Kriegserklärung
Kapitel 55 – Kriegserklärung
Jahr 854
Levi war kein Mann der Worte, deswegen waren seine Gedanken nicht mit Flüchen gefüllt, die gegen Eren gerichtet waren, stattdessen malte er sich bildlich aus, wie er diesen Bastard begrüßen würde, sobald er ihn sah; mit einem Schlag ins Gesicht zum Beispiel. Äußerlich glitt er still durch die inzwischen leeren Straßen Liberios. Die Nacht war vorangeschritten, dennoch war es dank der Straßenlichter taghell. Er passierte Leichen in feindlicher Uniform, das Blut aus ihren tödlichen Wunden war kaum versiegt, die Augen vor Schreck aufgerissen; ihnen war gar nicht bewusst gewesen, was geschah, als ihnen das Leben ausgehaucht worden war.
Nun mischten sich doch Flüche zu seinen visuellen Vorstellungen.
„Du siehst aus, als würdest du am liebsten jemanden den Kopf abreißen", riss Motte ihn aus seinen Gedanken. Sie flog direkt neben ihm und trug wie alle Soldaten der Aufklärungslegion inzwischen auch dunkle Hosen und das neue Gurtsystem. Ihr helles Oberteil und die braune Lederjacke waren allerdings immer noch dieselben, was sie – zumindest hier im Marley – vom Rest der Aufklärungslegion unterschied.
Levi und Motte waren die einzigen lebenden Seelen in dieser Straße und bildeten so etwas wie die Nachhut. Inmitten der Eldianischen Sperrzone der Stadt befand sich der Festplatz, von dem Lärm zu vernehmen war: Gebrüll von kämpfenden Riesen und Geschosse schwerer Geschütze. Das war ihrer beider Ziel.
Als Reaktion zu ihren Worten schnalzte Levi nur verärgert mit der Zunge. Sie wusste haargenau, was ihm die schlechte Laune bereitete; was ihnen allen, einschließlich ihr, das Gemüt verstimmte. Deswegen lachte sie nur kurz herzlos auf und meinte: „Nimm vielleicht lieber den Arm als den Kopf. Da wissen wir immerhin sicher, dass er nachwächst. Und so sehr es mir gerade gegen den Strich geht, aber wir brauchen diesen Vollidioten noch."
„Ich weiß", knurrte er bloß.
Es war jetzt fast ein Jahr her, dass Eren ohne ein Wort der Erklärung einfach verschwunden war. Erst vor knapp sechs Monaten hatten sie ein Lebenszeichen in Form eines Briefes von ihm erhalten. Darin hatte er grob erklärt, was er in der Zwischenzeit getrieben hatte und was er in etwa vorhatte. Innerhalb des letzten halben Jahres hatte er ihnen immer wieder Briefe zukommen lassen, in denen sein Plan nach und nach Gestalt angenommen hatte.
Und nun waren sie hier. Inmitten seines verdammten Plans. Ort und Zeit waren genau abgestimmt. Es hatte unheimlich viel mit Politik zu tun, Marley und seine Nachbarländer planten wohl einen baldigen, gemeinsamen Angriff gegen Paradis und hatten zur Feier der aufkommenden Zusammenarbeit ein Festival veranstaltet. Initiiert worden war das ganze von Willy Tybur, dem Oberhaupt der Tybur-Familie, die einzigen Eldianer außerhalb Paradis, die so etwas wie Anerkennung besaßen, dadurch, dass sie im Besitz von einer der neun Titanenkräfte waren, der des Kriegshammertitanen.
Es gab noch unheimlich viele Details, die für Levi alle irrelevant waren. Was er wusste, war, dass Eren gerade mehrere Ziele verfolgte: Sich die Kraft des Kriegshammertitans anzueignen, Marley und dessen Verbündete zu schwächen und so den Angriff auf Paradis hinauszuzögern und seinen Bruder auf die Insel zu holen.
Um diese Ziele zu erreichen, hatte Eren das Festival gesprengt und dadurch – und genau das war es, weswegen alle seine Freunde momentan schlecht auf ihn zu sprechen waren – unzählige unschuldige Leben ausgelöscht. Levi hatte jetzt schon einen bitteren Geschmack auf der Zunge, wenn er die toten Soldaten auf der Straße sah. Über die Hälfte hatten eine saubere Schusswunde direkt in den Kopf, höchstwahrscheinlich Sashas Werk. Ihre Fähigkeiten als Schützin waren wirklich exzellent.
„Die Lichter", bemerkte Motte und deutete auf kleine, jedoch grell leuchtende Lichter, die auf den Dächern befestigt worden waren. Es war die Aufgabe von Sasha und Connie gewesen, sie an Ort und Stelle zu platzieren.
