Levis Entscheidung

Intermedium – Tag 842


„Ich habe hier vor mir die Berichte meiner Kollegen liegen. Wenn ich das richtig sehe, haben Sie bis jetzt noch keine Behandlung abgeschlossen. Es ist auch schon eine ganze Weile her, seit Sie das letzte Mal in Therapie gewesen sind. Darf ich fragen, woran das gelegen hat?"

„Ich habe mich nicht gut betreut gefühlt."

„Inwiefern?"

„Ihre... Kollegen haben mir nicht das geben können, was ich gebraucht habe."

„In den Berichten haben sie einige Verdachtsdiagnosen verzeichnet: Depressionen, Schizophrenie, Paranoia... Hier steht, dass Ihnen die Überweisung zu einem Psychiater empfohlen worden ist, Sie aber abgelehnt haben."

„Richtig."

„Hat es dafür einen bestimmten Grund gegeben?"

„Ich habe das Gefühl gehabt, falsch eingeschätzt worden zu sein. Deshalb traue ich den Diagnosen nicht."

„Ich verstehe. In den Berichten steht auch, dass sie sich vor allem wegen ihrer Aggressionen vorgestellt haben."

„Ja. In der Schule hat man mir schon geraten mit unserem Vertrauenslehrer zu reden, weil ich schnell in Streit geraten bin, doch der hat schnell aufgegeben und zu meiner Mutter gemeint, dass ich professionelle Hilfe bräuchte."

„Wann war das in etwa?"

„Vor ungefähr zwei Jahren."

„Und danach haben Sie sich professionelle Hilfe gesucht?"

„Hm, ja. Es hat etwas gedauert, doch ich hab eingesehen, dass... ich das vermutlich brauche."

„Ein mutiger Schritt meiner Meinung nach. Zu ihren angegeben Aggressionen haben meine Kollegen noch weitere Symptome festgestellt, hauptsächlich eine nicht-organische Psychose mit dem Schwerpunkt Wahnvorstellungen... Sie verziehen das Gesicht. Stimmen Sie nicht damit überein?"

„Ich habe keine Wahnvorstellungen."

„Auch das steht hier geschrieben. Sie sind also der Überzeugung, dass die Träume, die Sie sie nachts haben, tatsächlich so passieren?"

„Nein, ich bin nicht überzeugt davon. Ich weiß, dass sie wahr sind. Es sind keine Träume. Ich träume seit Jahren nicht mehr. Das habe ich Ihnen vorhin doch gesagt."

„Das ist mir klar. Ich wollte nur nochmal sichergehen."

„Ich weiß, es klingt verrückt. Ich hab es selber nicht glauben können. Genau das ist mein Problem: Ich weiß, dass meine Gedanken nicht mehr der Norm entsprechen, dass ich mich seltsam verhalte. Ich kann auch genau sagen, was die Ursache dafür ist, das ist nicht schwierig. Nein, einfach mit jemanden darüber reden zu können ist der Knackpunkt. Die Leute – ihre Kollegen mit eingeschlossen – denken doch nur ich wäre gaga."

„Mit wie vielen Menschen haben Sie denn schon darüber gesprochen?"

„Abgesehen von den anderen Psychologen nur mit meiner Mutter. Sie war bis jetzt die Einzige, die mir geglaubt hat. Aber mit ihr kann ich nicht wirklich reden. Sie macht sich so schon zu viele Sorgen."

„Dann verurteilen Sie mich nicht bitte, wenn ich Ihnen sage, dass auch ich meine Schwierigkeiten habe. Sie behaupten, nachts in eine andere Welt zu wechseln, richtig?"

„Genau."

„Können Sie mir das denn auf irgendeine Art beweisen?"

„Glauben Sie mir etwa?"

„Ich möchte es auf jeden Fall versuchen."

„Dann... müsste ich dafür einschlafen. Also, hier und jetzt."

„In Ordnung. Tun Sie sich keinen Zwang an."



Kapitel 50 – Levis Entscheidung


Levi hatte seinen Sinn für Zeit verloren. Nachdem er mit nichts weiter als zwei Klingen und fast aufgebrauchten Gasflaschen die Titanen erledigt hatte, war er Zeke und dem Karrentitan hinterhergeeilt, Richtung Shiganshina. Er konnte sich nicht an Details erinnern, wusste nur, dass er eine Menge Wut und Verzweiflung und vor allem Erschöpfung spürte. Gegen Letzteres anzukämpfen war nichts Neues für ihn. In seinem Kopf gab es nur noch einen Gedanken und der war, dass er sein Versprechen erfüllen musste.

