Liebe

Kapitel 54 – Liebe


Jahr 853

Für Eren war das Leben ein Schleier, nichts weiter als Zeit, die unbarmherzig voranschritt. Jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde war unheimlich kostbar. Um ihn herum veränderte sich die Welt, aber es berührte ihn nicht; als würde jeglicher Eindruck geschmeidig an ihm vorbeigleiten.

Was für ein Sinn hatte das Leben noch, wenn die Tage gezählt waren? Wenn man alles gesehen hatte, sogar sein eigenes Ende? Sein Kopf ratterte ununterbrochen, seine Gedanken waren beständig. Er versuchte sich einzureden, noch eine Wahl zu haben, eine Alternative zu finden. Seine Hoffnung schrumpfte mit jedem Tag.

Heute waren sie in Marley angekommen und taten das, was die Aufgabe von Soldaten der Aufklärungslegion nun einmal war: Auskundschaften. Für seine Freunde war alles fremd und neuartig, hatten zum ersten Mal Autos gesehen und Eiscreme probiert. Er aber kannte das alles bereits; er hatte es in Erinnerungen gesehen, die nicht seine eigenen waren.

In Marley lebten viele verschiedene Menschen. Menschen, die ihnen leckere Köstlichkeiten verkauft hatten. Menschen, die wie sie gingen und lachten und atmeten. Menschen, die unterschiedlich groß, alt, haar- und hautfarbig waren. Menschen, die fremde Sprachen beherrschten, nicht hierhergehörten und sich durch Diebstahl am Leben halten mussten. Menschen, die ebendiese verzweifelten Taschendiebe, noch im Kindesalter, öffentlich bestrafen wollten, um ein Exempel zu statuieren.

Der fremdländische Junge, der Saschas Geldbeutel hatte klauen wollen, war neun, vielleicht zehn Jahre alt gewesen. Beinahe wäre er damit durchgekommen, wenn Levi ihn im letzten Moment nicht erwischt hätte. Die Aktion hatte Aufmerksamkeit auf sie gelenkt und die Leute von Marley wollten das Kind hängen oder seine Hände zerquetschen. Für den bloßen Versuch, ein bisschen Geld zu stehlen. Sie waren mit dem Jungen weggerannt. Zum Dank hatte er den Geldbeutel des Kapitäns gestohlen und war verschwunden.

Eren hatte ihn Stunden später wiedergefunden. Auf einer kahlen Ebene außerhalb der Stadt waren viele Zelte aufgestellt, zwischen denen Menschen herumwuselten. Sie trugen ähnliche Hüte wie der Junge heute Morgen – wie umgestülpte, rote Becher sahen sie aus – und schienen dieselbe Sprache zu sprechen. Eren hatte sofort verstanden, was sie waren: Flüchtlinge, aus ihrer Heimat vertrieben.

Er stand nur da und beobachtete die Menschen. Die Sonne war bereits untergegangen, doch Lichter brannten und Leben blühte.

Was für eine Tragödie.

Nach einer Weile hörte er leichte Schritte hinter sich, eine Frau. Mikasa? Nein. Eren kannte Mikasas Schritte. Das hier war jemand anderes.

„Da steckst du Vollidiot also", grüßte Motte ihn trotz ihrer harschen Worte mit einem weichen Seufzen. Sie trat neben ihn und schaute wie er auch auf die Zelte vor ihnen. „Das wäre deutlich schneller gegangen, wenn ich fliegen könnte", ärgerte sie sich. „Aber wenn ich mich hier entmanifestiere, bleibt erstens die Kleidung liegen und zweitens würde dann das ganz große Drama kommen, wenn mich wieder jeder sehen kann und man die Flügel der Freiheit entdeckt." Frustriert kickte sie ein Steinchen am Boden weg. „Ich bin heute ultralangsam unterwegs."

Nun schenkte er ihr doch einen Blick aus dem Augenwinkel. Wie die anderen auch hatte sie sich der aktuellen Mode auf Marley entsprechend gekleidet – Onyankopon hatte ausgeholfen – und trug dunkle Hosen und einen hellen Mantel. Sie war seit ihrer Ankunft mit ihnen wie ein ganz normaler Mensch herumgelaufen, die Leute von Marley täuschend.

Schweigend musterte er sie. Erst kürzlich hatte sie ihre Haare schneiden lassen. Sie waren wieder genauso lang wie vor drei Jahren. Wie gut er sich noch daran erinnern konnte, als er damals den Kapitän hatte mit der Luft streiten sehen; wie plötzlich aus dem Nichts ein Mädchen aufgetaucht und gleich wieder verschwunden war. Als sie sich ihm richtig vorgestellt hatte, war er verwirrt gewesen, unsicher. Er hatte genug Probleme damit gehabt, seine Titanenkräfte zu verstehen und die gescheiterte Expedition zu verarbeiten. Da war dieses Geistermädchen mit den Zukunftsvisionen in seinem Leben erschienen. Seitdem hatte sie sich äußerlich nur wenig verändert: Sie war gewachsen, hatte den Kapitän inzwischen eingeholt, und war etwas weiblicher geworden. Aber sonst sah sie noch so aus wie mit fünfzehn.

„Was machst du hier?", wollte er wissen.

