angestrengt auf ihre unberührte Teetasse.

Identitätskrisen. Lag vermutlich am Alter. Shadis fiel dabei jedoch aus dem Muster.

„Scheißen Sie doch auf ihren Minderwertigkeitskomplex", fuhr Hanji ungerührt fort. „Rennen Sie nicht vor der Realität davon. Ist es nicht das, worum es beim Opfer unserer Herzen geht?!"

„Bitte hören Sie auf, Hanji", bat Eren leise. „Der Kommandant hat recht. Ich bin nie besonders gewesen. Allerdings bin ich der Sohn eines besonderen Mannes. Mehr ist es nicht."

Es herrschte Schweigen im Raum, bis Shadis sie durchbrach: „Deine Mutter... Sie hat gesagt..."

Sie hatte gesagt, dass Eren niemand Besonderes sein müsse. Er müsse nicht besser sein als irgendjemand. Er sei bereits besonders.

„Schließlich ist er in diese Welt geboren worden."


Hastig riss Levi die Schublade seines Schreibtisches auf. Am liebsten hätte er das Kästchen einfach reingepfiffen und das Fach wieder zugeknallt, aber ihr Inhalt war zu kostbar. Außerdem erblickte er in der Schublade die Blume, die ihm vor zwei Tagen geschenkt worden war. Er hatte ihre Existenz schon wieder vergessen. Die Blüten verwelkten bereits und das Grün der Blätter war einem gräulichen Ton gewichen. Er wusste nicht, wieso, aber ihr Anblick beruhigte den Sturm ein wenig, der schon seit Stunden in ihm tobte. Etwas gefasster schloss er die Schublade wieder. Immerhin war er endlich dieses schwarze Kästchen los. Beinahe schon erleichtert atmete er aus.

Jedoch musste er schnell feststellen, dass dieses schwere Gefühl in ihm sich kein Stück gemindert hatte. Er zog sich um, legte seine Uniform ab und trug stattdessen normale Kleidung. Es änderte sich nichts.

Seufzend ließ er sich auf sein Bett nieder. Die Aufklärungslegion fand sich gerade im Speisesaal ein. Morgen würde ein großer Tag sein, morgen würden sie nach Shiganshina aufbrechen. Da es ein besonderer Abend war, wurde heute Fleisch serviert, ein Geschenk der Vorgesetzten an ihre Soldaten. Levi konnte sich nicht dazu aufraffen, sich zu ihnen zu gesellen. Seine Gedanken kreisten immer noch um dieses verfluchte Kästchen.

Seit heute Vormittag war sie in seinem Besitz. Sie enthielt eine Spritze mit dem Titanenserum, die einen Menschen in ein Monster verwandeln konnte. Das Kästchen, das Kenny ihm gegeben hatte. Vor Stunden hatten sich Levi, Erwin und Hanji mit Dot Pixis und Dallis Zacklay zusammengefunden, um zu entscheiden, was damit passieren sollte.

Erwin hatte es Levi anvertraut. „Wir können nicht vorhersehen, in welcher Situation wir das Serum benutzen müssen", hatte der Kommandant der Aufklärungslegion klargestellt. „Wir werden uns darauf verlassen, dass du spontan eine Entscheidung treffen wirst. Wer und wann derjenige das Serum bekommt, wirst du beschließen. Kannst du das tun?"

Nein wäre die ehrliche Antwort gewesen. Es war weniger eine Frage des Könnens, sondern mehr eine des Wollens. Und Levi wollte schlicht und einfach nicht. Aber Wollen war schon immer fehl am Platz gewesen. Irgendjemand musste es schließlich tun und rein strategisch betrachtet, war das Serum bei Levi am besten aufgehoben. Also hatte er wortlos das Kästchen gegriffen und in seine Manteltasche geschoben. Seitdem hatte er dessen Gewicht deutlich gespürt, als hätte es ihn zu Boden ziehen wollen.

