Menschen

Kapitel 31 – Menschen


„Drei!", jubelte die Nervensäge. Schwer keuchend setzte Motte sich in Levis Zimmer in den Schneidersitz auf. Obwohl sie deutlich erschöpft war, strahlte sie ihn an. Er blickte ungerührt auf sie herab und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. „Eineinhalb. Maximal", korrigierte er sie. „Nur weil du weiterzählst, heißt das nicht, dass es gültig ist. Außerdem hatten wir fünf gesagt."

Nun wütend entmanifestierte Motte sich, sodass sie aufbrausend hochfahren konnte. „Mann, ich hab dir gesagt, dass ich keine Liegestütze kann!"

Weiterhin tonlos änderte er nichts an seiner Haltung, musste jetzt nur leicht hochschauen. „Und keine Sit-Ups, Kniebeuge, Klimmzüge, Dips oder jegliche Übung zum Muskelaufbau. Über Ausdauer brauchen wir gar nicht sprechen. Du hast hoffentlich selbst gemerkt, dass du keine hast", ergänzte er gnadenlos.

Einen Moment lang wirkte es so, als wolle sie vehement widersprechen, doch dann verlor sie alle Körperspannung und sackte sogar wenige Zentimeter tiefer. „Ich weiß das, du musst mir das nicht noch extra reindrücken", schniefte sie gekränkt.

Es war eine Woche her, seit die Identitäten des Kolossalen und Gepanzerten aufgedeckt worden waren und die Aufklärungslegion bei der Rettung Erens die Hälfte seiner Männer verloren hatte. Reiner, Bertholdt und Ymir waren geflohen, doch das war vorerst nebensächlich. Alle erholten sich sowohl physisch als auch psychisch. Sogar Levis Bein ging es besser.

Am heutigen Morgen war offiziell verkündet worden, dass Mauer Rose komplett intakt war. Das bedeutete, dass die Flüchtlinge, die sich zwischenzeitlich im Untergrund aufhielten, wieder in ihre Häuser zurückkehren konnten.

Levi und die Nervensäge hatten in den letzten Tagen nichts Besonderes getan; er hatte seine Worte wahr werden lassen und begonnen mit ihr zu trainieren. Nicht mehr nur die Manifestationen, sondern richtiges Muskeltraining. In dieser Welt konnte das nie schaden, vor allem nicht, wenn man dem stärksten Soldaten der Menschheit wie ein gesprächiger Schatten folgte. Natürlich war dadurch die ein oder andere Diskussion entstanden, aber das war Alltag. Ebenfalls ein Streitthema blieb die Frage der Herkunft der Titanen. Damit wollte sie weiterhin nicht rausrücken, schließlich erfahre er es noch früh genug.

„Versuch's nochmal", forderte Levi sie auf, woraufhin er – wie immer – heftigen Protest zurückbekam. „Levi, wir trainieren schon so lange! Ich kann nicht mehr!", jammerte die Nervensäge. Der Schwarzhaarige seufzte: „Das war vielleicht eine Stunde und die meiste Zeit hast du nur rumgeheult, was für Schmerzen du doch hast."

„Und wie ich die habe!", erwiderte sie sogleich heftig. Es war, als hätte sie es kurzzeitig vergessen und nun, da es Levi erwähnt hatte, hatte sie sich wieder erinnert. „Meine Mum wird misstrauisch. Sie weiß, dass ich keinen Sport mache und trotzdem habe ich jeden Tag Muskelkater!" Es war nicht das erste Mal, dass sie das sagte.

„Du wirst nichts lernen, wenn du nichts tust." Levi sprach das Offensichtliche aus, aber manchmal war das bei ihr nötig.

„Aber ich habe mich schon verbessert", grinste sie wieder. „Vor einer Woche war es nur ein halber Liegestütz. Und ich schaffe inzwischen zehn Sit-Ups." Stolz reckte sie die Brust.

„Mit buchstäblich Schweiß und Tränen", kommentierte der Schwarzhaarige. „Du wolltest es so, also bleib bei deiner Entscheidung." Er blickte erst auffordernd sie und dann den Boden an.

Motte druckste herum. „Hmm...", zögerte sie und schien fieberhaft nach einer Ausrede zu suchen. Schließlich blickte sie aus dem Fenster. „Müssen wir nicht langsam zu Erwin?" Deutlich hörte er, wie Hoffnung in ihrer Stimme mitschwang.

„Was? Bist du scharf darauf, ihn zu besuchen?", brummte er provozierend. Es war eine rhetorische Frage. Sie ließ sich nicht beirren und drehte ihren Kopf zu ihm.

Vielsagend sah sie ihn an. „Du dafür umso weniger." Finster blickte er zurück. Sie wusste genau, weshalb er zurzeit nicht besonders gut auf seinen Vorgesetzten zu sprechen war.