Motte hatte ihn dazu gedrängt, sie loszuschicken, damit sie ihm Gas und Klingen besorgte. Das hatte er ihr verboten, hatte ihr geraten, dass sie lieber nach Überlebenden schauen sollte. Sie wollte gehorchen, da war sie plötzlich verschwunden. Aufgewacht vermutlich. Oder eher geweckt worden. Ein Stück hatte es ihn erleichtert. In ihrer Welt war sie sicherer.


„Mum! Ich hab gesagt, ich hab keinen Hunger!"

„Dein Magen hat doch gerade geknurrt! Außerdem musst du etwas essen! Ich habe extra darauf gewartet, dass du von selbst aufwachst."

„Du hättest nicht auf mich warten müssen... Na schön, aber können wir uns bitte beeilen?"

„Hast du etwa noch einen Termin?"

„Ich bin müde, ich will ins Bett."

„Du hast doch bis jetzt die ganze Zeit geschlafen!"

„Na, und? Ich bin trotzdem müde. Hat anscheinend nicht gereicht."

„Schatz, weinst du etwa?"

„Nein. Hab gegähnt, deswegen tränen die Augen jetzt."

„Wirst du etwa wieder krank? Du bist tatsächlich etwas blass. Mein Gott, das häuft sich ja dieses Jahr ziemlich bei dir..."

„Keine Ahnung. Vielleicht ja. Ich glaube, dass Schlaf mir guttun wird."

„Aber immerhin scheinst du ja gut Appetit zu haben, so wie du dein Essen schlingst. Pass auf, dass du dich nicht verschluckst."

„Schmeckt echt gut, Mum."

„Oh je, du weinst ja doch!"

„Nein... Ja... Keine Ahnung... Ich fühl mich kaputt. Ich geh wieder schlafen, wenn's dir nichts ausmacht."

„Natürlich nicht. Gute Besserung, Schatz!"

„Danke, Mum."


Als Levi vor der Mauer stand, blickte er nicht einmal hoch, er schoss einfach seine Haken ab und ließ sich nach oben ziehen. Sobald er oben angelangt und wieder festen Boden unter den Füßen hatte, schwankte er einen Moment. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen.

Irritiert schüttelte er kurz den Kopf. War er etwa so entkräftet? Als sich sein Sichtfeld wieder normalisierte, erkannte er, dass Motte vor ihm stand. „Du bist wieder da?"

„Ja, meine Mum hat mich geweckt", erklärte sie schnell. Sie wirkte besorgt. „Levi, du solltest... es sein lassen. Dich ausruhen. Du bist am Ende, so könntest du Zeke, glaube ich, sowieso nicht besiegen."

Für einen Moment nahm sein Zorn Überhand. „Aber ich muss! Das ist keine Frage des Könnens!" Entschlossen wollte er zum anderen Rand der Mauer marschieren, aber es wurde mehr ein Schlurfen. „Levi...", starrte Motte den halbherzigen Versuch ihn aufzuhalten und folgte ihm.

Am Rande der Mauer blieb er kurz stehen und blickte auf Shiganshina hinab. Mit wilden Augen nutzte er seine erhöhte Position, um die Gegend abzusuchen. Dann entdeckte er den Karrentitan auf einem der Dächer nahe der Mauer. Auf und um ihn herum befanden sich mehrere Personen, aber Levi konnte nicht genau ausmachen, um wen es sich dabei handelte.

Es war nicht wichtig. Er ließ sich von der Mauer fallen, woraufhin der Karrentitan mit Zeke über die Dächer sprang und davonrannte. Sein Ziel schien jenseits Mauer Maria zu sein. Levi ignorierte Mottes Proteste und landete auf dem Dach, auf dem kurz zuvor seine Ziele gewesen waren. Eren war einer der Personen, die sich ebenfalls hier befanden. „Ich jage ihnen nach, aber mein Gas ist aufgebraucht! Gib mir schnell neues und auch deine Klingen!", verlangte er eilig vom Jungen und streckte die Hand aus.

„Verstanden!", meinte Eren sofort und fummelte an seiner Ausrüstung herum. Levi beachtete das Geistermädchen nicht, das immer wieder seinen Namen rief, und starrte den Jungen eindringlich an. Um seine türkisfarbenen Augen zeichneten sich Titanenmale ab. „Beeil dich!", drängte er ihn.

„Levi!!"

Am liebsten würde er die Nervensäge anfahren, doch ein Geräusch hielt ihn davon ab. Es klang wie ein schwaches Husten, eher war es ein Röcheln. Es verleitete Eren dazu innerzuhalten und sich in der Hocke umzudrehen.