Sie schnaubte. „Dich suchen, was denn sonst? Ich weiß nicht, ob es dir entgangen ist, aber du bist hier der Staatsfeind Nummer Eins. Es machen sich alle verdammt viele Sorgen um dich, wenn du einfach so verschwindest."

Er ignorierte ihre Worte und drehte sich ihr ganz zu. „Nein", meinte er und sein eindringlicher Tonfall veranlasste sie dazu, verwundert zu ihm hochzuschauen. „Was machst du hier? Hier, in dieser Welt."

Erst war sie verwirrt, dann erkannte sie in seinen Augen, wie ernst er die Frage meinte und sie verzog das Gesicht. „Himmel, was weiß ich? Was machst du hier in dieser Welt? Oder Mikasa? Armin? Levi? Irgendjemand hier?! Was für 'ne blöde Frage!" Schnaubend wandte sie sich von ihm ab.

„Wir", antwortete er schlicht, „sind in diese Welt geboren worden. Du nicht."

„Fängst du schon wieder damit an?", murrte sie und mied seinen Blick. Sie fühlte sich angegriffener, als er erwartet hatte. „Wir haben monatelang rumgerätselt, sind aber zu keinem Ergebnis gekommen. Und dann ist dieses Thema in den Hintergrund gerutscht. Seitdem ist Vieles passiert. Wir haben so schon alle Hände voll zu tun, da können wir uns nicht mit Fragen aufhalten, auf die wir keine Antwort finden."

Kurz wurde es still zwischen ihnen, dann setzte sie noch hinzu: „Weißt du noch, was Onyankopon gesagt hat, als Sasha ihn gefragt hat, warum seine Haut so dunkel ist? Er hat gesagt, dass wer oder was auch immer Menschen erschaffen hat, das Ganze wohl etwas interessanter machen wollte. Dass dieselbe... Macht auch euch, die Eldia mit der Möglichkeit, sich in Titanen zu verwandeln, geschaffen hat. Vielleicht hat auch diese Macht oder Gottheit, dieses Schicksal oder was auch immer dafür gesorgt, dass ich im Schlaf immer hierherkomme."

Für einige Minuten, in denen Eren sie nachdenklich musterte, schwiegen sie. Letztendlich spürte sie seinen Blick und blaffte: „Was glotzt du, als ob ich Scheiße im Gesicht hätte?!" Zweifellos war sie gereizt und er konnte nicht umhin zu bemerken, wie ein Teil des Kapitäns durch sie zu ihm sprach.

„Ich wollte schon seit einer ganzen Weile mit dir reden", gestand er.

„Ach?" Sie zog die Augenbrauen hoch. „Ist ja nicht so, als würden wir uns fast jeden Tag sehen." Um ihre sarkastischen Worte zu unterstreichen, verdrehte sie die Augen. „Schieß los."

Unbeeindruckt löste er den Blick von ihr, lenkte ihn wieder auf die Zelte. „Wie war das für dich damals?", fragte er leise. „Nicht nur in einer fremden Welt zu landen, sondern auch ihre Zukunft zu kennen?"

Sie überlegte. „Gar nicht mal so seltsam, wie es sich vielleicht anhört", erwiderte sie langsam. „Für mich war das davor schließlich nichts weiter als eine Geschichte. Und auch am Anfang, als ich begonnen habe, hierherzukommen, war das eigentlich für mich nicht anders. Es war, als würde ich die Geschichte einfach aus nächster Nähe erleben. Ich habe gedacht, verstanden zu haben, dass das jetzt auch meine Realität ist, aber im Nachhinein kann ich sagen, dass das eine Weile gedauert hat. Erst nach unserer ersten Expedition hat es mir allmählich gedämmert."

„Du hast niemanden erzählt, was passieren wird", erinnerte er sich. „Nicht einmal dem Kapitän. Wieso nicht?"

Betreten kaute sie auf ihrer Unterlippe herum. „Ich... Ganz ehrlich, ich weiß es eigentlich auch nicht so genau. Ich habe gedacht, dass falls ich irgendjemanden dazu bringe, etwas zu tun oder eben nicht zu tun, könnten dadurch viel mehr Menschen sterben. Dass dadurch alles viel schlimmer hätte kommen können..."

Schlimmer als das hier?!

„... Schlimmstenfalls, dass jemand stirbt, den ich... Der halt nicht sterben soll."

„Zum Beispiel?", hakte er nach. „Der Kapitän?"

„Na ja, ja." Er bemerkte, dass ihre Ohren rot wurden. „Aber nicht nur Levi. Auch du oder Mikasa oder Armin. Oder Jean oder Connie oder Sasha oder Hanji. Oder Historia." Verlegen scharte sie mit den Füßen. „Was soll denn die Fragerei?"

Er ignorierte den letzten Teil. „Für unser Leben warst du bereit, die Menschen zu opfern, deren Tode du bereits gesehen hast." Das war eine Feststellung, deren Kenntnis er geistesabwesend abnickte.

„Wenn du es so ausdrückst, fühl ich mich wieder richtig mies."

„Aber es stimmt doch, oder?"

Frustriert stöhnte sie auf und fuhr sich durch die Haare. „Ja! Verdammt, ja, es stimmt! Scheiße, Eren. Das alles ist schon ewig her! Wieso fragst du plötzlich?!"

Betont beiläufig zuckte er die Schultern. „Es interessiert mich nun mal."