Levi stützte die Arme auf den Beinen ab und rieb sich die Augen mit seinen Handballen. Er konnte sich nichts vormachen, der Gedanke an die Verantwortung, die er nun trug, belastete ihn. Als heute Nachmittag eine weitere Besprechung mit Erwin und den Einheitsführern stattgefunden hatte, hatte Levi sich kaum konzentrieren können. Ständig hatte er den Druck dieses beschissenen Kästchens gespürt. Es war um Erens Vater und seine Herkunft gegangen; vermutlich stammte er wie Reiner und die anderen von einem Ort außerhalb der Mauern, aber im Gegensatz zu ihnen hatte es den Anschein, dass er den Menschen in den Mauern freundlich gesonnen gewesen war. Sie hatten so viele Fragen und keinerlei Antworten. Grisha Jägers Keller in Shiganshina sollte sie enthalten. Das war momentan das einzige, auf das sie hoffen konnten.

Nach der Besprechung hatte er noch unter vier Augen mit Erwin geredet.


Levi schloss die Tür hinter Hanji und schob sie dabei aus dem Zimmer und drehte sich zu Erwin um. Die Hände hatte er in die Manteltaschen gesteckt. Die Finger seiner rechten Hand waren fest um das schwarze Kästchen geschlossen.

„Was ist, Levi?", wollte Erwin wissen.

„Es kommt etwas plötzlich", räumte Levi ein, „aber was wirst du tun, wenn wir Mauer Maria zurückgewonnen haben?" Damit stellte er dieselbe Frage wie vor einigen Stunden, als ihm das Serum anvertraut worden war. Im Gegensatz zu vorhin waren sie nun alleine und Levi hoffte deshalb, eine klarere Aussage als Ich weiß es nicht. Das muss entschieden werden, nachdem wir im Keller gewesen sind zu erhalten. „Ich schätze, ein Verteidigungsplan ist wichtig", setzte er fort, „aber dann?"

„Bedrohungen eliminieren", erwiderte Erwin mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. Die Antwort kam weder zu früh noch zu spät. Als hätte er schon lange darüber nachgedacht und würde diese Tatsache nun in einer strategischen Besprechung darlegen. „Außerhalb der Mauern scheint es jemanden zu geben, der hofft, dass die Riesen uns alle fressen werden. Die Antwort auf die Frage, wer das ist, ist in diesem Keller, nehme ich an. So wie ich es vorhin schon gesagt habe, können wir das erst danach planen."

Levi war unzufrieden mit dieser Antwort. „Ich frage, weil du möglicherweise nicht so lange leben wirst. Du kannst dich nicht mehr so bewegen wie früher." Mit seinem Blick wies er auf den rechten Ärmel von Erwins Hemd, der schlaff und leer von dessen Schulter hing. „Lass Hanji das Sagen haben. Du wirst nur Ballast sein." Er wusste, seine Worte waren harsch, aber er wusste auch, dass Erwin sie richtig interpretieren konnte. „Die guten Nachrichten werden dir im Nachhinein überbracht. Wir können den anderen sagen, dass ich dich so lange genervt habe, bis du nachgegeben hast." Kurz hielt er inne und korrigierte anschließend seine Worte: „Nein, warte, das ist sogar meine Absicht. Bist du damit einverstanden?"

Erwin wich nachdenklich seinem Blick aus. Dann erwiderte er: „Bin ich nicht. Mir macht es nichts aus als Kanonenfutter zu diesen. Benutzt mich als Köder. Die Befehlskette besteht weiterhin: Nach mir kommt Hanji. Danach der nächste. Es stimmt, diese Mission ist gefährlich, aber für die Menschheit ist sie wichtiger als alles andere. Deswegen nehme ich solche Risiken in Kauf. Das ist alles mein Plan. Wenn ich es nicht tue, wird die Erfolgsrate sinken."