Erst jetzt nahm Levi die anderen zwei Personen richtig wahr. Neben Eren, an der Schräge des Daches, lag ein großgewachsener Schwarzhaariger, dessen Arme und Beine fehlten. Aus den Stümpfen dampfte es und um seine geschlossenen Augen wies er Titanenmale auf. Da Levi inzwischen wusste, wie Reiner und Zeke ausschauten, schlussfolgerte er, dass es sich hierbei um Bertholdt handeln musste.

Innerlich zuckte Levi zusammen, als er die zweite Person erblickte. Direkt hinter Eren lag ein schwarz verkohlter Körper; jemand, der am ganzen Leib verbrannt worden war. Es war diese Person, die gehustet hatte.

„Levi!!", sagte Motte erneut und sein Fokus verschob sich auf sie. „Lass es gut sein, bitte!", flehte sie. „Es hat jetzt keinen Sinn mehr, ihnen hinterherzurennen."

Für einen Moment blickte er wortlos in ihre bittenden Augen zurück, dann schaute er wieder an ihr und Eren vorbei zu der verkohlten Gestalt, die inzwischen flach atmete. Die Person war noch am Leben!

„Armin...!", hauchte Eren fassungslos und starrte den Körper an.

„Armin?!", wiederholte Motte laut und wandte sich blitzschnell dem Scheintoten zu. Da Eren erschrocken zusammenfuhr, musste sie ihre Stimme manifestiert haben. „Das ist Armin?!" Sie klang schockiert.

In Levis Brust machte sich ein dumpfes, unangenehmes Gefühl breit.

„Er hat sich geopfert, um Bertholdt zu besiegen", erwiderte Eren scheinbar geistesabwesend. Auf einmal kam Leben in ihm auf und er beugte sich eilig über seinen Kindheitsfreund.

„Kapitän!" Mikasa kam von sonst wo zu ihnen aufs Dach. „Wir haben..." Sie brach ab, sobald sie die Situation wahrnahm.

„Er atmet wieder! Armin! Armin, du darfst nicht aufgeben!!", schrie Eren diesen verzweifelt an. „Komm schon, mach weiter so! Weiter atmen!!"

„Armin...?", hörte Levi Mikasa bestürzt murmeln und er sah, wie sich in Mottes Augen Tränen sammelten.

Mit wässrigen Augen wandte sich Eren ihm zu. „Kapitän! Holen Sie die Spritze!", verlangte er energisch. Fast schon automatisch und ohne jemanden anzuschauen, kramte er langsam nach dem Kästchen. Das dumpfe Gefühl in ihm wurde präsenter, schwerer. „Beeilen Sie sich bitte!", schrie Eren und klang fast schon verzweifelt. „Verwandeln Sie Armin in einen Riesen und dann lassen wir ihn Bertholdt fressen! Bitte injizieren Sie ihm das Serum!" Er war den Tränen nahe.

Das verstand Levi. Er und Mikasa waren gerade dabei einen sehr guten Freund zu verlieren. „Ja...", stimmte er leise zu und starrte auf das schwarze Kästchen in seiner Hand. Bis jetzt hatte Levi sich an den kleinen Funken der Hoffnung geklammert, dieses Serum Erwin geben zu können. Vielleicht hatte er ja wie durch ein Wunder die Angriffe des Tiertitanen überlebt. Aber Erwin war nun einmal nicht hier, sondern Armin. Und für ihn bestand noch eindeutig die Chance zu überleben.

Am Rande nahm Levi wahr, wie Mikasa ein rotes Rauchsignal abfeuerte. Vermutlich ein Zeichen an die anderen. Wie viele es wohl geschafft hatten?

Er reichte das Kästchen Eren, der danach griff. Beide hielten inne, als jemand zu ihnen nach oben aufs Dach kletterte. „Kapitän... Levi... Endlich hab ich Sie gefunden..."

„Der?", meinte Motte perplex, ihre Stimme nichts weiter als ein Hauchen. Es war der rothaarige Rekrut, der ihn mit einem von Horror gezeichneten Gesicht anblickte. Er hatte überlebt. Auf seinem Rücken trug er jemanden. Blonde Haare war momentan alles, was man von dieser Person sah.

„Kommandant Erwin ist schwer verletzt", teilte ihm der Rekrut atemlos mit. „Sein Magen ist durchlöchert und seine Organe zerstört! Es hört einfach nicht auf zu bluten! Ich dachte die Spritze könnte vielleicht helfen, aber... Was denken Sie?"