„Es interessiert dich?", wiederholte sie und klang so, als ob sie seine Worte anzweifelte. „Was interessiert dich?"

Er zögerte und wich ihrem eindringlichen Blick aus. „Wie es ist, die Zukunft zu kennen und niemanden davon erzählen zu können." Für einen Moment drohte er, sich wieder in seinen Grübeleien zu verlieren, in seinen Gedanken, die sich nur im Kreis drehten, um das Unausweichliche hinauszuzögern. „Es ist hart, nicht wahr?", fügte er noch leise hinzu.

„Eren." Sie sprach seinen Namen mit Bedacht aus und er merkte, wie sie ihn prüfend musterte. „Was ist los?"

Schwerfällig atmete er aus und ließ versehentlich ein kleinwenig von der Last, die er mit sich trug, dursickern. „Würdest du es wieder tun?", wollte er wissen und ging nicht auf ihre Frage ein. „Andere sterben lassen, damit die Menschen, die dir wichtig sind, überleben?"

Sie war überrumpelt. In ihrem Gesicht zeichnete sich Entsetzen ab. „Ich... Ich weiß nicht... Das ist doch..."

„Würdest du?", unterbrach er ihr Stammeln. „Für den Kapitän?"

„Eren", kam es laut von ihr. „Das ist doch lächerlich! Was soll die Frage?! Es ist, wie es ist. Ich... Ich weiß nicht mehr, was passieren wird, also ist dieses Thema auch vollkommen eg-..."

„Motte, beantworte die Frage!", verlangte er und erschrak sie mit seiner drängenden Art. „Bitte." Verdammt, er hörte selbst, wie unglücklich er klang.

Verwirrt starrte sie ihn an, bewegte ihren Mund, als wolle sie Worte formen, die sie noch nicht kannte. Er erkannte Mitleid in ihrem Blick und er schätzte, er sah gerade so verzweifelt aus, wie er sich fühlte. Innerlich verfluchte er sich selbst; er hatte eindeutig zu viel gesagt, hatte das nicht gewollt. Aber ein Teil von ihm war erleichtert, es auszusprechen. Zumindest nur ein kleines bisschen.

„Ja", hauchte sie schließlich und als sie blinzelte, stahl sich eine Träne aus ihrem Auge. Kaum war das Wort über ihre Lippen gerutscht, schlug sie schuldbewusst die Hände über ihren Mund. Dennoch redete sie weiter, ihre Stimme nun gedämpft: „Ich... Ich glaube schon. Für euch. Für... Für Levi." Still und leise rann die Träne über ihre Wange, während ihre Augen sich nicht von Erens lösten, und er sah die entsetzte Ehrlichkeit in ihrem Gesicht.

Dieser nickte, fühlte... beruhigt. Nein, nicht beruhigt.

Bestätigt.

Er betrachtete wieder die Zelte. Neben ihm wischte Motte sich eilig übers Gesicht und versuchte dadurch jede Spur ihres kurzen, emotionalen Ausdrucks zu verwischen. „Sagst du mir jetzt endlich, was mit dir los ist?", fragte sie erneut, war immer noch aufgewühlt. „Himmel, ich weiß gar nicht mehr, wann wir das letzte Mal so lange miteinander geredet haben."

„Es ist nichts los", antwortete er leise, woraufhin sie sofort schnaubte. „Klar, und meine Oma ist der Weihnachtsmann."

Verwundert drehte er sich zu ihr. „Der was?"

„Vergiss es", winkte sie ab. „Jedenfalls glaube ich dir nicht. Was interessiert dich dieses ganze Zukunftszeug? Jetzt, drei Jahre später?"

Gute Frage. Weshalb hatte er drei Jahre gewartet? Weil er meinte, dass es nicht sein konnte? Weil es so unwirklich schien, wie eine Geschichte? Weil ihm allmählich die Zeit davonrann und er einen Entschluss fassen musste?

„Eren", sagte Motte, nachdem er nicht antwortete, und ihre Stimme klang plötzlich schwer. Sie hatte eine dunkle, erschreckende Ahnung. „Was hast du gesehen?"

Oh, es war so einfach, alles abzustreiten. Eine Lüge mehr oder weniger wog nichts im Vergleich zu dem, was geschehen war. Und was noch kommen würde. Aber er wollte nicht. In dem Moment, in dem ihre Frage seine Ohren erreichte, erlebte er jenen Moment von vor drei Jahren erneut, als er die neue Königin als solche anerkannt hatte. Vor seinem inneren Auge zuckten unzählige Bilder; von seiner Heimat, von seinen Freunden, von Insekten im Gras, von Vögeln im Himmel. Vom Meer. Von Wäldern. Von Städten. Von Lachen. Von Weinen.

Von Leben. Von Tod.

Von Hass.

Von Liebe.

„Das Ende", antwortete er. Nur zwei Wörter und sie trugen so viel Schmerz und Leid und Entschlossenheit und Hingabe.

„Das Ende von was?", fragte sie flüsternd und klang, als wolle sie die Antwort eigentlich nicht wissen.