„Das stimmt. Die Mission könnte scheitern", warf Levi ein, „aber wenn du währenddessen ins Gras beißt, sind wir verloren. Also bleib an deinem Schreibtisch sitzen und benutze einfach deinen Kopf. Das ist das letzte, was die Riesen wollen würden, und für die Menschheit wäre es das Beste." Und das war nichts als die blanke Wahrheit. Rein objektiv gesehen hatte Levi eindeutig recht. Seine Argumente sprachen für das langfristige Allgemeinwohl. Das, worauf Erwin es stets abgesehen hatte.

Und dennoch widersprach er: „Nein, das stimmt nicht. Unsere beste Möglichkeit ist es, dass ich alles aufs Spiel setze und..."

„Hey, hey, hey, hey, hör auf", unterbrach Levi ihn bestimmt, als er bei Erwins Worten innerlich zusammenzuckte. „Benutz weiterhin diese Ausrede bei mir und ich brech dir deine verdammten Beine. Alle beide. Ich geb mir Mühe es ordentlich zu machen, damit man sie später wieder gut anbringen kann. Aber die Mission, Mauer Maria zurückzuerobern, wird stattfinden, während du hier flennst. Wird wohl ganz schöner Mist sein, so zur Toilette zu gehen."

Bei diesen Worten musste Erwin leicht auflachen. „Das würde ich gerne vermeiden. Du hast recht. Ein verwunderter Soldat sollte dem Schlachtfeld fernbleiben. Jedoch wird der Augenblick kommen, in dem wir die Wahrheit über diese Welt erfahren, und ich muss dafür da sein."

Für einen Moment war Levi sprachlos. Erwin Smith, der Kommandant der Aufklärungslegion, der immer so strategisch vorging, immer an das große Ganze dachte und dabei ein paar Kollateralschäden in Kauf nahm, traf eine unvernünftige Entscheidung. Ihm war es sogar bewusst. Und das bei einer derart wichtigen Mission, von der die Zukunft der Menschheit in den Mauern abhing.

Levi konnte den Groll in seiner Stimme nicht verbergen, als er fragte: „Ist dir das so wichtig? Mehr als deine Beine?"

„Ja", erwiderte Erwin fest.

„Mehr als der Sieg der Menschheit?"

Die Entschlossenheit in Erwins Augen war unverkennbar. Ohne dem geringsten Zögern, antwortete er abermals: „Ja."

Auf einmal fiel Levis Anspannung. „Ich verstehe", meinte er nun deutlich ruhiger und wollte gehen. Obwohl er gedacht hatte, Erwin gut zu kennen, hatte er es nicht gewusst. Sein höchstes Ziel war gar nicht der Sieg der Menschheit, sondern die Wahrheit. Levi musste zugeben, dass er sich ein klein wenig hintergangen fühlte. Der Mann, dem er seit Jahren bedingungslos folgte, war doch nicht ganz der, der er geglaubt hatte zu sein. Das Kästchen lag weiterhin schwer in seiner Tasche.

Jedoch war er immer noch sein Freund. Als er sich also nochmals kurz ihm zuwandte und meinte: „Ich vertraue deinem Urteil, Erwin", sprach er die Wahrheit.


Levi wusste nicht, wie lange er so auf seinem Bett saß, das Gesicht in den Händen vergraben. In ziemlich genau 24 Stunden würde die Mission starten. Die letzte war drei Monate her. Er musste gestehen, sie saß ihm immer noch in den Knochen. Beinahe seine gesamte Einheit hatte ihr Leben gelassen.

Seitdem hatte sich vieles geändert, nicht alles zum Guten. Erwin war gehandicapt und die meisten ihrer Soldaten hatten keinerlei Kampferfahrung. Allerdings standen ihre Chancen, erfolgreich zu sein, noch nie besser. Außerdem war Eren... nicht mehr ein großes Rätsel. Sie hatten in den letzten drei Monaten viel über ihn und seine Kräfte erfahren. Zusätzlich vertraute ihm seine Einheit sehr im Gegensatz zum letzten Mal. Und Levi musste Motte nicht mehr geheim halten.

„Hello", wurde er fröhlich gegrüßt, wobei die Vokale gestreckt wurden.