Sie hatten den Kommandanten der Aufklärungslegion bereits einmal besucht. Er genas sich von dem Verlust seines Armes. Sie hatten über den Kampf von letzter Woche gesprochen, in der Eren kurzzeitig die Gabe besessen hatte, Titanen zu befehligen, wenn auch nur unbewusst. Aber vielleicht konnte er diese Fähigkeit irgendwann kontrollieren, das wäre ein unheimlicher Vorteil. Und über Motte hatten sie sich unterhalten. Sehr zu Levis Missgunst. An jenem Tag war er nach dem Gespräch schlecht gelaunt gewesen und mit dem Mädchen hatte er für den Rest des Tages nur noch gezankt.

Erstaunlicherweise ließ Levi sich heute dazu verleiten noch so lange mit der Nervensäge zu diskutieren, bis es tatsächlich Zeit war zu gehen.


Als sie bei Erwin ankamen, merkten sie, dass der Kommandant der Mauergarnison, Dot Pixis, bereits anwesend war. Er saß auf einem Stuhl neben Erwins Bett. Der Kommandant der Aufklärungslegion saß aufrecht darin, der rechte Ärmel seines Hemdes hing schlaff herunter. Seine blonden Haare waren nicht gemacht und sein Kinn unrasiert. Abgesehen davon, war er wieder fast der Alte. Man merkte, wie er vor Tatendrang und Entschlossenheit sprühte. Levi ließ sich ebenfalls auf einem Stuhl nieder. Er war immer noch etwas sauer auf den Kommandanten wegen ihres letzten Gesprächs.

Nach schon kurzer Zeit klopfte es an der Tür. „Das ist Hanji", wusste Levi. Die Brillenträgerin hatte darum gebeten, dass sie sich bei Erwin trafen. Dann hob er die Stimme: „Komm herein!"

Sofort öffnete sie die Tür und entschuldigte sich für die Unterbrechung, jedoch hatte sie nicht mit dem Kommandanten der Mauergarnison gerechnet. Sobald sie ihn sah, salutierte sie und meinte: „Ich bin froh, dass ich gekommen bin, während Sie hier sind, Kommandant Pixis. Das hier ist..." Hinter ihr trat noch jemand ein; ein kleiner Junge mit kurzrasiertem Haar, etwa im Alter von Motte und Eren.

Er stellte sich neben Hanji auf und salutierte vor den Soldaten. „... ein Kadett aus der 104.", stellte er sich vor. „Connie Springer."

„Connie kommt aus dem Dorf Ragako", erklärte Hanji. Da merkten die beiden Kommandanten auf. „Das Dorf, das der scheinbare Ursprung der kürzlichen Titaneninvasion war?", hakte Pixis nach. Die Einheitsführerin bejahte und setzte fort: „Tatsächlich habe ich mich bezüglich der Resultate unserer Nachforschungen im Dorf mit ihm abgesprochen. Die Glaubhaftigkeit unserer Theorie ist dadurch gestiegen. Er kommt, um zu berichten."

Levi fiel auf, dass der Junge die ganze Zeit über seine salutierende Haltung nicht aufgab. Das lag aber nicht an seinem hohen Maße an Respekt, das er zeigen wollte. Eher sah es so aus, als wäre er gedanklich woanders. Er wirkte geschockt.

„Armer Connie...", murmelte die Nervensäge neben ihm leise. Levi blickte zu ihr hoch und sah, dass sie den Jungen mitleidig anschaute. Auch sie wirkte geistig nicht ganz anwesend.

Dann sprach der Kadett aus, worüber er und Hanji wohl gebrütet hatten: „Als ich in Ragako angekommen bin, habe ich einen Riesen gefunden, der sich nicht bewegen konnte. Er lag auf meinem Haus und... hat mich angestarrt." Obwohl er so bestürzt wirkte, sprach er mit erstaunlich fester Stimme. „Seine Gliedmaße waren nicht ausgeprägt genug, um sich zu bewegen. Ich hab mich gefragt, wie er dann da hingekommen ist. Dann ist mir aufgefallen, dass der Riese..." Nun musste er doch schlucken. „... wie meine Mutter ausschaute. Deswegen sind wir zu der Theorie gekommen... dass die Riesen, die plötzlich aufgetaucht sind, vielleicht die Menschen aus dem Dorf gewesen sein könnten." Er hatte alles sehr sachlich vorgetragen, ohne Pause. Zuvor musste er den Text wohl einstudiert haben. Sein Blick ließ den Wunsch vermuten, dass diese Sätze keinen Sinn ergaben.

„In anderen Worten", fasste Erwin ruhig zusammen, „sind die Titanen also in Wirklichkeit Menschen?"