„Von allem", erwiderte er mit derselben Schwere, die er seit Jahren in seinem Herzen spürte. „Ich habe alles gesehen, Motte. Alles und jeden. Aber eine Person habe ich nicht gesehen." Direkt blickte er in ihre fassungslosen Augen und er merkte, wie er wieder in seine Maskerade zurückfiel; das Gesicht hart, die Augen kalt, um sich von allem loszulösen, das ihm Schmerz bereiten könnte. „Dich. Kein einziges Mal habe ich dich gesehen. Aber weißt du, was das Interessante war?"

Zögerlich schüttelte sie den Kopf. „Was?", krächzte sie.

„Nichts, aber auch wirklich gar nichts, war anders", teilte er ihr erbarmungslos mit. „Alles war, wie es geschehen ist. Ohne dich."

„Wovon redest du?" Ihre Stimme war weiterhin nicht mehr als ein Flüstern und ihre Augen schienen abermals feucht zu werden. Verschreckt schaute sie ihn an, wie Beute, die ihrem Jäger direkt gegenüberstand. Hatte sie Angst vor ihm? Hatte er sie verletzt? „Was sollst du gesehen haben? Wann sollst du das gesehen haben?"

Energisch schüttelte er den Kopf. Das war doch vollkommen irrelevant! Sie verstand nicht, worauf er hinauswollte. „Motte", sagte er energisch. „Es war alles genau gleich. Deine Anwesenheit hat nichts verändert. Darum meine Frage: Was machst du eigentlich hier?"

Verdattert starrte sie ihn an und vergaß dabei zu blinzeln. „Was zur Hölle?", entwich es ihr nur leise. Ihre verängstigte Haltung war verschwunden. Stattdessen wirkte sie nun perplex und anschließend sauer. „Scheiße, Eren, ich hab gerade wahnsinnig Lust, dir eine reinzuhauen, und ich bin mir sicher, ich hätte den Segen aller. Außer von Mikasa, denn die würde mir hundertprozentig den Kopf abreißen, sobald du zu ihr petzen gehst. Und ich versichere dir, das ist der einzige Grund, weshalb ich meine Faust noch nicht in dein Gesicht gedonnert habe." Tief atmete sie ein und wieder aus, um sich zu beruhigen. „Willst du mir gerade sagen, dass ich absolut nichts bewirke?! Weil ich nicht in diese Welt geboren worden bin oder so?!" Bei diesen Worten äffte sie Erens Stimme unheimlich schlecht nach. „Denn wenn ja, dann schwöre ich dir, Eren Jäger, wirst du dir gleich in Zukunft dreimal überlegen, ob meine Scheißanwesenheit einen Unterschied macht!"

„Vielleicht ist das ja so", meinte er und nahm das Risiko in Kauf, Opfer von Mottes Zorn zu werden. „Vielleicht", setzte er aber noch hinzu, „bedeutet das aber auch, dass keiner unserer Handlungen zählt. Dass alles so geschehen wird, wie es soll, egal, was wir tun." Diese Worte auszusprechen, tat ihm physisch weh. Ein Drücken in seiner Brust wollte ihn zu Boden zerren und nie wieder aufstehen lassen.

„Was hast du gesehen?", wiederholte sie ihre Frage und schien fast schon bestürzt.

Wieder schüttelte er den Kopf. Dieses Mal, um diese Bilder zu vertreiben. „Das willst du nicht wissen", versicherte er ihr mit überraschend schwacher Stimme.

„Eren." Obwohl ihre Stimme beim Aussprechen seines Namens kurz hochrutschte, war der Griff, mit dem sie ihn an der Schulter packte, fest, sodass er ihr reflexartig ins Gesicht sah. Er entdeckte gewaltige Angst. „Was hast du gesehen? Denn wenn es auch sein Ende war..." Plötzlich brach sie ab und musste heftig schlucken, doch ihre Augen waren beherzter denn je. „Ist mir egal, ob und was vorherbestimmt ist. Ich schwöre dir, dass ich die Zukunft ändern werde, wenn es sein muss!"

Auch wenn sie es nicht ausgesprochen hatte, wusste er ganz genau, von wem sie redete. Diese absolute Entschlossenheit in ihrem Blick zu sehen, ließ beinahe seine Mundwinkel heben. Beinahe.

Auf einmal mischte sich Furcht in ihren Ausdruck. „Und falls das nicht reicht... Falls das nicht reicht, werden du und Zeke... Zusammen wärt ihr wie... wie eine Gottheit, oder nicht? Dann könntet ihr die... Dann könntet ihr seine Zukunft ändern, nicht wahr?" Der Gedanke ihrer eigenen Machtlosigkeit trieb ihr wieder Tränen in die Augen und sie biss sich auf die Unterlippe. „Kannst du ihn retten? Bitte?"

Eren war gerührt, er konnte nicht anders. Er verstand sie nur zu gut. „Abgesehen davon, dass ich nicht weiß, ob ich das kann... Vielleicht wird das ja gar nicht nötig sein."

„Du...", begann sie, stoppte dann aber. Stattdessen schüttelte sie bloß fassungslos den Kopf und nahm die Hand von seiner Schulter. „Wirklich, Eren, du bist echt... Keine Ahnung. Du eben." Unruhig lief sie ein paar Schritte hin und her und fuhr sich übers Gesicht. Es war offensichtlich, dass sie ihre Gedanken sortieren musste. Schließlich wandte sie sich wieder ihm zu. „Du willst also nicht sagen, was du gesehen hast?"

„Nein", erwiderte er bestimmt.