Ohne zu blinzeln, starrte Levi auf Erwins leblosen Körper. Erwin war noch am Leben. Von allen, die es hätten sein können, war es wirklich Erwin. Ein Teil von ihm konnte es nicht fassen, einmal im Leben Glück zu haben.

Ein Teil von ihm wurde klar, dass der Bericht über Erwins Zustand alles andere als Glück war.

„Oh, nein...", flüsterte Motte neben ihm nur.

Levi nahm das Kästchen aus Erens Reichweite, drückte es sich an die eigene Brust. Die Schwere in ihm wollte nicht verschwinden, doch jetzt klopfte sein Herz schneller, fast schon dagegen an. Das tat weh.

„Kapitän?", kam es erstaunlich nüchtern von Eren.

Sie legten Erwin ebenfalls aufs Dach. Seine Augen waren geschlossen, sein Mund leicht geöffnet. Levi hielt seine Hand unter dessen Nase und stellte fest, dass er wirklich noch atmete. „Er lebt noch", teilte er den anderen mit.

Mit einem Mal fühlte sich Levi ausgehöhlt, leer. Ein befremdliches Gefühl, als hätte er einen tauben Arm, nur dass es eben sein Inneres war. Es erleichterte das Denken: Plötzlich schien es klar, es lag auf der Hand. Die Antwort war so simpel, dass es fast lächerlich war sie auszusprechen. Er richtete sich auf und schloss seine Finger fester um das Kästchen. „Ich werde das Serum Erwin geben", entschied er.

Sofort sprang Eren auf die Beine, trat dicht an ihn heran und starrte mit zusammengeknirschten Zähnen auf ihn herab. „Sie sagten, Armin wird sie bekommen!", erinnerte er ihn grollend.

Levi hatte sich gedacht, dass sein Entschluss nicht einfach hingenommen werden würde. „Ich werde denjenigen beleben, der die Menschheit retten kann", argumentierte er rein rational.

„Halt...", meinte Motte erschrocken zu Mikasa, was Levi dazu verleitete über seine Schulter zu ihr zu linsen. Die Schwarzhaarige zog eine Klinge und tat einen Schritt auf ihn zu. Ihre Haltung war bedrohlich, ihr Blick nur schmerzlich. „Leute, tut das nicht", bat das Geistermädchen inständig.

Levi verstand die Situation auch. Eren und Mikasa waren bereit ihn anzugreifen, wenn es sein müsste. „Ihr beide", sprach er zu ihnen. „Habt ihr überhaupt die geringste Ahnung, was ihr da gerade tut? Das ist Erwin, der Kommandant der Aufklärungslegion. Und ihr sagt, wir sollen ihm beim Sterben zugucken?!" Er unterdrückte ein erschöpftes Seufzen. „Wir haben keine Zeit. Kommt mir nicht in die Quere!"

Er wollte sich Erwin zuwenden, da griff Eren nach dem Kästchen. Zwar zog er nicht daran und wollte es Levi so aus der Hand reißen, doch die Geste war unmissverständlich. Der Junge machte keine Anstalten zurückzutreten. Seine Gestalt überragte Levis. „Eren", sprach er mit ruhiger Stimme, „lass deine Gefühle aus dem Spiel."

„Meine Gefühle aus dem Spiel lassen?", wiederholte er gepresst. „Sagen Sie mal, wieso haben Sie die Spritze vorhin nicht sofort überreicht?!"

Das war eine gute Frage. Ohne zu zögern, antwortete Levi ehrlich: „Weil ich die Möglichkeit in Betracht gezogen habe, dass Erwin noch am Leben sein könnte."

„Sie hätten nicht wissen können, dass Flocke den Kommandanten hierherbringt!", warf Eren ein. Flocke war dann wohl der rothaarige Rekrut.

„Du hast recht", räumte Levi ein, „aber da Erwin nun hier ist, werde ich das Serum ihm geben."

Bei diesen Worten wollte Eren das Kästchen an sich reißen, doch Levis Reflexe hatten ihn noch nicht verlassen. Blitzschnell schlug er ihm mit der Faust ins Gesicht, sodass Eren das Dach herunterrutschte. Motte erschrak sich und schrie kurz auf.

Da ging es mit Mikasa durch. Sie stürzte sich auf Levi und schaffte es, ihn zum Fall zu bringen. Mit einer Hand hielt sie ihn fest, mit der anderen hielt sie ihre Klinge gegen seine Kehle, wobei sie über ihm kniete. Levi stemmte sich gegen sie, aber ihm fehlte die Kraft. Der Kampf gegen die Titanen und Zeke hatte ihn ausgelaugt.