Levi hob den Kopf an und musste ein paarmal blinzeln, um wieder richtig sehen zu können. Da er lange seine Handballen auf seine Augen gepresst hatte, tanzten grelle Punkte vor seinem Gesichtsfeld.

„Boah, du schaust noch fertiger aus als sonst", kommentierte die Nervensäge erbarmungslos. Seit gestern waren die Vorbereitung für die morgige Mission abgeschlossen, deswegen war Motte mit den anderen zum Waisenhaus gegangen, um auszuhelfen. Sie und Levi hatten sich heute kaum gesehen. Nun schwebte sie mitten in seinem Zimmer, wobei sie sich sanft auf und ab bewegte.

„Wieso bist du nicht bei den anderen?", fragte er und ignorierte ihren letzten Kommentar.

„Die gehen jetzt essen", erklärte sie, „und das muss ich jetzt nicht unbedingt. Krieg sowieso nur wieder Magenschmerzen." Prüfend verschränkte sie die Arme vor der Brust. „Willst du nicht langsam auch runtergehen? Es gibt Gerüchte, dass es heute Abend Fleisch gibt. Wenn du dich nicht beeilst, bekommst du nichts mehr ab."

Er schaute zur Seite. „Hab keinen Hunger", meinte er bloß, nüchtern wie eh und je.

Motte kam zurück in sein Blickfeld geschwebt. Zu den verschränkten Armen hatte sie noch ihren Kopf schief gelegt, ein Zeichen, dass sie nachdachte. „Was ist los?", wollte sie wissen.

Er musterte sie und spielte für nur einen erstaunlich kurzen Moment mit dem Gedanken, ihr etwas vorzugaukeln, jedoch stellte er ziemlich schnell fest, dass er keinen Sinn darin sah. Stattdessen wies er mit einer Kopfbewegung auf seinen Schreibtisch. „Schau mal in die Schublade." Neugierig tat sie wie geheißen.

Innerlich wappnete er sich für den kommenden Dialog; auch wenn Motte dabei gewesen war, als Levi von Kenny dieses Kästchen erhalten hatte, bezweifelte er, dass sie sich noch daran erinnern konnte.

Aber natürlich schaffte es die Nervensäge, mal wieder, ihn aus dem Konzept zu bringen. „Ey, die Blume!", rief sie vorwurfsvoll aus, lauter als er erwartet hatte, und beinahe wäre er zusammengezuckt. Mit vorsichtigen Fingern nahm sie die trockene Pflanze aus der Schublade. „Du hättest sie wässern müssen, du Vollidiot!", schimpfte sie ungeniert. „Kein Wunder, dass sie so ausschaut!"

„Das ist doch gar nicht..." Verdattert musste er nach Worten suchen.

In der Zwischenzeit wurden ihre Gesichtszüge weicher. „Aber schon süß, dass du sie noch hast. Bist halt echt 'n Softie."

Verärgert knirschte Levi mit den Zähnen. „Ich mein das Kästchen, du Nervensäge. Und schrei nicht so rum."

Sie schenkte ihm einen finsteren Blick, ehe sie die Blume behutsam auf dem Schreibtisch ablegte. Dann nahm sie das Kästchen heraus. „Was ist das?", wollte sie wissen und wartete gar keine Antwort ab. Ungefragt öffnete sie den Deckel. Levi wartete ab. Für einen kurzen Augenblick schien sie verwirrt, dann wurden ihre Augen groß. Sie erkannte die Spritze wieder. „Oh...!"

Schnell stellte sie auch das Kästchen auf dem Schreibtisch ab; als würde sie so wenig Kontakt wie möglich haben wollen. Für ein paar Sekunden betrachtete sie die Spritze mit dem klaren Inhalt auf ihrem samtenen Bett. Schließlich löste sie ihre Augen davon und wandte sich Levi zu: „Woher hast du das?"

„Erwin hat es mir gegeben", erzählte er. „Es ist jetzt meine Aufgabe zu entscheiden, wer es bekommt und wann derjenige es kriegt."