Sie stemmte die Hände in die Hüften und nickte. „Okay", meinte sie. „Ich bin wohl die letzte, die dir deswegen eine Predigt halten darf." Immer noch zappelig trat sie auf der Stelle umher, drehte sich in alle Richtungen. „Ich geh den anderen Bescheid sagen, wo du bist", entschied sie. „Sie machen sich Sorgen."

Gerade, als sie gehen wollte, packte Eren sie nochmal am Oberarm, woraufhin sie heftig zusammenzuckte. „Sag es niemanden", wollte er. Ihre geweiteten Augen wanderten von seiner Hand an ihrem Arm zu seinem Gesicht. „Bitte", setzte er noch mit Nachdruck hinzu.

„Wie gesagt", meinte sie leise, „ich bin die Letzte, die sich beschweren darf." Beruhigt ließ er seine Hand wieder sinken. „Ich hoffe nur, du weißt, was du tust", meinte sie noch.

Er sah das Mädchen vor sich und wusste, dass er dieses Gespräch benötigt hatte. Hoffentlich würde sie ihr Glück finden. Oder besser gesagt, es nicht verlieren. „Ich will auch nicht, dass du stirbst", sagte er. „Du sollst leben."

„Äh..." Verlegen wich sie seinem Blick aus. „Danke... Schätze ich. Du auch. Oder so." Verwirrt schüttelte sie den Kopf, schenkte ihm anschließend ein Lächeln und wandte sich dann um. „Ich hol die anderen."

Kurz schaute er ihr nach. Seine Lage jetzt und ihre Situation damals waren nicht dasselbe, aber ähnlich und das genügte ihm. Auch wenn er ihre Zukunft nicht kannte, spürte er irgendwie, dass dies das letzte richtige Gespräch war, das er mit ihr geführt hatte.

Er wandte sich wieder den Zelten zu. Die Entscheidung war gefallen. Ob von ihm oder etwas anderem, spielte keine Rolle. Eine Wahl hatte es nie gegeben. Während er die Menschen vor sich betrachtete, die sich teils schon zu Bett begaben, teils noch den Abend ausklingen ließen, wurde er sich der unausweichlichen Wahrheit schmerzlich bewusst.

Nun war er es, der Tränen vergoss.

„Eren?"

Mikasa! Er hatte sie gar nicht kommen hören. Schnell wischte er sich übers Gesicht, doch es war zu spät. „Ist etwas passiert?"

„Nein", erwiderte er bloß. „Noch nicht."

„Was meinst du?"

Aus einem der Zelte traten plötzlich mehrere Personen, darunter auch ein bekanntes Gesicht. Es war der Junge, der ihnen am Hafen heue Morgen Probleme bereitet hatte. Als er die beiden sah, winkte er ihnen fröhlich zu. Die anderen beiden Männer schienen sein Vater und sein Großvater zu sein.

„Was ist das für ein Ort?", fragte Mikasa sich.

„Hier leben die Menschen, die wegen des Krieges aus ihrer Heimat vertrieben worden sind", erklärte Eren dumpf und beobachtete, wie der Junge und seine Familie lebhaft miteinander redeten. „So, wie es auch bei uns war. Eines Tages war unser normales Leben plötzlich vorbei. Uns ist alles genommen worden. Unsere Freiheit ist uns genommen worden."

Wie mit Motte zuvor auch, betrachtete er jetzt mit Mikasa die Leute. Doch neben ihr fühlte er sich anders; leichter. Mit ihr hatte er das Gefühl, in die Normalität zurückkehren zu können. „Mikasa", meinte er plötzlich. „Warum kümmerst du dich so viel um mich?"

„Was?", machte sie verwirrt.

„Weil ich dich als Kind gerettet habe?", drängte er. „Oder weil ich deine Familie bin?"

Sie war immer noch überrumpelt von ihm. „Wie? Was?"

„Mikasa", sprach er voller Inbrunst und schaute ihr direkt in die großen, dunklen Augen. „Was bin ich für dich?"


Motte hatte Armin, Jean, Sasha und Connie geholt. Die fünf trafen genau dann ein, als die Familie des jungen Diebes sie zu sich ins Zelt einluden, um warme Getränke zu genießen. Dankbar für das Angebot nahmen sie an. Auch wenn sie nicht dieselben Sprachen beherrschten, konnten sich alle mit Gestik und Mimik verständigen. Der Name des Jungen lautete Ramzi. Er und seine Familie waren – wie Eren bereits bewusst gewesen war – Flüchtlinge. Trotz ihrer misslichen Lage waren sie eine lustige Gesellschaft.

Die Getränke wärmten, brannten sogar ein wenig in der Kehle und allen wurde klar, dass Alkohol enthalten war. Weiter schlimm war das nicht, sie alle – außer Ramzi, der trank aber brav etwas anderes – waren schon mindestens achtzehn Jahre alt. Der Alkohol sorgte für eine ausgelassene Stimmung und Jean, Motte und Connie fassten den Beschluss, noch mehr zu organisieren.

Eine halbe Stunde später ging die Feier dann richtig los. Je mehr getrunken wurde, desto fröhlicher wurden die Gemüter; es wurde gelacht, getanzt, sich umarmt und fleißig weiter gebechert.