„Hey!", rief Flocke erschrocken.

„Nicht!" Das war Mottes Stimme. Aus dem Augenwinkel sah Levi, wie sie angesaust kam und sich im letzten Moment einen Körper gab. Den Schwung vom Flug mitnehmend warf sie sich auf Mikasa, sodass die beiden über das Dach rollten.

„Was zur...?!" Es war vermutlich das erste Mal, dass Flocke Motte gesehen hatte und dann auch noch so plötzlich.

Levi konnte sich aufsetzen und sah, dass das Mädchen sich wieder entmanifestierte, bevor sie komplett herunterfiel. Mikasa wollte die Gelegenheit nutzen und sich wieder auf ihn stürzen, doch Motte handelte schnell und warf sich ein zweites Mal auf sie, dieses Mal von hinten. Innerhalb von Sekunden verschaffte sich Mikasa genügend Freiraum, um ihre Arme benutzen zu können. „Willst du Armin sterben lassen?!", schrie sie sie an.

Ihre hellbraunen Haare peitschten wild um ihr Gesicht, als Motte heftig den Kopf schüttelte. Wie auch Eren und Mikasa war sie den Tränen nahe. „Auf gar keinen Fall!", versicherte sie ihr heftig.

„Dann lass mich los!", verlangte die Schwarzhaarige, die sich zu Levi ziehen wollte.

Motte packte nur fester zu. „Auf gar keinen Fall!"

Bei ihrem Befreiungsversuch verpasste Mikasa Motte halb versehentlich einen Kinnhaken, doch das Mädchen ließ nicht los. Levis Arm jedoch zuckte kurz. „Ihr solltet das genauso gut wissen!", sagte er nachdrücklich, solange er die Möglichkeit dazu hatte. „Ohne Erwins Talent können wir die Titanen nicht besiegen!"

„Er hat recht, Mikasa!", meldete sich Flocke. „Hör auf mit dem Wahnsinn!" Dafür schenkte sie ihm einen zornigen Blick und er wich zurück.

„Genauso ist es auch bei Armin", vernahmen die vier Erens schwache Stimme von der anderen Seite des Daches.

„Eren!", rief Mikasa sofort.

„Ist es nicht immer schon so gewesen?" Mühselig stemmte er sich auf und hievte sich langsam Richtung Dachspitze. „Armin ist der Grund, weshalb wir Trost mit einem Felsen versiegeln konnten. Er hat Annies Identität aufgedeckt. Es war seine Idee sich nachts zu bewegen! Und er war dafür verantwortlich, dass wir Reiners Versteck gefunden und Bertholdt besiegt haben! Das war alles wegen Armin! Der, der die Menschheit retten wird, bin nicht ich oder der Kommandant! Es wird Armin sein! Stimmt's, Mikasa?!"

Durch diese Worte schien sie neue Kraft zu bekommen. Sie stieß Motte von sich, indem sie ihr heftig in die Seite schlug, und stürzte sich erneut auf Levi oder genauer gesagt, auf das Kästchen. Ihre Finger umschlossen es kräftig und würde er es nicht umklammern als würde sein Leben davon abhängen, hätte sie es bereits an sich gerissen. „Geben Sie mir das bitte!", verlangte sie energisch.

Zorn durchzuckte das hohle Gefühl in ihm, als Levi hörte, wie Motte unter Schmerzen Mikasas Namen ächzte, und er biss wütend die Zähne zusammen. Er war immer noch zu schwach, um gegen sie anzukommen.

„Derjenige, der die Menschheit retten wird, ist Kommandant Erwin", meinte Flocke ernst.

„Halt die Klappe!", fuhr sie ihn an.

„Werde ich nicht", erwiderte er fest. „Denkt bloß nicht, ihr wärt die Einzigen, die es schwer hatten! Ihr wisst es vermutlich nicht, aber auf der anderen Seite dieser Mauer gibt es keinen einzigen lebenden Soldaten. Alle sind gestorben, als der Tiertitan Felsen auf uns geschmissen hat. Ich hätte nicht gedacht, dass irgendjemand gerettet werden könnte, aber Kommandant Erwin war die einzige Ausnahme. Er hat sich einen Plan ausgedacht, wie wir den Tiertitan besiegen können und das taten wir. Alle wurden zerquetscht, so wie geplant. Und ich bin mir sicher, dass sie in ihren letzten Momenten nur Furcht gefühlt haben."

Flocke hielt für einen Moment inne. Vor seinem inneren Auge schienen sich Erinnerungen abzuspielen. Als er wieder sprach, klang seine Stimme erstaunlich hohl: „Als ich den Kommandanten lebend gefunden habe, wollte ich ihn umbringen."