„Oh", machte Motte abermals, dieses Mal erkennend. Allerdings veränderte sich ihre Mundform und sie ließ den Ton in einem „Hä?" enden. „Das verwandelt einen doch in einen Riesen, oder nicht? Wieso solltest du es bei jemanden anwenden?"

Unter anderen Umständen hätte Levi sich vermutlich um ihre Begriffsstutzigkeit beschwert, heute aber fühlte er sich zu müde dafür. „Na ja, es kann ja sein, dass wir bei der Mission einen der Titanenwandler erwischen. Und nehmen wir mal an, dass jemand von uns kurz davor ist, zu sterben, dann wäre das eine Möglichkeit, sein Leben zu verlängern."

„Oh." Das war das dritte Mal heute. Abermals verzog sie das Gesicht, wenige Momente später. „Aber doch nur für ein paar Jahre, oder?"

„Ein paar Jahre sind immer noch besser als gar nichts, oder?"

„Das stimmt..." Und wieder zogen sich ihre Augenbrauen zusammen. „Aber warte... Das heißt, ihr würdet den Titanenwandler jemand anderem... zum Fraß vorwerfen."

„Ganz genau."

Motte schauderte es. Auch wenn es bereits zwei Monate her war, dass sie Kenny begegnet waren, gefiel ihr der Gedanke nicht, dass ihre Mitstreiter, ihre Freunde, Menschen getötet hatten und es wieder tun würden.

„Aber, Levi", warf sie ein letztes Mal ein, als ihr ein weiterer Gedanke kam, „glaubst du, dass es nur einen Soldaten geben wird, der in Lebensgefahr ist?"

Ein kurzes, abfälliges Lachen entwich ihm. „Ganz bestimmt nicht."

Ihr Gesicht wurde lang, die Augen groß. Es ließ sich eine Mischung aus Überwältigung und Mitgefühl erkennen. Ihr lag offensichtlich etwas auf der Zunge, aber sie sprach es nicht aus. Musste sie auch nicht. Er konnte sich denken, was es in etwa war: Du musst also entscheiden, wer noch ein paar Jahre länger leben darf und wer gleich sterben muss.

Seit Stunden ratterte es durch seinen Kopf. Er wünschte sich, Erwin hätte ihm dieses Kästchen nicht gegeben.

Es dauerte eine Weile, bis wieder etwas geschah. Ohne ein weiteres Wort zu Levis Verantwortung zu verlieren, schloss Motte das Kästchen, steckte es jedoch nicht zurück in die Schublade. Danach blickte sie sich suchend um. Levi beobachtete, wie sie nach seinem Wasserkrug griff, nur um festzustellen, dass er leer war. „Mensch!", klagte sie an und verdrehte die Augen.

Sie manifestierte sich komplett und verließ das Zimmer, ohne Levi noch einmal zu beachten. Nicht einmal den Anstand, die Tür hinter sich zu schließen, besaß sie.

Minutenlang saß er da, ohne sich zu rühren. In seinem Kopf rasten seine Gedanken und gleichzeitig fühlte er sich so leer an.

Levi war einfach müde.

Er hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, als Motte zurückkehrte. In ihren Händen hielt sie seinen nun anscheinend mit Wasser gefüllten Krug. Wortlos durchquerte sie das Zimmer und stellte das Gefäß auf seinem Schreibtisch ab. Sie nahm die vertrocknete Blume und ließ sie hineingleiten. Levi kannte sich nicht wirklich mit Pflanzen aus, aber er war sich ziemlich sicher, dass jede Rettung zu spät kam. Allerdings wies er sie nicht darauf hin.