Jean, Sasha, Connie und Motte waren mit Abstand die lautesten und irgendwann kam der Zeitpunkt, an dem sich Letztgenannte Gehör verschaffte. „Ich hab euch alle", verkündete sie lallend, sobald sie die Aufmerksamkeit aller hatte, „sehr... sehr... lieb!"

Augenblicklich warf sich Sasha um ihren Hals und die beiden fielen beinahe zu Boden. „Wir dich auch!", kreischte sie begeistert. Währenddessen musste Connie bei dem Anblick der beiden rotbäckigen Mädchen schallend lachen. Halbherzig zog er an Mottes Hosenbund, konnte aufgrund seines Zustandes nur einen Bruchteil seiner Kraft benutzen. „Setzt euch wieder... hin, bevor... bevor ihr euch noch die Köpfe einschlagt."

„Nein!", kam es vehement von Motte und sie verstärkte ihre Umarmung. „Das ist mir wichtig, also lass mich reden, solange es mir nicht zu peinlich ist!" Ihr eiernder Blick schweifte durch die Runde. „Diese Welt... hat meinem anderen Leben wirklich... wirklich nich' gutgetan... Hab die Schule abgebrochen... kann mich nich' um die kümmern, die sich um mich kümmern... muss zu 'ner Psycho-... Psychologin..."

„Wohin?", nuschelte Sasha, die ihren Kopf auf Mottes Schulter abgelegt hatte.

„'Ner... hm... Gedankenärztin."

Armin machte große Augen. „Bist du krank?" Die Sorge war unübersichtlich. Auch ihn hatte der Alkohol nicht kaltgelassen.

Schnell winkte Motte ab. „Nein, nein... Ich hab nur manchmal komische Gedanken... Deswegen bin ich da. Aber das is' jetzt egal! Was ich sagen will... Das alles ist in Ordnung, und zwar... weil ich euch hab! Ich bin... so froh, euch zu kennen, da isses mir egal, was... was halt nich' so schön ist." Sie machte eine Pause, nickte mehrmals, als würde sie ihre Wortwahl für angemessen befinden.

Während er ihren Worten lauschte, musste Eren an ihr Gespräch von vor ein paar Stunden denken. Motte war so schon charakterlich kein Mysterium, der Alkohol lockerte ihre Zunge zusätzlich. Ihm war klar, dass all ihre Worte von Herzen stammten.

„Also", fasste sie zusammen, „Ich mag euch alle sehr gerne und bin froh, dass ihr Teil meines Lebens seid!" Anschließend verbeugte sie sich und sie erhielt trunkenen Applaus. Sie und Sasha begaben sich mehr schlecht als recht auf ihre Sitzkissen zurück.

„Da fällt mir ein", johlte Motte weiter, „was wir in der Schule mal gelernt haben... Zum Thema Liebe..."

„Will keiner hören!", unterbrach Jean hämisch, wofür er Lacher von Connie und Sasha erntete.

Motte schenkte ihm einen finsteren Blick und streckte ihm die Zunge raus. „Ich werd's trotzdem erzählen!"

„Ich will es hören", meldete Mikasa sich, die neben Eren saß. Armin stimmte ihr zu, woraufhin Motte den beiden dankbar zunickte.

„Damals", erzählte sie, „vor vielen Tausend Jahren haben die alten Griechen... Also, Menschen aus Griechenland, was halt ein Land auf unserer Erde ist... Die Griechen haben damals viele schlaue Dinge gesagt, die heute immer noch gesagt werden... Da gab's den einen... War es Aristoteles? Oder Platon? Keine Ahnung, ist auch egal...!"

Eren hatte Schwierigkeiten ihren wirren Worten zu lauschen und ein Blick zu den anderen genügte, um zu wissen, dass es ihnen ebenso erging.

Motte schien davon nicht mitzubekommen, denn sie machte unbeirrt weiter: „Der eine alte, schlaue Grieche hat gesagt, dass man die Liebe in drei..." Demonstrativ streckte sie drei Finger in die Luft. „... Arten einteilen kann: Eros, die leidenschaftliche Liebe; die Liebe des Begehrens. Ihr wisst schon, körperliche Anziehung, rumknutschen, das volle Programm..."

Augenblicklich begannen Connie und Jean in ihren enthemmten Zustand zu johlen. Mikasa und Armin liefen nur rot an und Sasha ließ ein unheimlich dümmliches „Hä?" von sich hören.

„Ah, Sasha, du weißt schon", wollte Connie ihr auf die Sprünge helfen. Mit einer Hand bildete er eine Faust, die andere schlug er mehrmals flach gegen die Seite mit dem Daumen. Motte und Jean mussten kichern, doch Sasha verstand immer noch nicht. Frustriert seufzte Connie auf. „Na ja, was..." Er machte eine umfangreiche Armbewegung, sein Blick streifte erst Mikasa, dann Eren. Kurz zögerte er, dann änderte er die Richtung und wies mit einem hämischen Grinsen zu Motte neben ihm. „Was Motte und ihr Freund so im Schlafzimmer treiben."

Sasha formte langsam ein erkennendes „Oh!" mit ihrem Mund – auch wenn Eren sich nicht sicher war, ob sie wirklich begriffen hatte – doch nun war es Motte, die verwirrt guckte. „Welcher Freund?"

„Ha?" Conni blinzelte. „Na, deiner?"

