Prioritäten

Kapitel 30 – Prioritäten


Levi hatte die Nacht fast gar nicht geschlafen. Nachdem er Nick wegen Motte konfrontiert hatte, hatte er dem Priester das gezeigt, weswegen er überhaupt mit nach Ehrmich gekommen war: Die unzähligen Flüchtlinge aus dem südlichen Teil von Mauer Rose strömten jetzt noch in Massen in den Außenbezirk von Sina. Es hieß, die Mauer war gefallen; sie mussten ihre Leben und das derjenigen, die ihnen lieb und teuer waren, in Sicherheit bringen. Angst und Hoffnungslosigkeit begleiteten sie wie Schatten.

Diesen Anblick hatte Nick zum ersten Mal in seinem Leben gesehen. Er war schockiert gewesen. Tatsächlich hatte das Levi nur noch wütender gemacht. Der Priester verehrte die Mauern krankhaft, wusste um deren Geheimnisse, und hatte bis dato keine Ahnung gehabt, was sie für die Menschen bedeuteten: Schutz vor der Hölle.

Nick hatte danach immer noch nichts sagen wollen, dieses Mal mit der Begründung, dass diese Entscheidung kein Mensch allein treffen konnte. Levi hatte gemerkt, dass der Anblick all der Opfer des vermeintlichen Mauerfalls etwas in dem Priester ausgelöst hatte. Er hatte sich dazu entschieden, Hanji, Levi, Eren und dessen Freunde einen Namen zu nennen. Er und die Kirche hatten den Auftrag, diese Person immerzu im Auge zu behalten. Jemand aus der ehemaligen 104. Trainingseinheit. Noch jemand von Erens Freunden.

Christa Lenz.

Der schwarzhaarige Kapitän und Hanji hatten mit diesem Namen nichts anfangen können. Angeblich verfügte sie möglicherweise über fehlende Informationen. Mehr konnte und wollte Nick nicht sagen.

Eren hatte daraufhin sofort aufbrechen wollen, schließlich gehörte sie zu seinen Freunden aus der 104. Trainingseinheit und war dementsprechend mit Mikes Trupp unterwegs, direkt auf Konfrontation mit den plötzlich aufgetauchten Titanen.

Kurz vor dem Abmarsch war noch jemand erschienen, eine junge Soldatin namens Sasha – noch eine von Erens Freunden. Sie überbrachte eine schriftliche Nachricht an Hanji und zwar Informationen über Annie Leonhardt.

In diesen stand, dass sie aus der gleichen Gegend stammte wie zwei weitere Kadetten aus der 104., Reiner Braun und Bertholdt Hoover. Wegen der Vorfälle von vor fünf Jahren waren von allen dreien die Familienaufzeichnungen so gut wie abhandengekommen.

Allerdings hatten die zwei Jungen bei der Expedition vor knapp einer Woche zu dem Teil des Aufklärungstrupps gehört, der bezüglich Erens Standort falsch informiert worden war. Sie hatten gedacht, dass Eren sich im rechten Flügel befunden hatte; genau dort, wo der Weibliche Titan angegriffen hatte.

Jeder hatte die beiden, vor allem Reiner, in Schutz genommen, doch dann hatte Armin sich erinnert, dass der Verdächtige beinahe vom Weiblichen zerquetscht worden wäre. Im letzten Moment war er entkommen. Zuvor sollte er sich bezüglich Erens Standort in der Formation erkundigt haben. Vielleicht war er damals gar nicht in Gefahr gewesen, sondern hatte Annie bloß eine Nachricht auf die Handfläche geritzt, wurde spekuliert. Immerhin hatte sie sich daraufhin zu Erens eigentlicher Position bewegt.

Aufgrund alldem gab es nun zwei Hauptverdächtige für die Identitäten des Gepanzerten und des Kolossalen Riesens, oder zumindest für mögliche Komplizen von Annie Leonhardt.

Eren wollte natürlich wieder protestieren, Hanji hatte ihn aber nicht dazukommen lassen. Sie hatte alle daran erinnert, dass es sich hierbei bloß um reine Vermutungen handelte und sie sich unauffällig verhalten mussten, wenn sie die Wahrheit aufdecken wollten.

Levi wusste, dass die zwei Titanen sich bald zu bekennen geben würden, schließlich hatte Motte ihm das erzählt, für ihn war die Frage bezüglich ihrer Identitäten also geklärt, jedoch konnte er es nicht aussprechen. Es war auch Hanjis Einheit anwesend gewesen, die nichts von dem unsichtbaren Mädchen wusste. Hoffte er zumindest.