Abermals schnalzte er mit der Zunge. „Das heißt, dass alles nach Plan verläuft." Er versuchte nicht einmal, seine Missbilligung zu verbergen.
„Na ja, solange tatsächlich alles klappt...", setzte sie an, doch beendete sie ihren Satz nicht. Ihm war klar, dass sie ihn irgendwie aufbauen wollte, doch sie wusste bei bestem Willen nicht, wie. Die letzten Tage schon hatte sie Levis Laune ertragen müssen, hatte unendliche Male versucht, ihn zu beschwichtigen.
Wenn er ehrlich sein sollte, hatte ein Teil von ihm bis zum Schluss gehofft, dass Eren nur geblufft hatte und sein Vorhaben nicht durchziehen würde, doch jetzt flog er an all den Toten vorbei. Wütend biss er die Zähne zusammen. „Solange alle heil rauskommen", änderte er ihre Worte mit verbittertem Ton. Sie erwiderte nichts mehr.
Sie näherten sich dem Ort des Geschehens, was bedeutete, dass sie beide jetzt auch in Aktion treten würden, und es mischten sich neue Gedanken in Levis Bewusstsein. Er schenkte Motte einen kurzen Seitenblick. Ihm lagen Worte wie Du weißt, was du zu tun hast, oder? oder Pass auf dich auf auf der Zunge, jedoch schluckte er sie alle wieder herunter. Das hatte keinen Sinn. Was auch immer er jetzt noch sagen würde, würde nichts ändern: Motte wusste, was sie zu tun hatte, und sie passte auf sich auf. Es würde sowieso nicht länger als ein paar Minuten dauern.
Sie sahen bereits die ersten Anzeichen des Kampfes: Feindliche Soldaten auf den Dächern, ihre Kameraden in der Luft, geschossen wurde von beiden Seiten. Der Festplatz war erleuchtet, einige unförmige Gebilde zeichneten sich hervor. Erst als sie näherkamen, konnte Levi es genauer beschreiben. Der Platz lag in Schutt und Asche, überall waren Trümmer verstreut, hatten Männer, Frauen und Kinder unter sich zerquetscht. Weiße, spitze Säulen, teilweise abgebrochen, ragten in den Himmel und Levi kam auf einen von diesen für einen Moment zum Halt. Er zählte zwei... Nein, drei Riesen. Und alles war voller Blut.
„Dieser...!", knirschte Motte zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, unschlüssig, wie genau sie Eren verfluchen sollte.
Der Junge in Riesengestalt hielt soeben einen mannshohen Kristall in der Hand, Levi erinnerte es an Annies selbstgeschaffenes Gefängnis. Ein großer Titan mit weißer Panzerung lag bewegungslos in seiner Nähe, seit Eren diesen Kristall aus dem Boden gerissen hatte. Das war der Kriegshammertitan. Die gesamte Szene hielt gespannt den Atem an, wissen wollend, ob Eren es schaffte, den Kristall zu zerstören.
Levi allerdings hatte die Situation etwas schneller begriffen, er hatte den dritten Titan im Schatten entdeckt und wusste, dass er gebraucht wurde. „Wir sehen uns gleich!", meinte er hastig zu Motte. „Halt dich zurück, bis das Signal kommt." Ehe sie etwas erwidern konnte, rauschte er davon.
Ein kleinerer Riese mit einem ausgeprägten Kiefer und gewaltigen Klauen hatte sich von hinten auf Eren gestürzt und seine Zähne in dessen Nacken versenkt. Levi sauste an ihm vorbei und trennte mit einem gezielten Schnitt Ober- und Unterkiefer voneinander, sodass es dem Titanen nun unmöglich war, Erens menschlichen Körper aus seinem Riesen zu reißen oder ihn gar zu fressen.
Eren zögerte nicht lange, wirbelte herum und setzte zum Gegenangriff an. Das schien die versammelten Soldaten aus ihrer kurzen Trance zu wecken und sie traten in Aktion. Da der Kriegshammer momentan außer Gefecht gesetzt war, war das Ziel eindeutig: Der neu aufgetauchte, kleinere Riese, auch genannt Kiefertitan.
Plötzlich jedoch standen sie unter Beschuss. Schwere Geschütze feuerten auf sie und nicht jeder konnte rechtzeitig aus dem Weg hechten. Der Karrentitan war ebenfalls aufgetaucht, auf seinem Rücken trug eine vierköpfige Panzereinheit. Und dann erschien noch der Tiertitan.