„Ich hab keinen... Oh, meinst du Finn?"

„Ihr habt doch vor Ewigkeiten Schluss gemacht, oder?", mischte Jean sich ein, dessen Augen anscheinend allmählich schwer wurden. Motte nickte bestätigend.

„Was?", machte Conni verwirrt. „Ech'?!"

„Les'ses Jahr irgendwann", wusste Armin nuschelnd.

„Jap. Finn fand's irgendwie nicht so toll mit einer Schulabrecherin, die zur Therapeutin geht, zusammen zu sein", bestätigte Motte erneut und legte ihre Hand auf Connies Kopf. „Du kriegst aber auch gar nichts mit, was?"

Dieser fluchte nur vor sich hin, während Sasha jubelnd die Arme in die Luft streckte: „Ich hab's gewuss'! Du schuldest mir was!" Immer noch mies drauf, kramte Connie in seiner Hose und drückte anschließend Sasha einige Noten seines Taschengeldes in die Hand.

„Ihr habt darum gewettet...?", begann Jean fassungslos, doch er brach ab. „Ihr kriegt beide absolut nichts mit..."

„Is' egal!", entschied Motte vehement. „Also! Eros. Dann als nächstes: Philia, die Liebe der Freundschaft. Wir nennen es auch platonische Liebe. Liebe ohne Begehren, sie basiert auf... Ja, Freundschaft eben. Liebe muss nicht immer romantisch sein. Geht auch anders. Das, was wir alle..." Sie machte mehrere kreisende Armbewegungen, um in die Runde zu deuten. „... haben, das ist Philia!" Glücklich grinste sie.

Um ihre Worte wirken zu lassen, machte sie eine kurze Pause, in der jeder still war. Der einzige, der zunächst irgendwie reagierte, war Armin, der leise lächeln musste.

Schließlich atmete Sasha schwer aus, klang inzwischen auch müde und seufzte dabei: „Bullshit."

Da brachen Jean und Connie in Gelächter aus. Mikasa und Armin mussten bei der Freude der anderen lächeln und Eren wurde, als er alle betrachtete, warm ums Herz. Motte ließ sich nicht irritieren und verkündete stolz: „Siehst du?! Das ist ein Wort, das ich immer benutze! Dass du es benutzt, bedeutet, dass du viel Zeit mit mir verbracht und dir meine Angewohnheiten... angewöhnt hast. Ein Zeichen der Philia!"

Die Aufmerksamkeit von Erens Freunden war beschränkt, doch das hinderte Motte nicht an ihrem enthusiastischen Vortrag. Armin spornte sie sogar an, indem er mit ehrlichem Interesse nach der dritten Art fragte. „Ah ja, eine bleibt noch übrig." Sie schaffte es, über den Lärm hinweg zu sprechen. „Agape, die... göttliche Liebe." Wieder pausierte sie, doch dieses Mal schien es keine Absicht zu sein; sie musste sich räuspern. „Eros und Philia beziehen sich auf Menschen, die man persönlich kennt. Agape aber..."

Erneutes Zögern. Es war einfach, anzunehmen, dass der Alkohol schuld an ihrem Stottern war. Eren aber war sich nicht sicher, ob das wirklich zutraf. „Agape bedeutet, jeden zu schätzen, zu ehren und... respektvoll zu behandeln. Diese Liebe soll gleich und... und uneigennützig sein." Ihr Mund schloss sich und für einen kurzen Moment blieb es still.

Jean war der erste, der Mottes Worte mit einem ehrfürchtigen Flüstern kommentierte: „Bullshit."

Da wieherten er, Connie und Sasha von neuem los. Sogar Armin musste mit einstimmen und Mikasa konnte sich das Lächeln nicht verkneifen. Es war keinesfalls so, dass sie Motte oder ihre Worte auslachten; sie waren einfach so guter Laune, dass sie die Schwere in den letzten Sätzen nicht bemerkt hatten.

Eren aber hatte das. Und als sich seine und Mottes Augen trafen, erkannte er zweifellos die Schuld in ihnen. Er wusste, dass sie beide an ihr Gespräch von vor einigen Stunden denken mussten, in dem sie zugegeben hatten, was sie bereit wären zu tun. Dass sie egoistisch sein würden, fernab von dem, was Agape besagt.

Ihr stummer Blickaustausch wurde unterbrochen, als Motte noch eine Flasche in die Hand gedrückt und sie zum Trinken aufgefordert wurde.

Sie feierten weiter und Eren gingen Mottes Worte durch den Kopf; sowohl die, die sie ihm vor Stunden vor den Zelten mitgeteilt hatte, als auch die, mit denen sie ihre Gefühle für sie ausgedrückt hatte.

Ihm war bewusst, was geschehen würde. Was er tun würde. Und was er dafür opfern müsste.

Während die Nacht voranschritt, wurden sie allmählich müde und begaben sich immer mehr in horizontale Positionen. Sie dösten und schlummerten neben- und übereinander, schafften es nicht einmal, die Lampen zu löschen.

Irgendwann fanden Levi, Hanji und Onyankopon die kleine Gruppe. Ihre Ankunft wurde nur von den wenigsten bemerkt, die meisten waren in den Schlaf geglitten. „Meine Güte", hörte Eren Hanji seufzen. Er war wach, ließ aber seine Augen geschlossen. Am Klang ihrer Schritte wusste er, dass sie ins Zelt lief, um die Situation besser einschätzen zu können.