Dann wurde beschlossen nicht noch mehr Zeit zu verlieren und aufzubrechen. Sasha war ebenfalls bei Mikes Einheit gewesen, sie wusste, in welchem Turm sie sich über Nacht aufhielten.

Levi hatte sich von Eren und seinen Freunden verabschiedet, da er – leider – nicht mitgehen konnte: Armin nutzte hoffentlich seine Intelligenz und tat sich in Zukunft mit Hanji zusammen, um nach und nach Lösungen zu finden. Mikasa sollte Eren weiterhin mit eisernem Willen beschützen. Und der Junge selbst... Er musste lernen, sich zurückzuhalten, seinen Zorn zu zügeln und dadurch nicht das Ziel aus den Augen zu verlieren. Glaub daran. Wir wissen, dass es stimmt, waren Levis Worte zu ihm bezüglich der zwei Titanenwandler gewesen. Eren hatte kurz gezögert, doch dann mit seiner puren Entschlossenheit im Blick gehorcht.

Levi konnte nur hoffen, dass er es sich zu Herzen nahm. Er musste dem Jungen vertrauen und er tat es auch. Nicht nur, weil sein Überleben davon abhing, sondern auch, weil er Eren im Laufe der letzten Wochen kennengelernt hatte. Dieser Junge war verdammt leidenschaftlich und dickköpfig, er kämpfte konsequent für seine Ziele. Man musste nur daran glauben, dass er weiterhin auf der Seite der Menschheit blieb.

Momentan befand sich Levi in einem Unterschlupf für Soldaten in Ehrmich. Eigentlich hausierten hier hauptsächlich nur Leute der Militärpolizei und einige der Mauergarnison, doch angesichts der derzeitigen Situation verweilte auch der der Aufklärungstrupp hier, der an der Operation in Stohess beteiligt gewesen war. Fast alle sich momentan hier befindlichen Soldaten würden im Laufe des Morgens nach Trost aufbrechen. Anders ausgedrückt würden sie sich durch die Gefahrenzone bewegen. Dachte zumindest jeder.

Levi saß in dem Sessel im Zimmer – in Ehrmich gab es Sessel für die Soldaten! – und konnte, wollte nicht schlafen. Ab und zu war er wohl eingenickt, aber im Großen und Ganzen ratterte sein Kopf. Für ihn war nicht viel aktiv passiert, aber es war einiges vermutet und beschlossen worden. Das schlimmste daran war, dass er es besser wusste: Er wusste, dass es kein Loch in der Mauer gab; er wusste, dass die Titanenwandler sich offenbaren würden; er wusste, dass Eren entführt werden würde; und er tat einfach nichts. Wie denn auch? Es konnte ihm keiner glauben, außer Erwin und Hanji und nicht mal eine Handvoll von Erens Freunden. Aber keiner von ihnen konnte ohne gute Begründung dementsprechend handeln, die Aufklärungslegion stand sowieso schon kurz vor ihrem Ende. Sie mussten dieses Risiko so gering wie möglich halten.

Auch hasste der Schwarzhaarige es, dass er Handlungsverbot hatte. Erwin hatte ihm tatsächlich weiterhin Bettruhe aufgebrummt. Während all der Gespräche und Erläuterungen in der letzten Nacht hatte er es im Hinterkopf behalten und sich deswegen geärgert. Aber er würde gehorchen. Erwin wusste, was er tat.

Die ersten Sonnenstrahlen kämpften sich an den grauen Wolken vorbei und schlichen in sein Zimmer. Er musste an die letzte sehr ereignisreiche Nacht denken, die er durchgemacht hatte: Vor etwas mehr als einem Monat war der Aufklärungstrupp von einer Expedition zurückgekehrt, nur um herauszufinden, dass das Tor von Trost zerstört und wieder versiegelt worden war und ein Kadett sich in einen Titanen verwandeln konnte. Damals hatte all das angefangen und der Sieg der Menschheit war ein Ziel mit Aussicht auf Erfolg geworden.

Damals hatte er die Nervensäge kennengelernt.

Nur hatte er letzte Nacht – im Unterschied zu vor ein paar Wochen – sich dabei ertappt, wie er sich gefragt hatte, wie das Mädchen bestimmte Tatbestände kommentiert hätte. In wie weit stimmten ihre Vermutungen? Hatten sie einen entscheidenden Aspekt übersehen? Welche unnötigen Bemerkungen hätte sie abgegeben, die Levi vielleicht nur einen Augenblick von seiner Verletzung abgelenkt hätten?

Er blickte aus dem Fenster, sah, wie der Tag begann, und wusste, dass sie bald wieder auftauchen würde.


„Guten Morgen, Herr Emotionslos! Zeit aufzuwachen!"