Levi schnappte kaum hörbar nach Luft, während Mikasa ihn immer noch unten hielt. Mit diesen Worten hatte er nicht gerechnet.

„Aber das wäre zu leicht für ihn", setzte Flocke fort und betrachtete Erwins bewusstloses Gesicht mit einer Mischung aus Abscheu und Ehrfurcht. „Ich denke, er hat es verdient, noch mehr von dieser Hölle zu kosten."

Die Hölle. Dieses Leben. Diese Welt. Levis derzeitige Gefühllosigkeit taute allmählich auf und Gedanken schossen durch seinen Kopf wie wütende Peitschenhiebe.

„Und dann habe ich es begriffen." Flockes Lippen verzerrten sich zu einem merkwürdigen Grinsen, dem jede Freude fehlte. „Nur ein Teufel kann die Titanen vernichten! Und den Teufel zurückzubringen, ist meine Aufgabe im Leben! Das muss der Grund sein, weswegen ich, ein Feigling, überlebt habe, während alle anderen gestorben sind! Also geh ihm aus dem Weg!"

Flocke wollte sich auf Mikasa werfen, doch die hob ihre Klinge an. Da sie dadurch ihr Gewicht von Levi nahm, konnte er sich wieder bewegen. „Tu's nicht!", rief er und hielt sie an dem Arm fest, der bereit war, den Rekruten aufzuschlitzen.

Alleine hätte Levi sie nicht aufhalten können, doch eine andere Person schmiss sich gleichzeitig von hinten auf Mikasa und umklammerte ihren Oberkörper. „Hanji!", erkannte Levi überrascht und er bemerkte, dass ein kleiner Teil von ihm erleichtert war. Sie sah lädiert aus, hatte ihre Brille verloren und ihr linkes Auge war bandagiert, doch sie war am Leben. Sie schaffte es, das zornige, schwarzhaarige Mädchen von Levi zu hieven und im Zaum zu halten.

Connie, der eine bewusstlose Sascha auf dem Rücken gebunden hatte, und Jean landeten ebenfalls auf dem Dach. „Ihr... wollt mich doch verarschen...", hauchte der Letztere fassungslos, als er die Situation erblickte. „Das gibt's doch nicht", stimmte Connie leise zu und auch Hanji schien die Lage zu begreifen. Levi erkannte es an der Art, wie ihr gesundes Auge bestürzt zwischen Erwins und Armins Körpern hin und her zuckte.

Levi nutzte die Gelegenheit, streifte mit seinem Blick kurz Motte, die ihn anstarrte und sich kniend die schmerzende Seite hielt, aber soweit unversehrt schien, und widmete sich dann dem Kästchen. Ohne zu zögern, öffnete er es und holte die Spritze heraus.

Mikasa, die immer noch in Hanjis Griff gefangen war, schrie laut und voller Verzweiflung. Inzwischen strömten die Tränen über ihr Gesicht. „Mikasa!", brüllte Hanji gegen sie an. „Du musst doch wissen, wie sehr wir Erwin brauchen! Wir dürfen die Flammen der Hoffnung in den Mauern nicht erlöschen lassen!"

„Aber Armin könnte das auch machen!!", heulte Mikasa zurück.

„Es stimmt, Armin ist außergewöhnlich, aber er hat nicht Erwins Erfahrung und Führungsqualitäten!" Es klang so, als würde jedes Wort, das ihren Mund verließ, Hanji quälen.

Aus dem Augenwinkel sah Levi, dass Mottes Schultern bebten. Auch sie konnte sich nicht mehr beherrschen und begann, stumm zu weinen. Ihm fiel auf, dass sie immer noch manifestiert war.

„Es gibt Menschen, die ich auch wieder zurückbringen will", setzte Hanji hinzu, ihre Stimme war ein Stückchen leiser, dafür schmerzlicher geworden. „Hunderte. Ich hab von Leuten Abschied nehmen müssen, seit ich der Aufklärungslegion beigetreten bin. Du weißt das, nicht wahr? Egal, wer es ist, es wird der Tag kommen, an dem man Abschied nehmen muss."

Ein Wimmern entwich Mottes Kehle, so leise, dass Levi sich nicht sicher war, ob es noch jemand gehört hatte. Seine Finger, die die Spritze hielten, zuckten kurz unwillkürlich.

„Ich weiß, es ist unmöglich", meinte Hanji. Ihr Tonfall wurde immer kraftloser. „Aber ihr müsst das akzeptieren. Es wird Zeiten geben, in denen man den Verstand verliert. Es ist schwer. Sehr schwer. Ich weiß. Trotzdem müssen wir immer weitermachen."