„Immerhin sind sie wohlauf", meinte Onyankopon.

„Sie werden morgen kaum ansprechbar sein", prophezeite der Kapitän brummend. In seiner Stimme jedoch schwang nur wenig Vorwurf.

„Levi?", kam es benommen von Motte. Eren hörte Rascheln und Ächzen, gefolgt von genervtem Stöhnen, was ihn dazu verleitete, die Augen zu öffnen. Er lag zwischen Armin und Mikasa und musste seinen Kopf nur ganz leicht drehen, um einen Überblick zu bekommen.

Motte erhob sich auf schwankenden Beinen, hatte dadurch Sasha geweckt, die wiederum Connie aufgeschreckt hatte. die letzten beiden drehten sich um, beschwerten sich über den Lärm und das Licht. Hanji und Onyankopon versuchten mit ihnen zu reden, doch es brachte nicht viel.

Motte unterdessen schwankte auf den Kapitän zu. In dem allgemeinen müden Gewusel war Eren der einzige, der die zwei sah und hörte. „Levi!", meinte sie erneut, dieses Mal deutlich vergnügter. Ehe es sich der Kapitän – oder Eren – versah, hatte sie ihre Arme um den Schwarzhaarigen geschlungen und rieb ihre Wange gegen seinen Kopf. „Wir haben uns ja ewig nicht mehr gesehen! Ein Glück, dass du da bist!"

„Das waren nur ein paar Stunden", entgegnete er deutlich schlechter gelaunt und drückte das Mädchen von sich. „Bleib weg von mir. Du stinkst nach Alkohol. Hoffentlich hast du nicht zu viel getrunken."

„Ach", machte sie und winkte ab. „Ich weiß, wie viel ich vertrage!"

„Aber der Alkohol ist nicht aus deiner Welt", erinnerte er sie und ihr Lächeln schwand augenblicklich. „Oh, scheiße", murmelte sie nur.

Der Kapitän seufzte. „Du wirst bestimmt eine Woche nicht zu gebrauchen sein."

Langsam schüttelte sie den Kopf, war offensichtlich noch zu betrunken, um die Folgen ihrer Taten komplett zu begreifen. „Ganz ehrlich: Is' mir grad egal. Levi, ich brauche dich." Sie hängte sich bittend an seine Schulter und flüsterte so laut, dass Eren es problemlos verstand: „Ich muss ganz dringend aufs Klo!"

„Und dafür brauchst du jemanden?" Skeptisch runzelte Levi die Stirn. „Wenn du nicht mehr alleine pinkeln kannst, zieh dir Windeln an."

Ungerührt von seinem Kommentar, erklärte sie sich winselnd: „Ich muss schon seit Stunden! Aber ich kann hier nicht gehen, sonst mach ich ins Bett oder so. Aber wenn ich jetzt aufwache, wird die Kleidung..." Mit unkoordinierten Bewegungen wies sie an ihren Körper herunter. „... hierbleiben. Runterfallen. Sowas halt. Und wenn ich wiederkomme, werde ich sie brauchen. Aber wenn ich mich dann manifestiere..."

„... sieht man die Flügel der Freiheit", endete Levi und nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte.

„Genau", meinte Motte. „Es geht nur ums Kleidung aufbewahren... Und die da..." Sie fuchtelte zu Eren und den anderen. „... sind viel zu besoffen, um eine derart wichtige Aufgabe auszuführen."

„Du bist unverbesserlich", seufzte der Kapitän erbarmungslos.

Sofort zog sie die Augenbrauen zusammen. „Genauso wie du." Dann änderte sich ihr Ausdruck wieder. Sie faltete die Hände vor der Brust und bettelte ihn mit großen Augen an. „Kannst du mir helfen? Bitte-bitte-bitte-bitte-..."

„Schon gut, ich pass auf deine beschissene Kleidung auf", unterbrach er sie sichtlich genervt.

„Danke, Levi!" Erneut drückte sie ihn fest. „Du bist der Allerbeste, weißt du das?"

„Und du die Allerschlimmste", gab er zurück und schob sie wieder weg. „Jetzt geh, bevor du hier alles vollpinkelst."

Motte verschwand augenblicklich; zurück blieb nur ihre Zivilkleidung, die sang- und klanglos vor dem Kapitän zu Boden fiel. Er ließ ein tiefes Seufzen von sich hören. Doch als er sich bückte, um die Kleidung nicht nur aufzuheben, sondern auch ordentlich zusammenzufalten, entging Eren nicht das sanfte Lächeln auf Levis Lippen.

Er meinte zu verstehen, was Motte versucht hatte, ihnen allen zu sagen; dass Liebe nicht nur strikt einem Schema folgte, sondern dass sie vielfältig und auf jede Weise einzigartig war. Heute Abend hatte er die Menschen, die ihm am wichtigsten waren, lachen sehen. Jetzt gerade schlummerten sie alle friedlich beisammen. Indem er seinen Kopf in eine bequemere Position drehte und seine Augen wieder schloss, verbrachte Eren die Reste dieser Nacht in Ruhe, direkt zwischen seinen Kindheitsfreunden.

Er wollte ihn genießen, diesen letzten Augenblick der Liebe.

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