Verwundert schlug Levi die Augen auf. Anscheinend war nochmals eingedöst, denn die Sonne war vollends aufgegangen. Vor ihm schwebte die Nervensäge grinsend, die Hände hatte sie in die Hüften gestemmt. Der Kapitän brauchte nicht lange, um sich zu sammeln: „Wieso bist du so verdammt gut gelaunt?"

Gelassen zuckte sie mit den Schultern. „Irgendjemand muss es doch sein in dieser Welt, wo jeder schreit oder stirbt." Dann zuckte sie plötzlich zusammen. „Okay, das war gemein. War nicht so gemeint."

„Schon klar", brummte Levi. „Und was ist der wahre Grund? Hast du gute Neuigkeiten?" Daraufhin zögerte die Nervensäge. „Na ja, wie man's nimmt... Eher nicht." Um ihre Worte zu unterstreichen, schüttelte sie den Kopf. „Nein, eigentlich freue ich mich nur, weil es meiner Mum nicht gefallen hat, dass ich schon wieder einen Schultag verpasst habe." Levi runzelte die Stirn: „Und das ist gut?"

Abermals schüttelte das Mädchen den Kopf. „Nein, aber sie hat mir nicht ganz geglaubt, dass ich krank bin. Deswegen hat sie gemeint, dass ich dann aber gleich schlafen gehen soll, ohne vorher noch irgendetwas anzugucken oder zu lesen."

Der Kapitän verstand es immer noch nicht: „Ja, und?"

Nun grinste sie wieder überlegen: „Na, ich hab zugestimmt und es einfach gemacht. Meine Mum dachte, dass ich protestieren und nicht gehorchen würde." Levi wartete ab, ob noch mehr kam, doch die Nervensäge war fertig mit erzählen. „Und deswegen grinst du jetzt so dämlich?"

Sofort wurde sie sichtlich wütend. Schnell sauste sie zu ihm und wollte ihm einen Klaps auf den Kopf verpassen, doch seine Reflexe ließen ihn nicht im Stich. Er griff ihr Handgelenk gerade noch rechtzeitig. Ihn anfunkelnd wollte sie sich befreien, aber er ließ nicht los. Stattdessen musterte er ihren Arm; sie hatte ihrer Hand und der Hälfte ihres Unterarms einen Körper gegeben. „Die Manifestationen beherrscht du inzwischen ganz gut. Du kannst sie sogar instinktiv einsetzen."

„Da hast du recht", stimmte sie grimmig zu und schlug ihn mit ihrer anderen Hand gegen seine Schulter. Es tat nicht weh, dennoch ließ er sie los. „Was du gestern Nacht gemacht hast, war wirklich bescheuert", sagte er gerade heraus. Seit sie nach Ehrmich aufgebrochen waren, hatten sie keine Zeit gehabt, unter vier Augen zu sprechen. „Denkst du wirklich, dass Nick nicht gemerkt, hat, dass du gelogen hast?"

Die Nervensäge blickte ihn mit großen Augen an. „Meinst du echt? Ich denke, ich war ziemlich überzeugend." Levi seufzte: „Offensichtlich hat er sich kurzzeitig in die Hose gepisst..."

„... was dich zum Lächeln gebracht hat", unterbrach sie ihn stolz grinsend. Er ignorierte sie und setzte fort: „... doch jeder Blinde hat gemerkt, dass du nicht die Wahrheit gesagt hast. Du bist 'ne beschissene Lügnerin, du kannst es einfach nicht."

Kurz pausierte er, was ihr die Möglichkeit gab empört „Hey!" zu rufen. Er selbst überdachte seine Worte nochmal. „Nun gut, du wirst ganz langsam besser, deine Stimme hat nicht mehr so gezittert wie sonst. Aber als du erklären wolltest, dass du die ganze Zeit über im Wagen gewesen bist, hat deine Geschichte weder Hand noch Fuß gehabt."

Die Nervensäge schwieg, grübelte über seine Worte. Da sie weder Wut noch Protest zeigte, wusste er, dass sie stumm zustimmte. „Aber", merkte sie plötzlich mit heller Miene und Zeigefinger in der Luft auf, „ich habe dich zum Lächeln gebracht."

Levi verdrehte die Augen. „Dafür hast du ein Talent, dich auf die unwichtigsten Kleinigkeiten zu fixieren." Das Mädchen verschränkte die Arme vor der Brust und reckte das Kinn in die Höhe, wobei sie einige Zentimeter nach oben schwebte. „Ich würde es sich aufs Positive konzentrieren nennen", widersprach sie ihm.