Mikasa hatte sich inzwischen beruhigt und gab sich nun dem Trost hin, den Hanjis Umarmung ihr spendete. Die Tränen waren nicht versiegt, aber sie waren still. Keine gab einen Ton von sich. Levi schob vorsichtig gegen den Kolben der Spritze nach vorne, bis wenige Tropfen des Titanserums herausquollen.

Gerade als er sich aufrichten und zu Erwin schreiten wollte, umgriff eine Hand seinen Knöchel. „Kapitän", ächzte Eren, der sich immer noch nicht auf den Beinen halten konnte.

„Sie haben... schon einmal... vom Meer gehört, oder?" Seine Stimme klang heiser. Auch sein Gesicht war tränenüberströmt. „Es erstreckt sich bis zum Horizont und darüber hinaus. Wie ein gigantischer See..."

Und die Sonne spiegelt sich an der Oberfläche und lässt alles glitzern, aber gleichzeitig sieht das Wasser am Horizont so dunkel aus, als ob es über einem bodenlosen Abgrund liegen würde. Er hatte vom Meer gehört. Motte hatte ihm mehrmals davon erzählt. Wie ein Traum hatte es für ihn geklungen. Begeistert war sie herumgeflogen und hatte wild gestikuliert und ihre Seelenspiegel hatten gefunkelt vor Lebensfreude. Jetzt blickte das Mädchen verstört mit ihren Augen, die anscheinend vergessen hatten, wie man blinzelte, ihr Mund, der ein wenig offenhing, und ihr blasses Gesicht, feucht von den vielen Tränen. Seit Minuten hatte sie sich nicht mehr gerührt; hockte nur da und sah sprachlos zu, was sich vor ihr abspielte.

Levis Brust schmerzte.

„Armin hat gesagt...", begann Eren, doch er wurde energisch von Flocke unterbrochen. „Hey, lass es gut sein!" Er griff Erens Arm, der Levis Knöchel festhielt, und zerrte ihn weg.

Der Riesenjunge ließ sich davon nicht aus der Bahn werfen. „Es gibt ein Meer jenseits der Mauern... und er hat gesagt, wir würden dort zusammen hingehen! Das war unser Traum, seit wir klein waren, aber ich habe ihn vor langer Zeit vergessen!" Er schluchzte, wodurch seine Stimme nach oben rutschte. „Meine Mutter rächen... Titanen töten... Alle Gedanken, die ich habe, sind voller Hass! Aber er ist nicht ich!" Mit seinen Augen wies er auf Armin. „Er denkt an viel mehr als das Kämpfen! Er hat Träume!"

Das war Levi klar. Allerdings wusste er auch, was er tun musste. Ohne weitere Unterbrechungen stand er auf. „Alle weg hier!", verlangte er mit lauter, entschlossener Stimme. „Ich werde Erwin Bertholdt fressen lassen!"

Die Anwesenden leisteten seinen Worten Folge. Jean konnte nicht aufhören zu fluchen und aus Connies Augen stahlen sich auch einige Tränen. Hanji zog Mikasa auf die Beine und Flocke nahm Eren mit sich.

„Levi", sprach Motte ihn vorsichtig an. Sie schwebte nun. „Soll ich auch...?"

Er antwortete nicht sofort und blickte sie nur stumm an. Er fühlte sich so unheimlich kindisch. In einem Moment entschied er mit fester Stimme und im nächsten... Würde Motte den anderen folgen, wäre er alleine mit drei bewusstlosen, lädierten Seelen, wovon er zwei sterben ließ. Der Letzte, der übrigblieb, der über Leben und Tod entschied. Der Gedanke war mit einem Mal unerträglich.

Ihm kam kein Wort über die Lippen, er brachte es nicht über sich. Aber er schüttelte den Kopf, so sachte, dass sie es womöglich übersehen hätte, läge ihre gesamte Aufmerksamkeit nicht auf ihm. Sie schlug verständnisvoll die Augen nieder und er war froh, dass dieses Anliegen keine weiteren Worte benötigte.

„Bist du verletzt?", fragte Levi, während er Bertholdts verstümmelten Körper über das Dach schliff.

„Es geht schon", erwiderte sie bloß und der kurze Wortaustausch erstarb.