Zu dritt griffen sie Levis Kameraden an und er würde nichts lieber tun, als zu helfen, aber er hielt sich an den Plan. Deswegen versteckte er sich bei einem zerstörten Gebäude, wartete ab und sah dabei zu, wie die Soldaten von Paradis mit vom Tiertitan geworfenen Steinen in der Luft durchlöchert, von den Geschosses des Karrentitans zerfetzt oder den Klauen des Kiefertitans aufgeschlitzt wurden. So schnell sie konnten flüchteten sie ins Innere der umliegenden Gebäude.
Levi hasste diesen Plan aus tiefstem Herzen.
„Boah, da bist du ja! Bist du verletzt?!", meinte Motte atemlos, die soeben auf ihn zugeflogen kam.
„Mir geht's gut", brummte er als Erwiderung. „Bin nur sauer." Sein Blick wandte sich nicht vom Schauspiel auf dem Platz.
Augenblicklich zog sie ihre Augenbrauen zusammen und stemmte die Hände in die Hüften. „Ich auch! Was machen der Karren und der Kiefer hier?! Ich dachte, Yelena kümmert sich um sie!"
Er schnalzte verbittert mit der Zunge. „Offensichtlich hat sie nicht gründlich genug gearbeitet."
Motte lugte auf den Platz, beäugte die neu angekommenen Riesen und schlug auf einmal vor. „Soll ich mich um die Geschosse auf dem Karrentitan kümmern? Ich könnte reinfliegen und sie nacheinander ausknocken."
Levi folgte ihrem Blick und sah, wie die drei Titanen Eren mit dem Kristall in der Hand direkt gegenübereinander standen: Der Tiertitan warf Steine auf die Gebäude, während die anderen beiden seine Rückendeckung bildeten. „Wenn der Scheißaffe nicht bald aufhört, alle umzubringen, dann tu das. Aber mache vorerst nichts. Jetzt aktiv anzugreifen, würde ihnen zeigen, dass wir nicht so machtlos sind, wie sie noch annehmen sollen."
Motte schnaubte unzufrieden. „Also, weiterhin aufs Zeichen warten?!" Die Ungeduld stand ihr ins Gesicht geschrieben und Levi konnte es ihr nicht verübeln. Er zog eine Taschenuhr heraus und blickte aufs Zifferblatt. „Es ist sowieso bald soweit."
Nicht einmal eine Minute später folgte die Explosion. Sie war kilometerweit entfernt, doch die Druckwelle erreichte sie bis hier und die Säule aus glühendem Rauch erstreckte sich bis in den Himmel. Das war Armin und er hatte nichts weiter getan als sich zu verwandeln. Damit hatte den gesamten Hafen sowie Marleys Kriegsflotte zerstört.
Gleichzeitig war es das Zeichen für die Soldaten von Paradis, den eigentlichen Großangriff zu starten. Von allen Seiten kamen sie angeflogen, ein Teil hatte sich bis jetzt versteckt gehabt. Auch Motte sauste davon und Levis ursprünglicher Einsatz kam. Blitzschnell stürzte er sich auf den Tiertitan und brachte ihn mit einem einzigen Schnitt am Nacken zu Fall. Er landete auf dem riesigen, haarigen Kopf, hielt bereits eine Handgranate bereit und zog den Zünder, als er in einer Seitenstraße Soldaten von Marley erblickte. Aber waren da auch Kinder unter ihnen? Er hatte keine Zeit zum Nachdenken, er sprang aus dem Weg und die Explosion hüllte alles in dichten, schwarzen Rauch.
Levi nutzte den Sichtschutz, um Zeke aus den Nacken seines Riesens zu schneiden und mit ihm das Weite zu suchen. Sie würden sich bedeckt halten, bis sie fliehen konnten.
„Abend, Levi. Lang nicht mehr gesehen", grüßte Zeke munter, sobald Levi wieder in seinem ursprünglichen Versteck zum Halt kam. Er setzte den blonden Mann, dessen Extremitäten abgeschnitten waren, ab und unterdrückte den Drang, ihn hier und jetzt zu köpfen. Stattdessen musste er sich mit einem finsteren Blick begnügen.
„Mein Gott", setzte Zeke fort, als würde er Levis feindliche Haltung gar nicht wahrnehmen. „Du hast dich in vier Jahren kein Stück verändert."
„Du dagegen bist ganz schön gealtert", entgegnete der Schwarzhaarige bissig. „Wenn ich mich recht entsinne, hast du nur noch ein paar Monate, bis deine verbliebenen dreizehn Jahre Lebenszeit als Titanenwandler abgelaufen sind, nicht wahr?" Tatsächlich ließ das den Blonden verstummen. Mit schmalen Lippen wandte er sich von Levi ab und dem Festplatz zu, um das weitere Geschehen zu beobachten.