„Und wenn du dem jetzt treu bleiben und mir erzählen willst, was heute passiert, was sagst du mir dann?", lenkte Levi die Unterhaltung zu den wichtigen Dingen. Nachdenklich tippte sich Motte ans Kinn und begann dann an den Fingern aufzuzählen: „Ihr erfahrt die Identitäten von drei weiteren Titanenwandlern... Eren wird wieder zurückgebracht... Ähm..." Nun runzelte sie angestrengt die Stirn. „Ihr werdet in Zukunft weniger Verpflegung für Soldaten brauchen...?" Abermals merkte sie geschockt auf. „Das war schon wieder gemein, 'tschuldigung."

Levis Laune verschlechterte sich allemal. Ihm war klar, dass bei solch einer Rettungsaktion Menschen ihr Leben ließen, es war normal. Trotzdem gefiel es ihm nicht: „Weißt du, wie viele ungefähr sterben werden?" Die Nervensäge kaute auf ihrer Unterlippe herum und spielte mit den Enden ihrer Jackenärmel. Deutlich merkte er, wie sie es vermied ihm in die Augen zu blicken. „Wie wäre es, wenn ich dir einfach alles in der richtigen Reihenfolge erzähle?"

Sie umging die Antwort. Levi aber stimmte zu und so begann sie: „Der Teil der 104., der in diesem Turm gewesen ist, wurde von Eren und den anderen gerettet, da also soweit alles gut. Sie gehen auf Mauer Rose, weil sie dort momentan am sichersten sind vor den Riesen. Ymir, das eine Titanenwandlermädchen, ist ziemlich verletzt..."

„Was ist sie für eine Person?", unterbrach Levi sie hastig, ehe sie weiterreden konnte. Letzte Nacht hatte er Ymirs Namen bereits gehört. Er und Hanji waren ziemlich überrascht gewesen.

Motte blickte ihn verwirrt an. „Na ja, sie ist ziemlich oft schlecht gelaunt, lacht nicht viel, ist alles andere als herzlich, eher ziemlich gemein. Sie hängt immer mit Christa ab, ich glaube, sie ist in sie verliebt. Denkt nur an sich, macht ihr Ding. Gut, dass ich gestern nochmal die ganze Staffel angeschaut habe, jetzt ist noch alles frisch." Zufrieden tippte sie sich an den Kopf. „Ymir war..." Sie zögerte. „Hm, so genau weiß ich das nicht. Es ist alles so undeutlich erklärt worden, damit wir uns auf die nächste Staffel freuen... Jedenfalls ist sie eine Titanenwandlerin, die nicht zu Reiner, Bertholdt und Annie gehört."

Der Schwarzhaarige dachte kurz über ihre Worte nach. „Weißt du, wer Ilse Langnar war?", wollte er wissen. Die Nervensäge blinzelte daraufhin verdutzt. „Ilse? Noch nie gehört. Wer ist das?"

„Vor zwei Jahren", erklärte Levi, „haben Hanji und ich auf einer Expedition ein Notizbuch gefunden. Es hat Ilse Langnar gehört. Ihre ganze Einheit ist von Titanen getötet worden und sie war allein, hat sie geschrieben. Dann hat sie einen Titanen getroffen, aber anstatt sie direkt zu töten..." Levi stockte für einen Moment. Heute noch fand er den Gedanken einfach absurd. „... hat er sich vor ihr verbeugt und sie mit Lady Ymir angesprochen."

„Was zur Hölle?", erwiderte Motte. „Die Geschichte ist mir neu. Was ist mit Ilse passiert?"

„Der Titan unterlag seinem natürlichen Drang."

Bei diesen Worten zuckte Motte zusammen. Sie hatte verstanden, was er sagen wollte. „Erzähl weiter", forderte er sie ruhig auf. Sie schluckte und nickte. „Auf der Mauer geben Reiner und Bertholdt preis, wer sie wirklich sind. Daraufhin kämpft Eren mit ihnen, alle sind in ihrer Titanenform. Alles sehr episch. Letztendlich wird Eren jedoch von ihnen entführt. Ihr reist heute nach Trost, richtig? Dort kommt ein Bote, der euch all das berichtet. Daraufhin beschließt Erwin mit einem Schwung Soldaten loszuziehen, um Eren zu retten."

Levi erhob sich. Jetzt, da es das Mädchen erwähnt hatte, wurde ihm bewusst, dass er sich für die erneute Reise fertig machen musste. Er konnte nicht in den Klamotten los, in denen er geruht hatte. „Und das klappt, hast du erwähnt", ergänzte er, während er im Zimmer umherging.