Das Kästchen rührte Motte kein einziges Mal mehr an, schenkte ihm nicht einmal einen kurzen Blick. Stattdessen wandte sie sich Levi zu: „Unten im Speisesaal ist das reinste Chaos! Das Fleisch ist allen wohl zu Kopf gestiegen." Sie pflegte ihren üblichen Plauderton, als ob sie vorhin nicht über das Kästchen und dessen Inhalt geredet hätten. Als ob sie sich morgen nicht auf eine brandgefährliche Mission begeben würden. „Und Eren und Jean prügeln sich. Mal wieder. Keine Ahnung, warum. Mal wieder. Nur dieses Mal scheint sie niemand aufhalten zu wollen. Was ich verstehen kann." Sie verschränkte seufzend die Arme vor der Brust. „Manchmal führen sie sich wie Kinder auf."

„Sagt die Richtige", rutschte es Levi heraus, ohne darüber nachzudenken.

„Hey!", motzte die Nervensäge sofort. Verärgert kniff sie die Augen zusammen und reckte das Kinn. „Ich würde ja zu gerne kontern, aber ich hab keine Zeit." Ihre angriffslustige Haltung schwand plötzlich und sie wirkte eher schuldbewusst. „Heute sollte ich tagsüber wach sein, wenn ich eh morgen den ganzen Tag schlafen werde... und vielleicht noch länger. Seit ich im Krankenhaus war, lässt meine Mum mich zwar fast alles durchgehen, aber sie soll sich keine Sorgen machen."

„Sag, was du willst", erwiderte Levi nüchtern. „In Wahrheit bist du nicht schlagfertig genug, um sofort zu antworten."

Und da waren wieder, die zusammengekniffenen Augen und gespitzten Lippen. Drohend hob sie einen Zeigefinger an. „Das merk ich mir, Ackermann!" Ehe er etwas erwidern konnte, verschwand sie.

Er wusste, dass sie das tat, damit sie das letzte Wort haben konnte. Dennoch schnalzte er missbilligend mit der Zunge; das Geräusch schien im beinahe leeren Zimmer ungewöhnlich laut. Ackermann. Es fiel ihm immer noch schwer, diesen Namen sich selbst zuzuordnen. Er war schon immer Levi gewesen. Einfach nur Levi.


Bevor er die ganze Nacht alleine in seinem Zimmer hockte, hatte er beschlossen, sich den Radau anzuschauen, von dem Motte berichtet hatte. Tatsächlich hatte sie einmal ausnahmsweise nicht übertrieben. Es herrschte lauter Trubel und das Zentrum bildeten die zwei Streithähne; in Levis Augen wirkten sie erschöpft, aber keiner wollte nachgeben. Er beendete es mit zwei gezielten Tritten in den Magen. Vielleicht war er ein Stück zu heftig vorgegangen, den Jean erbrach sich sogleich. Mit wenigen Worten beendete Levi das Schauspiel und schickte alle zu Bett.

Während sich die Gesellschaft tröpfelnd auflöste, bemerkte er, wie Eren sich mit seinen zwei Kindheitsfreunden nicht nach oben zu den Schlafgemächern, sondern nach draußen begab. Armin und Mikasa mussten ihn stützen, da er immer noch wacklig auf den Beinen war. Levi folgte ihnen mit der Intention, sie erneut zum Schlafengehen aufzufordern, schließlich war morgen ein entscheidender Tag.

Sobald jedoch ihre Stimmen zu ihm herübergetragen wurden, hielt er inne und lauschte versteckt hinter einer Wand. „... einfacher jetzt", meinte Eren gerade. Er und seine Freunde hatten sich auf steinernen Stufen niedergelassen. „Ich hab die ganze Zeit über Dinge nachgedacht, die ich nicht ändern kann, und hab mich gefragt, warum ich nicht stark sein kann wie Mikasa oder Kapitän Levi. Ich war eifersüchtig. Aber sogar du und der Kapitän könnt alleine nicht viel ausrichten. Deswegen müssen wir das tun, was wir tun können. Und uns dabei zusammenzutun, macht uns erst richtig stark. Jeder ist schließlich anders." Seine Stimme klang nicht wie in den letzten Wochen bedrückt. Jetzt war sie hoffnungsvoll und Levi wettete, dass Eren lächelte.

„Ich denke, du hast recht", stimmte Armin zu.