Zwischen ihnen beiden herrschte für ein paar Minuten eisernes Schweigen, was Levi unheimlich genoss, denn so konnte er Zekes Anwesenheit vergessen. Dann jedoch hob er erneut seine Stimme: „Deine Geisterfreundin ist wirklich unheimlich."
Levi wusste, worauf er sich bezog. Nicht unweit von ihnen hatten Soldaten von Marley den Festplatz betreten und schossen auf die Soldaten von Paradis, die in der Luft umherschwangen. Dadurch, dass sie nach oben blickten, bemerkten sie nicht, wie einer nach dem anderen ausgeknockt wurden; und merkten sie es doch, war es bereits zu spät. Die Nervensäge hatte in den letzten Jahren in beiden Welten viel trainiert, dementsprechend war es nicht schwer für sie, den Feind mit einem gezielten Faustschlag direkt unters Auge oder mit einem Wurf über ihre Schulter außer Gefecht zu setzen. Mit einer Gruppe von sechs erlaubte sie sich einen Spaß, indem sie sich immer wieder an anderen Orten manifestierte, sodass sie ziellos durch die Luft ballerten. Auch diese erledigte sie nach wenigen Minuten, als ihr wieder langweilig wurde. Für Levi war alles deutlich zu erkennen, aber Zeke dürfte für gerade mal einem Bruchteil einer Sekunde nichts weiter als ein zuschlagender Arm erscheinen.
Zugegebenermaßen waren es nicht viele Soldaten, die sie erledigte, aber es war allemal besser als nichts. So mussten die Aufklärungssoldaten nicht mehr auf den Feind am Boden achten. Levi fand Zekes Beobachtung sehr amüsant. Die Begriffe Motte und unheimlich passten in seinem Kopf einfach nicht zusammen. „Wenn du meinst", erwiderte er deshalb bloß nüchtern, konnte aber den Anflug von Stolz nicht ignorieren.
Seine Gedanken wurden abgelenkt, als ein Geräusch aus weiter Ferne an seine Ohren drang. Ein tiefes, regelmäßiges Rattern, das Levi inzwischen kannte. „Das Luftschiff", merkte Zeke auf, der das Geräusch anscheinend auch gehört hatte.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, packte Levi den immer noch verstümmelten Mann und wollte schon los, da zögerte er noch für einen Augenblick. Seine Augen ruhten auf Motte, die Soldaten hinterherjagte, die noch auf den Beinen standen. Keine Chance, ihr etwas zuzurufen, ohne dass er und Zeke von jemand anderen als ihr bemerkt wurden. Leise seufzte Levi, um die aufkommende Sorge verpuffen zu lassen. Die Nervensäge kannte schließlich den Plan so gut wie jeder andere auch; sobald sie das Luftschiff bemerkte, würde sie an Bord kommen. Also packte Levi Zeke und surrte davon.
Sobald der Haken seiner 3D-Ausrüstung am Luftschiff befestigt war und er sich mit dem Titanenwandler nach oben ziehen ließ, blickte er nochmals zurück. Unter ihnen wurde die Stadt immer kleiner, während sie sich von den erleuchteten Straßen entfernten und sich gen Nachthimmel bewegten. Dann wandte Levi sich wieder um und ließ all das Chaos, die Leichen und den Horror hinter sich, die sie zu verschulden hatten. Die Luft peitschte ihm kalt ins Gesicht.
Im Luftschiff angekommen bemerkte er, dass sie zu den ersten gehörten. Er schliff Zeke in die Nähe des Cockpits und band ihn dort fest; sicher war sicher. Inzwischen begannen seine Extremitäten zu dampfen, das Zeichen dafür, dass der Regenerationsprozess eingesetzt hatte. „Das klappt doch alles wie am Schnürchen", pfiff der bebrillte Mann fröhlich.
Levi zuckte kaum merklich zusammen. Bei Zekes Worten erschienen Bilder von toten, leeren Augen und zerquetschen Körpern in seinem Kopf. Unwillkürlich band er das Seil fester zu und Zekes Gesicht verzog sich vor Schmerz. „Dir hat doch als Kind jemand in den Kopf geschissen", murmelte er verächtlich.
Zekes Plauderton blieb unverändert, in seinen Augen jedoch blitzte Härte auf. „Mein Vater hat es tatsächlich versucht."