„Ja...", war die wenig überzeugte Antwort. Levi hielt abrupt inne, in seiner Hand hielt er eine frische Hose, und wandte sich mit finsterem Blick ihr zu. Er musste sie nicht verbal auffordern, sich zu erklären. Heftig nickte sie. „Es klappt wirklich, keine Sorge! Du wirst nicht gebraucht, läuft alles wie am Schnürchen." Kaum waren die Worte ihrem Mund entflohen, klappte sie ihn erschrocken zu. Mit großen, schuldbewussten Augen blickte sie ihn an, als würde sie hoffen, dass er ihren Fehler nicht bemerkt hätte.

Natürlich wusste er, was sie lieber nicht hätte aussprechen wollen. „Ja? Alles klappt wie am Schnürchen?", wiederholte er fragend und runzelte provozierend die Stirn. „Wie hoch sind die Verluste?"

Die Nervensäge biss sich auf die Lippe und ihre Augen richteten sich gen Boden. „Ist nicht so toll...", gestand sie. Als er nichts darauf erwiderte und sie merkte, dass er sie immer noch abwartend anschaute, fügte sie hinzu: „Bei der Aufklärungslegion... so... um die Hälfte der Soldaten."

Reflexartig packte der Schwarzhaarige die Hose in seiner Hand fester. Er brauchte ein paar stille Sekunden, um sich wieder zu beruhigen, und Motte gab sie ihm. „Alles für Eren, ja?" Er wusste nicht, was er mit dieser Frage bezwecken wollte, aber er merkte, dass seine Stimme weniger verbissen war, als er es erwartet hätte. Eher leise. „Alles für Eren", wiederholte Motte ruhig. Ein paar weitere Moment blieb es still, in denen sich niemand rührte und das Mädchen nur sachte auf und ab schwebte.

„Was ist mit Erwin und Hanji? Und die Riesenwandler?", erkundigte er sich schließlich, immer noch mit belegter Stimme. Er setzte seine Vorbereitungen für den Tag fort. „Gut. Mit allen Haupt- und Nebencharakteren ist soweit alles in Ordnung. Also, Eren und seinen Freunden, den Riesenwandlern, den höherrangigen Soldaten...", antwortete die Nervensäge nüchtern. Jedoch hörte Levi etwas heraus, das ihn dazu veranlasste wieder zu ihr zu blicken. Auch schaute sie ihn mit gleichgültiger Miene an.

Sie verheimlichte etwas. „Was verschweigst du mir?", wollte er geradeheraus wissen. Ihre Augen wurden größer, nahmen einen unschuldigen Ausdruck an. „Nichts", meinte sie prompt. Er verengte seine Augen. „Sag schon. Ich merke es, wenn du lügst."

„Nichts!", beteuerte die Nervensäge abermals, dieses Mal heftiger. „Hannes stirbt, aber den kennst du nicht. Er ist ein Soldat der Mauergarnison aus Erens Kindheit, aber..."

„Da ist noch was", wusste Levi und trat auf sie zu. „Was ist los?" Nun fiel ihre Fassade. Nervös mit ihren Ärmeln spielend blickte sie auf ihn herab. „Mann, so schlecht bin ich gar nicht im Lügen. Wir haben nur zu viel Zeit miteinander verbracht."

Levi ließ sich nicht ablenken, schaute sie weiterhin unbarmherzig provozierend an. Sie merkte, dass er nicht so leicht aufgeben würde, also holte sie tief Luft. Beim Ausatmen rutschten ihr die Worte schnell über die Lippen: „Erwin-wird-einen-Arm-verlieren." Hastig hob sie die Arme und beugte sich zu ihm nach vorne, um ihn zu beruhigen. „Aber es ist nicht weiter schlimm! Er ist immer noch ein Superkommandant und hat einen eisernen Willen und so. Es ist nur ein Arm!"

Er sah sie bloß an. Die Hälfte der Aufklärungssoldaten, Erwins Arm... Levi wusste, dass sein Vorgesetzter gerne die Kollateralschäden mit einberechnete, aber so viel? Das war nie im Leben sein Plan.

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, machte er auf den Absatz kehrt und marschierte zur Tür. Er ließ sogar sein Jackett unbeachtet auf dem Bett liegen. „Was hast du vor?", fragte die Nervensäge warnend hinter ihm.

„Ich gehe zu Erwin", teilte er ihr mit. „Ich werde ihm sagen, dass ich mitkommen werde." Sofort sauste das Mädchen durch ihn hindurch und baute sich vor ihm auf. „Das machst du nicht!", befahl sie zornig und erhob sich in die Höhe, Fäuste waren in die Hüfte gestemmt.