Levi brauchte einen Augenblick, bis der Sinn des Satzes in seinem Kopf angekommen war. Er verstand jetzt Connies Schrecken. Mit geweiteten Augen blickte er zu Hanji, die nur betroffen meinte: „Wir haben bis jetzt keine Beweise dafür."

Auf einmal fühlte Levi sich unheimlich schlaff. Er ließ seinen Kopf hängen und fragte nach: „Willst du mir damit also sagen..., dass ich all die Zeit und Energie verbraucht habe... um Menschen zu töten? Stimmt das?" Ein drückender Schmerz machte sich in seiner Brust breit, sobald er diese Worte aussprach. Mit jedem Schlag, den sein Herz tat, spürte er ihn deutlicher.

Sollte dies tatsächlich die Wahrheit sein, würde seine ganze Welt auf den Kopf gestellt werden.

„Ich habe gesagt, dass wir noch keine Beweise haben", wiederholte Hanji deutlich, man könnte meinen streng. Aber auch bei ihr war Bedrücktheit herauszuhören.

Levi erwiderte nichts. Er fühlte sich scheußlich.


Sobald Hanji, Connie und Pixis sich verabschiedet hatten, entschuldigte Motte sich beim Schwarzhaarigen: „Es tut mir leid. Verstehst du jetzt, warum ich es dir nicht sagen wollte?" Levi blickte aus dem Fenster und sah, wie Connie sich Tränen wegwischte. Er fühlte sich immer noch miserabel. Ein sachtes Nicken war seine Antwort.

Die ganze Zeit über hatte er Titanen getötet in der Hoffnung, etwas Gutes zu tun. Für die Menschheit und für sich. Um seine Schulden wieder gut zu machen. Um ihnen zum Sieg zu verhelfen. Sollte er wirklich Menschen abgeschlachtet haben wie Tiere? Ohne Barmherzigkeit und ohne zu zögern. Es waren keine Monster, die er da vernichtet hatte; die so viel Leid gebracht hatten.

Eine Weile blieb es still, bis das Mädchen auf einmal laut meinte: „Da! Genau das war der Moment, in dem mir Erwin Smith unheimlich wurde!" Levi wandte sich um und sah, wie die Nervensäge anklagend auf den blonden Kommandanten deutete.

Dieser saß in seinem Bett, stierte gedankenversunken vor sich hin... und grinste.

Levi erschrak sich. „Hey", meinte er sichtlich entgeistert. „Sag mir, warum zur Hölle du so lächelst?"

Erwin erwachte aus seiner Trance und wimmelte ab: „Es ist nichts."

„Gruselig!", befand die Nervensäge und schwebte an Levis Seite, der den Blonden immer noch mit offenem Mund anstarrte. Es war, als hätte er ihn ertappt. „Es ist nur", erklärte er, „wir haben damit einen weiteren Schritt zur Wahrheit getan."

Eigentlich sollte Levi nicht überrascht sein. Er wusste, wie sein Vorgesetzter tickte. Rational gesehen, hatte er auch recht, aber der Kapitän war zu aufgewühlt. „Nur einen Schritt, wie?", wiederholte er verbittert und wandte seinen Blick zum Boden. „Wir werden keine Leute mehr haben, bis wir die Wahrheit finden. Das ist es nicht wert."

Erwin blieb entschlossen. „Aber es ist ein weiterer Schritt. Eines Tages werden wir die Mauern durchbrechen, die die Wahrheit verstecken."

Levi würde gerne von seinem Enthusiasmus angesteckt werden, ganz ehrlich, doch es funktionierte nicht. Ihm war übel. Wie hatte er diese Riesen, diese Menschen, nur gewissenlos töten können? Nicht mal richtig darüber nachgedacht hatte er, woher sie kommen könnten. Er hatte schlussendlich einfach angenommen, dass sie immer da gewesen waren. Ihre bloße Existenz diene zur Angst und zum Schrecken der Menschen.

Aber so stimmte das nicht. Er war keinen Deut besser als früher.

Auf einmal spürte er etwas auf seiner Schulter. Verwundert blickte er auf. Motte hatte ihre Hand manifestiert und sie sanft abgelegt. Er schaute sie an. Sie hatte es ihm verschwiegen, weil sie wusste, wie er sich deswegen fühlen würde. Er nahm es ihr nicht übel. Sie hatte ihn schonen wollen. Sogar jetzt waren ihr mitfühlender Blick und ihre Hand – warm und behutsam und nicht brennend kalt wie sonst – Zeichen des Trostes, den er nicht verdient hatte. Er spürte keine Wut in sich, oder Zorn. In ihm waren andere, vertraute Gefühle; nichts weiter als Selbsthass und Entsetzen.

Er wusste nicht, ob sie ihm das ansehen konnte, aber sie lächelte und meinte voller Inbrunst: „Du bist ein guter Mensch, Levi."

Sie klang so überzeugt, er wollte es auch glauben.

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