Nach einer kurzen Pause sprach Mikasa: „Sobald wir Mauer Maria zurückerobert und all unsere Feinde besiegt haben, denkt ihr, die alten Tage werden wieder zurückkommen?"

„Wir werden sie zurückbringen", erwiderte Eren mit einer Überzeugung, von der Levi nicht wusste, woher sie stammte, „aber manche Dinge haben sich für immer verändert. Wir werden sie dafür bezahlen lassen."

„Aber das ist nicht alles", warf Armin ein. „Das Meer...", setzte er leiser hinzu. „Ein Salzsee, der so groß ist, dass Händler ihr ganzes Leben damit verbringen könnten, und trotzdem nicht das ganze Salz gesammelt haben. Es gibt noch viel mehr als die Riesen außerhalb der Mauern! Feuriges Wasser, Länder aus Eis, sandige Schneefelder..."

Levi musste sich daran erinnern, wie Motte ihm zum ersten Mal aus ihrer Welt erzählt hatte. Es war wirklich erst vier Monate her? Damals wie heute klangen diese Worte wie Fantasiegeschichten, jedoch war er nun gewillter an ihnen zu glauben.

„Ich bin der Aufklärungslegion beigetreten, um das alles zu sehen", schloss Armin begeistert.

Erens Reaktion kam zögerlich. „Ja. Sicher." Es war unverkennbar, dass er nicht daran glaubte.

Das schien auch Armin zu bemerken. „Es gibt diese Orte wirklich! Motte hat auch von ihnen erzählt. Bis auf die Riesen und der Menschheitsgeschichte scheinen sich unsere Welten sehr zu ähneln, wieso also sollten sie nicht existieren?" Anhand seiner Stimme konnte Levi erkennen, dass seine Begeisterung rapide zunahm, etwas, was man bei dem sonst zurückhaltenden Jungen, nicht oft zu sehen bekam. „Genau, lasst uns damit anfangen! Wir werden ans Meer gehen! Ihr werdet staunen!"

Eren lachte belustigt auf. „Na gut. Dann müssen wir es wohl mit eigenen Augen sehen."

„Ganz genau!"

Armin konnte sich gar nicht mehr bremsen und schwärmte davon, wie groß die Welt außerhalb der Mauern sein musste.

Levi hatte gar nicht mitbekommen, wann er die Wand entlang heruntergerutscht war und sich auf dem kalten Stein niedergelassen hatte. Während er ihnen so zuhörte, musste er an seine erste Expedition außerhalb der Mauern denken. Damals waren auch sie zu dritt unter dem klaren Nachthimmel gesessen und hatten von einer freien Welt geträumt. Sie waren voller Hoffnung gewesen.

Jetzt saß er allein.

„Levi!", riss ihn auf einmal eine laute Stimme aus seinen Grübeleien. Überrascht spannte er seinen Körper an, entkrampfte sich allerdings schnell wieder, als er feststellte, dass es nur Motte war. Kopfüber ließ sie ihr Gesicht vor seinem baumeln, die Haare hingen herab. „Bin wieder da!"

Levi sagte nichts, zu einem kleinen Teil, weil die Überraschung noch in seinen Knochen saß, hauptsächlich aber, weil er nicht von den drei Freunden gehört werden wollte, die nur wenige Meter entfernt waren.

Ihm blieb das Reden sowieso erspart, da Motte seine unausgesprochene Frage von selbst beantwortete: „Meine Mum ist arbeiten gegangen und Sammy ist sonst wo. Ich wollte mir die Zeit irgendwie vertreiben, aber ich konnte mich auf nichts konzentrieren. Also bin ich wieder schlafen gegangen. So für ein, zwei Stündchen werde ich heute wohl noch hier bleiben."

Selbst wenn Levi Einwände hätte, sie wären belanglos. Das wusste er. Aber es machte ihm nichts aus. Ganz im Gegenteil.

Er konnte nicht umhin, ihr ein kleines Lächeln zu schenken.

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