Levi entschied sich dazu, diese Konversation nicht fortzusetzen. Die Familienaffäre der Jägers ging ihn nichts an, auch wenn es unbestreitbar war, dass Dr. Jäger zwei sonderbare Söhne in die Welt gesetzt hatte. Sobald er fertig war, begab er sich kurz ins Cockpit, um Hanji von seiner und Zekes Ankunft zu berichten. Dort traf er auch Onyankopon, der das Luftschiff flog, und Armin an. Der Junge hatte noch die Male der Titanenverwandlung an seinen Wangen und seine Augen wirkten ungewöhnlich distanziert. Levi konnte sich vorstellen, was alles in seinem Kopf vorging.
Als er aus dem Cockpit zurückkehrte, stellte Levi fest, dass noch mehr Soldaten angekommen waren; sie hielten sich größtenteils im Vorraum auf. Auch Yelena war inzwischen an Bord, sie redete bereits eindringlich mit Zeke. Levis und ihr Blick kreuzten sich, woraufhin sie verstummte. Sie wartete auf Worte des Tadels, da sie ihre Aufgabe unzureichend erfüllt hatte, doch Levi sagte nichts. Sie wusste besser als jeder andere, dass sie einen Fehler begangen hatte. Wortlos schritt er an ihnen vorbei, die das Gespräch wieder aufnahmen.
Er streckte seine Hand nach dem Griff der Tür aus, die diesen Raum und den Vorraum voneinander trennte, da kam die Nervensäge plötzlich hindurchgeschwebt und flog beinahe durch ihn durch. Beide erschraken sich, sie deutlich lauter als er, doch dann musste sie auflachen und er kurz lächeln. „Bin wieder da", bekannte sie anschließend unnötigerweise. „Hast du gesehen, wie ich diesen Lackaffen eins auf die Mütze gegeben hab?" Sie unterstrich ihre Worte mit mehreren Faustschlägen in die Luft. „Die hatten keine Chance gegen mich!"
„Ja, ich hab's gesehen", gab Levi zu und ein Anflug von Lob schwang in seiner Stimme mit. Dann jedoch runzelte er die Stirn. „Aber hatten wir nicht gesagt, du manifestierst dich nur so viel wie nötig? Du scheinst dich gut amüsiert zu haben, als du mit den Soldaten rumgespielt hast."
Ertappt zuckte sie zusammen. „Ja, also, das... Ich würde das... Äh, Taktik nennen. Ja, genau, Taktik!" Heftig nickte sie und schöpfte neues Selbstbewusstsein. „War alles Teil meines teuflisch ausgeklügelten Plans!" Vielsagend tippte sie sich an die Schläfe.
Levi seufzte nur. „Als jemand, der mal Opfer ihrer Spielchen war", hob Zeke vom anderen Ende des Raumes seine Stimme, „es kann einen wirklich in den Wahnsinn treiben, Levi." Das Gespräch zwischen ihm und Yelena war anscheinend beendet – die Frau stand nun hinter ihm an der Wand gelehnt, der Blick zu Boden gerichtet – und hatte Levis Teil der Konversation mit angehört. „Als Ablenkung ziemlich effektiv", setzte er noch hinzu.
„Danke", kam es von Motte. Zekes Mund klappte auf vor Überraschung und Levi vermutete, dass sie nur ihre Stimme manifestiert hatte. „Ich mag dich trotzdem nicht."
„Gewöhnt man da sich jemals dran?", fragte er Yelena, da sein einziges Treffen mit Motte schon vier Jahre her war.
„Tatsächlich, ja", erwiderte sie. Levi hätte eines ihrer verhaltenen Lächeln erwartet, doch das blieb heute aus. „Zumindest mehr oder weniger."
„Tch!", machte Levi säuerlich. Als ob sie wüssten, wie es ist, die Nervensäge um sich herumfliegen zu haben! Ohne ein weiteres Wort an die beiden zu verlieren, deutete er auf die Tür, durch die Motte soeben geschwebt war, und fragte: „Was war draußen noch los?"
„Das letzte, das ich mitbekommen habe, war, dass Eren den Kriegshammertitan gefressen hat", erklärte sie. Das hat also geklappt. Und Marleys Truppen... sind eindeutig geschwächt, das hat also auch geklappt."
Automatisch biss Levi die Zähne zusammen, als er wieder daran dachte, für wen sie all das taten. Verdammt, er war... Was eigentlich? Wütend?