Er erinnerte sich daran, wie er am Abend vor ihrem Aufbruch das Gespräch der drei Freunde mitbekommen hatte. Er erinnerte sich an der Armin, der beim Gedanken ans Meer vor Vorfreude und Aufregung beinahe gejauchzt hätte. Er erinnerte sich auch daran, als er Erwin gefragt hatte, was er denn vorhatte, sobald er den Keller erreicht hatte. Erwin hatte geantwortet, dass er das noch nicht wisse. Der Kommandant wollte zu diesem Keller. Unbedingt.

Der Schmerz in Levis Brust wuchs.

„Meine Güte", seufzte er leise. „Es ist bei allen das Gleiche. Heulen wie kleine Kinder, einer nach dem anderen..." Er legte Bertholdt ab und begab sich zu Erwin.

„Alle müssen sich an etwas berauschen, um weiterzumachen", zitierte Motte mit matter Stimme.

Kurz blieb Levi vor Verwunderung stehen. Seltsam, auch er hatte gerade an Kenny denken müssen. Schließlich kniete er sich neben den Kommandanten und raffte seinen Ärmel zurück, um ein Gefäß in seiner Ellenbeuge zu suchen. „Alle sind Sklaven von irgendetwas", fügte er hinzu und klang genauso erschöpft wie sie.

Er war verdammt froh, nicht alleine hier zu sein.

Levi führte die Spritze an die Haut. Kurz bevor er sie durchstach, zögerte er. Seine Augen wanderten zu Armins verbrannten Körper. Soldat hin oder her, der Junge war in Mottes Alter, war fast noch ein Kind. Was hatte er schon von der Welt gesehen in seinem kurzen Leben?

Plötzlich wurde die Spritze aus Levis Hand geschlagen. Motte konnte es nicht gewesen sein, sie schwebte gerade hinter ihm und war heftig zusammengezuckt. Außerdem war der Schlag viel zu kräftig.

Nein, es war Erwin gewesen, der energisch die Hand gehoben hatte. Levi verschlug es die Sprache, sogar der Name des Kommandanten blieb ihm im Hals stecken.

„Herr Lehrer", ächzte Erwin schwach. „Wie können wir sicher sein... dass es nicht noch mehr Menschen außerhalb der Mauern gibt...?"

Wie versteinert starrte er auf das fahle Gesicht seines Kommandanten. Seines Freundes. Die blauen Augen, die sonst immer vor Entschlossenheit und Autorität gestrotzt hatten, waren nun nur ein spaltbreit geöffnet und sahen etwas, das gar nicht da war. Sein ganzes Leben schon hatte ihn diese Frage angespornt und durch dieses Leben, durch diese Hölle getrieben.

Und Levi entschied sich.


„Kapitän... Wieso...?", stammelte Flocke fassungslos. Während Eren und seine Freunde aus der Ferne beobachteten, wie Bertholdt sein Leben an einem blonden Titanen verlor, saßen der Rekrut, Levi, Hanji und Motte bei Erwin.

Levi blickte dessen Gesicht bedrückt an. „Glaubst du, du kannst ihm vergeben?", fragte er stattdessen. „Er hatte keine Wahl, er musste zum Teufel werden. Wir waren es, die ihn dazu gedrängt haben. Und als er schließlich endlich von dieser Hölle befreit werden sollte, wollten wir ihn wieder herholen. Aber ich glaube es ist Zeit, ihn ruhen zu lassen."

Flocke sagte nichts mehr, auch wenn Levi sich sicher war, dass ihm noch Vieles auf der Zunge lag. Auch Motte schwieg, obwohl er das Gefühl hatte, dass auch sie etwas loswerden wollte. Er wusste nicht, woher es kam, sie war sehr ruhig und rührte sich kaum, aber er merkte es einfach. Jedoch wollte er sie zu nichts drängen.

„Erwin", begann er und hoffte, dass er von ihm gehört wurde. „Ich habe versprochen, den Tiertitanen umzubringen, aber das muss noch etwas warten."

Hanji kroch zum Kommandanten und hob dessen Augenlider an. Ihr Gesicht erschlaffte. „Er ist... tot", verkündete sie belegt.

Das stach. Sehr heftig sogar. Man könnte meinen, dass man sich an dieses Gefühl irgendwann einmal gewöhnen würde, aber man tat es nicht. Oder Levi tat es nicht.

Der Mann, der sein Leben verändert hatte, dem er so lange wie möglich folgen wollte, sein Freund... war tot. „Verstehe", hauchte er nur betroffen.

Motte rückte näher an ihn ran und saß ganz dicht bei ihm. Ohne etwas zu sagen, signalisierte sie ihm, dass sie da war. Dass sie, wie sie es immerzu sagte, bei ihm bleiben würde. Er wusste, er durfte nicht, aber er hoffte inständig, dass es stimmte.

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