Sie hatte vergessen, sich zu manifestieren, doch Levi hielt es nicht für nötig sie darauf hinzuweisen. Stattdessen lief er wortlos durch sie hindurch. „Ah!", merkte sie überrascht auf. Levi war schon fast bei der Tür angekommen, da warf sie sich plötzlich mit einem „Nein!" von hinten auf ihn. Dieses Mal hatte sie einen Körper. Der Kapitän war so überrascht, dass es ihn die Länge nach hinlegte. Das Mädchen ergriff ihre Chance und klammerte sich an ihn.

Da lag er nun halb auf der Seite, halb auf dem Rücken, auf ihm die Nervensäge, die mit ihren Armen seinen Oberkörper und rechten Arm umschlungen hatte, während ihre Beine sein linkes im Zaum hielten. „Lass mich los", brummte er und drückte mit seiner freien Hand ihren Kopf weg.

„Niemals!", nuschelte sie. Er wollte sie abschütteln und merkte, dass sie all ihre Kraft aufwandte, um ihn an Ort und Stelle zu halten. Sie war stärker, als er angenommen hatte, denn sie ließ sich trotz des Kopf Wegdrückens und des Gerangels nicht beirren. Selbstverständlich könnte er sich befreien, schließlich war er ihr körperlich deutlich überlegen und hatte dazu noch einen Arm und ein Bein, die er problemlos bewegen konnte, aber dafür müsste er sie wohl verletzen und das wollte er eigentlich vermeiden.

Der Hauptgrund aber, warum er sich nicht großartig wehrte, war, dass er erstaunt war, wie beharrlich die Nervensäge war. Sie war wirklich dagegen, dass er mitging. „Wieso verstehst du das nicht?", fragte er scharf. „Es geht um Menschenleben." Er ließ von ihrem Kopf ab, damit sie besser sprechen konnte.

„Natürlich weiß ich das", verteidigte sie sich heftig und blickte ihn, sobald sie ihren Kopf wieder bewegen konnte, zornig an. „Und es ist wirklich traurig und schade. Aber... Nehmen Soldaten dieses Risiko nicht nun mal in Kauf? Es ist ja nicht so, als ob sie wussten, dass so etwas..." Sie schüttelte den Kopf und sortierte ihre Gedanken neu. „Nein, das war blöd formuliert. Ich meine, es geht gut aus, nicht? Eren wird immerhin gerettet!"

Levi ließ sich Zeit mit seiner Erwiderung. Er kannte diesen Ton nur zu gut. „Du klingst wie Erwin", meinte er sachlich, wohlwissend, dass ihr es gegen den Strich ging. Wie zu erwarten, blies sie empört die Backen auf. „Es stimmt doch", verteidigte er sich ruhig.

Finster blickte sie ihn an, während sie sich eine Antwort überlegte. „Tatsache ist, dass ich nicht weiß, was passiert, wenn du da mitgehst. Was ist, wenn du dann draufgehst?"

„Das kann mir jeden Tag passieren", konterte er wie auch schon letzte Nacht.

„Aber du bist verletzt", warf die Nervensäge ein, ebenfalls wie bereits am Vortag. Um ihre Worte zu unterstreichen, löste sie kurz ein Bein aus ihrem Klammergriff und kickte damit ungefähr dorthin, wo der Schmerz bei ihm meistens am größten war. Augenblicklich zuckte er durch sein Bein. Levi zog scharf die Luft ein. „Spinnst du?!", fauchte er sie an. „Ich weiß, dass er mir schon mal besser ging."

Sie ließ sich nicht beirren. „Ach ja? Ich hab das Gefühl, dass du es gerne vergisst. In so einem Zustand gegen Titanen zu kämpfen ist Selbstmord! Und wer weiß? Vielleicht ergibt sich eine Situation, in der du Erwin retten könntest, es aber wegen deinem Bein nicht möglich ist? Vielleicht stirbt Erwin, nur weil du so dickköpfig bist und mitgehst!"

„Wieso sollte er bitte sterben, nur weil ich mitkomme?", fragte Levi verwirrt.

„Schmetterlingseffekt, schon mal was davon gehört?", erwiderte Motte wütend. „In meiner Welt ist das eine Theorie oder Philosophie oder was auch immer. Es heißt, wenn ein Schmetterling mit den Flügeln schlägt, bricht auf der anderen Seite der Welt ein Sturm los. Anders ausgedrückt, selbst die kleinste Tat kann unheimliche Folgen bringen!"

Der Schwarzhaarige ließ sich nicht beirren. „Vielleicht aber auch behält Erwin seinen Arm und all die anderen Soldaten ihr Leben, wenn ich helfe!"

„Das kannst du nicht wissen!"

„Eben. Und du auch nicht."

„Er hat dir befohlen dich auszuruhen", erinnerte Motte ihn mit grimmigem Triumph in der Stimme.