Es dauerte noch ein paar Minuten, bis Mikasa mit Eren am Luftschiff landete. Armin, der inzwischen aus dem Cockpit gekommen war, half ihnen an Bord. „Eren." Der Junge hatte sich noch nicht einmal aufgerichtet, da kam Levi schon zu ihm getreten. In dem einen Jahr hatte er sein Haar lang wachsen lassen und als er aufschaute, bemerkte der Schwarzhaarige, dass er sich nicht einmal rasiert hatte. „Wie verdreckt du aussiehst", stellte er angewidert fest. „Als wärst du in die Jauchegrube gefallen."
„Kapitän", erwiderte er die Begrüßung stumpf.
Erens Blick war nüchtern, zeigte keinerlei Emotionen: Reue oder Schuld, nichts dergleichen. All der Ärger, der sich in den letzten Wochen angestaut hatte, flammte plötzlich in ihm auf, und Levi kickte Eren direkt ins Gesicht. Wie auch schon vor vier Jahren bei dessen Anhörung. Sein Tritt war so heftig, dass der Junge gegen die Wand krachte. Mikasa wollte ihm zur Hilfe eilen, doch Armin hielt sie zurück.
Zwei Soldaten der Aufklärungslegion kamen herbeigeeilt und richteten ihre Waffen auf den kauernden Eren, während Levi gemächlich auf ihn zuschritt. Motte folgte ihm schwebend. „Da werden Erinnerungen wach", gab der Kapitän tonlos zu bekennen. „Es ist immer noch leicht, dich herumzutreten. Wir nehmen dich jetzt fest. Unterhalten werden wir uns später."
„Von mir aus", erwiderte Eren ruhig. „Aber eigentlich steht schon alles in meinen Briefen. Ich dachte, ich hätte euer Verständnis gefunden?" Er blickte nach oben zu ihm, ohne seinen Kopf zu neigen.
Levi schaute in diese kalten, türkisblauen Augen herab und fragte sich plötzlich, was mit dem heißblütigen Jungen passiert war, den er vor vier Jahren kennengelernt hatte. Der Schwarzhaarige schnaubte verächtlich. „Fressen wie diese habe ich in der unterirdischen Stadt unzählige Male gesehen", meinte er. „Aber dass du tatsächlich..." Levi konnte diesen Satz nicht beenden, es schnürte ihn für einen Moment die Kehle zu. Nun begriff er, dass es nicht primär Wut war, die er verspürte. Es war Enttäuschung.
Neben ihm manifestierte Motte sich und legte ihm zum Trost eine Hand auf die Schulter. Erens Blick wanderte von Levi zu ihr und die beiden blickten sich stumm in die Augen. Während beide eine distanzierte Fassade behielten, so meinte Levi doch Abneigung im Gesicht des Mädchens zu erkennen.
„Du kannst dich freuen", sprach er erneut mit Eren, als sie die Hand wieder senkte, und meinte kein Wort davon vom Herzen. „Es ist alles so, wie ihr euch gewünscht habt." Bei diesen Worten wies er mit einer knappen Kopfbewegung auf Zeke. Die Brüder tauschten nur Blicke aus, mehr nicht.
Dann wurden Eren Fesseln angelegt. Gerade, als sie fertig wurden, öffnete sich plötzlich die Tür. Jean schritt hindurch und führte zwei fremde, übel zugerichtete Kinder mit sich, die ebenfalls gefesselt worden waren. Dem braunhaarigen Mädchen war die Wut ins Gesicht geschrieben, der blonde Junge dagegen wirkte verängstigt. Levi fiel die gelbe Binde auf, die sie an ihren Oberarmen trugen. Nach den Berichten zufolge bedeutete das, dass die beiden Eldianische Kadetten für die Krieger von Marley waren.
Jeder starrte die Neuankömmlinge an. Zeke merkte erstaunt auf: „Gabi! Falco! Was macht ihr hier?"
„Was wir hier...?", begann der Junge, Falco, fassungslos. „Was machen Sie hier?"
„Sie haben also überlebt!", rief das Mädchen erleichtert, ehe Zeke antworten konnte. „Aber dass diese Kerle Sie gefangen haben..."
„Wer sind diese Rotznasen?", wollte Levi wissen.
„Sie haben Lobov getötet und sind mit dem Apparat seiner 3D-Ausrüstung aufgeentert", erklärte Jean. Er versuchte, fest zu klingen, doch seine Stimme schwankte leicht. „Und dann hat dieses Mädchen auf Sasha geschossen." Nun verhärtete sich sein Ausdruck deutlich. „Vermutlich wird sie nicht durchkommen."
Was?
Levis Augen weiteten sich vor Entsetzen. Als der erste Schock überwunden war, stürmten Mikasa und Armin los, an Jean und den Kindern vorbei, und knallten die Tür hinter sich zu. Gleichzeitig entmanifestierte Motte sich und sauste ebenfalls Richtung Heck des Luftschiffs. Dabei flog sie durch die drei, die direkt vor der Tür standen, und sorgte für heftiges Zusammenzucken.
„Das Geistermädchen...!", hörte Levi den Jungen überrascht hauchen. Seine Freundin hatte ihren Blick noch nicht von Zeke gewandt.
Auf der anderen Seite des Raums wurde eine weitere Tür geöffnet und Hanji trat aus dem Cockpit. Die fremden Kinder nicht bemerkend wandte sie sich an die beiden festgenommenen Brüder. „Und? Ist alles nach Plan verlaufen, Zeke Jäger?"
Der Angesprochene schaute den Kindern direkt in die Augen, als er antwortete: „Im Großen und Ganzen, ja. Bis auf die vielen Berechnungsfehler."
Hanji bemerkte, worauf sein Blick lag, und wollte verwundert wissen: „Wer sind denn die Kinder?"
Zeke erklärte nur: „Ein Berechnungsfehler."
Für einen Moment herrschte Sprachlosigkeit im Raum; die Kinder wirkten entsetzt, während Zekes Gesichtsausdruck undefinierbar war. Jean war derjenige, der die Stille durchbrach: „Yelena! Es war deine Aufgabe, den Kiefer und den Karren festzusetzen. Wie kann es sein, dass sie uns dazwischengekommen sind? Wegen dir starben unnötig Kameraden!"
„Es tut mir leid", entschuldigte sie sich daraufhin professionell. „Ich habe die beiden tatsächlich in das Loch fallen lassen. Doch der Fehler liegt bei mir."
Eigentlich hatte Levi es nicht weiter ansprechen wollen, aber da dieses Thema nun bereits in der Luft lag und sein Ärger noch kein bisschen verflogen war, fügte er grimmig hinzu: „Und als Folge davon konnte uns der Tiertitan mit mehr Steinbrocken bombardieren als geplant." Dabei schenkte er Zeke einen giftigen Seitenblick. „Du hast ziemlich gut improvisiert bei diesem elenden Theater, was, Bartfratze?"
„Guck mich doch nicht so böse an, Levi", schmollte der Blonde zurück, wobei seine Augen kalt blieben. „Hätte ich mir lieber in die Hose machen sollen? Du hast auch sehr gut gespielt. Obwohl du dich vermutlich danach gesehnt hast, mich zu töten."
Levi trat direkt vor ihn, sodass er schön auf ihn herabblicken konnte. „Ich gehöre zu den Menschen, die sich das Beste bis zum Schluss aufheben. Weil ich es bewusst und ausgiebig genießen möchte."
Aus dem Augenwinkel nahm er eine plötzliche Bewegung wahr, konnte nur Motte erkennen, die blitzschnell durch die Tür geflogen kam und sich gezielt auf jemanden stürzte. Im nächsten Wimpernschlag manifestierte sie sich, nahm noch den Schwung des Fliegens mit und donnerte ihre Faust in Erens Gesicht. Der Schlag riss seinen Kopf zur Seite und Blut spritzte auf die Wand hinter ihm. Sie ließ niemanden Zeit, richtig zu reagieren, da packte sie ihren Gegenüber vorne am Kragen und schrie: „Du Arschloch! Du bist so ein unglaublicher Drecksack! Sag mir nicht, dass das..." Sie zeigte auf die Tür, durch die sie gerade geflogen war, ohne ihren wütenden Blick von Eren zu richten. „... dazugehört!"
Levi fand ihre Wortwahl seltsam. Er hatte das Gefühl, dass sie Bedeutung hatte; dass die beiden etwas wussten, was sonst niemand wusste.
„Motte", begann Hanji, ihre Stimme vom Schock noch gesenkt. „Was ist...?"
Das Mädchen ignorierte sie, hörte sie wahrscheinlich gar nicht, sondern zog Eren noch näher zu sich heran. Ihre Stimme wurde dafür umso lauter: „Das... Das auch?! Und du hast trotzdem...!" Sie brach ab und Levi bemerkte Tränen in ihren Augen. Um das Fehlen von Worten wettzumachen, holte sie erneut aus, doch der Schwarzhaarige war schneller.
Ehe sie erneut zuschlagen konnte, packte er ihr Handgelenk. „Lass mich los!", kreischte sie. „Du darfst ihn treten, aber ich werde aufgehalten?!"
„Du musst dich beruhigen!", entschied Levi bestimmt.
„Will ich aber nicht!" Sie wehrte sich mit aller Kraft und wollte sich aus seinem Griff befreien. Erfolglos.