„Das war, bevor er wusste, was heute passieren wird", wusste Levi seinen Standpunkt zu verteidigen.

Die Nervensäge drückte noch fester zu. „Dann halte ich dich so lange hier, bis du die Reise nach Trost verpasst und keine Gelegenheit mehr hast mit ihm zu sprechen." Ihr Blick war mindestens so finster wie seiner.

So ein Dickkopf!, ärgerte er sich. Abermals versuchte er sich mit geringer Gewalt zu befreien, aber es funktionierte nicht. „Lass mich los", verlangte er grummelnd. „Ich will dir nicht wehtun."

„Und ich will nicht, dass dir wehgetan wird!", protestierte sie und änderte nichts an ihrem Griff. Er merkte, wie ihre Arme begannen zu zittern vor Erschöpfung. Lange würde sie sich nicht mehr klammern können.

„Wozu erzählst du mir dann alles, wenn du mich dann doch nichts ändern lässt?", argumentierte er bissig und erwartete gar keine Antwort. „Abgesehen davon, dass du mir immer noch Sachen verschweigst. Das mit den Titanen, zum Beispiel? Wie kommen sie durch die Mauer, wenn es gar kein Loch gibt?" Abwartend funkelte er sie an. Er stellte sich darauf ein, dass dies ein weiteres Diskussionsthema werden würde.

Doch dem war nicht so. Mit einem Mal war jede Kampfeslust aus Mottes Gesicht gewischt. Ihre ganze Körperspannung fiel ab, auch wenn sie die klammernde Position noch nicht aufgab. „Bitte geh nicht", bat sie mit erstaunlich unsicherer Stimme. „Ich weiß nicht, was sonst passiert. Du könntest wirklich sterben. Was soll ich dann machen?" Er sah, wie ihre Augen feucht wurden. Sie bemerkte es auch und wollte sie an ihrer Schulter abwischen, ohne ihn loszulassen, wobei sie ihren Hals etwas verkrampfte.

Levi war zu erstaunt, um etwas zu sagen. Mit diesem Stimmungswechsel hatte er nicht gerechnet. Er war es nicht gewohnt, dass die Nervensäge ihre Verletzlichkeit zeigte.

Ihr Versuch ihre Tränen wegzuwischen blieb erfolglos, also vermied sie stattdessen ihn anzusehen und presste ihr Gesicht in die Lücke zwischen ihrer Schulter und seinem Bauch. „Ich kann dich nicht sterben lassen", schloss sie ab, ihre Stimme gedämpft.

Auch Levi entspannte sich etwas. Nun war es ein Leichtes für ihn, seinen rechten Arm zu befreien und sich so auf diesen abzustützen. Seine Position war jetzt um einiges bequemer, auch wenn Motte vor Schreck ihren Griff wieder verfestigte. „Vertraust du meinen Fähigkeiten nicht?", fragte er ehrlich und mit durchaus ruhigerer Stimme als zuvor.

„Doch", erwiderte sie wahrheitsgetreu und blickte zu ihm auf. Ihr Gesicht war etwas gerötet und sie wirkte zerzaust, aber ihre Augen waren nicht mehr feucht. „Aber ich vertraue dem Schicksal hier nicht. Ich will es nicht provozieren, wenn es sich vermeiden lässt."

Es folgte Stille. Die Stimmung war anders als zuvor. Levi hatte das Gefühl, dass es für die Nervensäge um mehr ging als um den bevorstehenden Tag. Ihre letzten Worte klangen so... allgemeingültig. Ihm bereitete das ein mulmiges Gefühl... oder war es... wohlig? Er konnte es nicht benennen. Es war jedenfalls ungewohnt und wieder mal wusste er nicht, wie er damit umgehen sollte.

„Wie wäre es", schlug er schließlich vor, „wenn wir Erwin erzählen, was du mir gesagt hast und wir beide dann seiner Entscheidung vertrauen?" Er war erstaunt, dass er diesen Satz so vorsichtig formuliert hatte; so sanft. Mit Raum zum Widerspruch. Motte zögerte und biss sich auf die Lippe, doch dann nickte sie.

Sie entmanifestierte sich und Levi richtete sich auf. „Du musst mehr trainieren", kommentierte er. „Deine Technik ist lachhaft und Muskelmasse müsstest du auch aufbauen. Immer mehr Leute wissen über dich Bescheid. Kann gut sein, dass du dich bald verteidigen musst."

Die Nervensäge hörte natürlich nur die Kritik in seinen Worten. „Woher soll ich denn Muskeln und Technik haben", protestierte sie beleidigt. „Ich kann mich nur wiederholen, wenn ich sage, dass die größten Gefahren in meiner Welt irgendwelche Naturgewalten sind, die da, wo ich wohne, sowieso eigentlich nicht vorhanden sind. Autos habe ich, glaube ich, auch schon mal erwähnt, aber die werden mit Verkehrsregeln..."

Levi hörte ihr nur noch mit halbem Ohr zu, während er sich umzog. Insgeheim war er froh darüber, wieder die gewohnte Nervensäge da zu haben.


Erst in Trost hatten Levi und Motte die Gelegenheit mit Erwin zu sprechen und zwar kurz nachdem der Bote gekommen war, um zu berichten, dass die Kadetten Reiner Braun und Bertholdt Hoover die Titanen waren, die für den Fall der Mauer Maria vor fünf Jahren gesorgt hatten.

Levi berichtete dem Kommandanten, was Motte ihm erzählt hatte und wie die Geschichte vermutlich ausgehen würde. Als der Schwarzhaarige ihm sagte, dass er einen Arm verlieren würde, lächelte der Kommandant nur und meinte: „Dann werde ich ja noch glücklich davonkommen."

Die Frage, ob er Levi mitkommen ließe, verneinte er. Das Risiko, den Kapitän zu verlieren, wäre unnötig einzugehen und zu groß. Die Nervensäge verfiel daraufhin in lauten Jubel, den nur Levi hören konnte. Er erinnerte sie daran, welche Verluste sie heute noch beklagen würden und sie verstummte sofort.

Die beiden sahen zu, wie Erwin mit hundert weiteren Soldaten aus allen drei Militärsbereichen loszog, um Eren aus den Fängen des Feindes zu befreien. „Nun ja", seufzte Levi ergiebig, „dann hast du zumindest genug Zeit, um mir zu erzählen, was jetzt die nächsten Tage noch so passiert."

„Ah, gut, dass du es erwähnst", meinte sie und begann ihre Finger verlegen aneinander zu tippen. „Ich, hm..." Levi blickte sie an und wusste, dass sie etwas zu sagen hatte, das ihm nicht gefallen würde. „Ich weiß nicht mehr wirklich, was passiert. Das ganze Zukunftszeug... ist fast vorbei." Nervös lächelte sie ihn an.

Er dagegen sagte nichts. Er war viel zu baff, um eine angemessene Reaktion zu zeigen.


Am Abend desselben Tages befanden sich Reiner und Bertholdt mit ihren Gefangenen Eren und Ymir weit draußen innerhalb von Mauer Maria. Sie hatten Zuflucht vor den Riesen auf den Bäumen gesucht. Zwar waren alle vier Titanenwandler, doch zwei waren gefesselt und die anderen beiden zu erschöpft, um sich durch die lauernde Riesenmeute zu kämpfen. Sie hatten bereits über verschiedene Dinge gesprochen wie Loyalität oder die Frage nach dem Warum?

Erens Körper war von heißem Dampf umhüllt, da seine zuvor abgeschnittenen Extremitäten heilen mussten. Sein Mund und seine Augen waren aufgerissen vor Schock. Die Worte, die Bertholdt soeben gesagt hatte, ließen alle Zahnräder in seinem Kopf rattern.

Dieser... Verräter hatte Eren soeben gefragt, ob er ein Mädchen kenne, von dem Reiner und er nichts wussten. „Ich habe ihre Stimme nicht erkannt", hatte der Dunkelhaarige gesagt. Eren hatte einen Verdacht, ließ Bertholdt weitersprechen. „Sie", meinte er zögerlich, „hat mit mir gesprochen, als ich..." Nun stockte er und musste schlucken, ehe er weitersprach. „Als ich das Tor von Trost zerstört habe, hat sie deinen Namen genannt und gemeint, dass ich dich in Ruhe lassen sollte. Ich habe sie gehört, aber niemanden gesehen..."

Eren kam das verdammt bekannt vor.

„Ich... Sie hat mich mit meinem Namen angesprochen. Ich war ein Riese und sie hat mich Bertholdt genannt." Jetzt erst blickte der Sprecher Eren direkt an. Wie immer wirkte er leicht nervös. „Sag, Eren, wer ist dieses Mädchen?"

Der Junge konnte nicht antworten. Zu geschockt war er von dieser Information. Damals in Trost schon hatte sie... Sie hatte es die ganze Zeit über gewusst? Woher? Hatte sie eine Vision gehabt? Oder hatte sie gesehen, wie Bertholdt sich verwandelt hatte?

Gleißende Wut vertrieb den Schock. Es war egal, wie sie an die Information gekommen war. Wichtig war, dass Motte Fabri die ganze Zeit über schon gewusst hatte, wer Reiner und Bertholdt wirklich waren.

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