„Motte", kam es nun auch von Jean. Mit schwacher Stimme schien es, als würde er das Schlimmste vermuten. „Was ist mit Sasha?"
Da spürte Levi, wie ihr Körper plötzlich die Kraft verlor; sie kämpfte nicht mehr gegen ihn an, ließ aber nicht komplett locker. Die Augen zusammenkneifend schüttelte sie den Kopf. Jeans Kehle entwich ein undefinierbarer Laut, da setzte sie noch hinzu: „Sie atmet noch... aber nicht mehr lange."
„Wir haben", begann Eren, der Mottes Zorn wie alles andere auch regungslos hingenommen hatte, „die Führungsriege von Marley getötet und ihre Hauptflotte sowie den Marinehafen zerstört. Damit sollten wir uns Zeit verschafft haben."
Bei diesen nüchternen Worten bäumte sich das Mädchen erneut auf, um sich abermals mit einem Schrei auf ihn zu stürzen, doch Levi ergriff rechtzeitig Maßnahmen. Schnell schlang er seine Arme um Mottes Mitte und hob sie vom Boden, damit er sie einige Schritte wegtragen konnte. Sie zappelte und wehrte sich und heulte, dass er sie loslassen solle, aber er hörte nicht auf sie. Es wäre ein Leichtes für sie, sich zu entmanifestieren und sich so zu befreien, jedoch war sie zu aufgewühlt, um daran zu denken. Oder ein kleiner Teil in ihr wollte aufgehalten werden.
Sobald er sie aus Erens Reichweite geschafft hatte, setzte er sie wieder ab. Eindringlich wiederholte er mit gesenkter Stimme: „Du musst dich beruhigen." Erst dann ließ er sie los. Anscheinend hatten die wenigen Sekunden, in denen sie Eren nicht angeschaut hatte, gereicht, um zumindest ihre Angriffslustigkeit zu dämmen. Stattdessen sank sie augenblicklich zu Boden, rollte sich sitzend in eine Kugel zusammen, sodass ihr Kopf zwischen den Knien ruhte und von ihren Armen umschlungen war, und weinte hemmungslos. Ihre Schultern bebten unaufhörlich.
Er wusste, dass Motte es nicht mochte, anderen gegenüber Schwäche zu zeigen, und doch war sie jetzt so außer sich, es interessierte sie gar nicht mehr. Alleine dafür würde er dem Jungen am liebsten nochmal ins Gesicht treten.
„Vielleicht", meinte Eren erbarmungslos, „solltest du nach Hause gehen, Motte."
Levis Nackenhaare sträubten sich und seine Muskeln spannten sich an. Mühevoll unterdrückte er den Drang, ihm wirklich nochmal eine reinzuhauen. Erens Rat war eindeutig nicht nur auf die jetzige Situation bezogen, er schien viel allgemeingültiger.
„Eren", erwiderte Motte nur stumpf mit einem leisen Schniefen. „Ich glaube, ich will nie wieder mit dir reden."
Und auch das klang allgemeingültig.
Hanji ruderte zum vorherigen Thema zurück: „Das alles hat uns Zeit verschafft? Du meinst, Zeit, bis die Welt ihren Generalangriff auf Paradis startet? Jedes Mal, wenn der Feind dich gefangen hat, haben wir alles getan, um dich zu retten. Egal, wie viele unserer Kameraden dabei starben. Du wusstest das. Und trotzdem bist du so weit gegangen, dich selbst zu ihrer Geisel zu machen. Und wie du es dir gewünscht hast, hatten wir wieder keine Wahl." Eren nahm ihre Worte kommentarlos auf, schaute sie nicht einmal an. „Du hast auf uns vertraut", schloss Hanji „aber wir haben unser Vertrauen in dich verloren."
Auch wenn er nicht angesprochen wurde, war es Zeke, der daraufhin entgegnete: „Und doch haben wir so nun den Urtitanen und einen Titanen von königlichem Blut in unserem Besitz. All diese großen Opfer werden den Eldia ihre Freiheit bringen und irgendwann vergolten werden."
Die Tür öffnete sich quietschend und unterbrach das Gespräch. Connie stand auf der anderen Seite und starrte mit leerem Blick in den Raum. „Sasha", hauchte er und eine stille Träne rann ihm über die Wange, „ist tot."
Levi hatte das Gefühl, ihm würde ein Messer in die Brust gerammt werden. Schon wieder. Immerzu starben Menschen. Und immerzu waren es die falschen.
Für einen Moment herrschte geschockte Stille, dann kam von Motte plötzlich ein gepresster Schrei, durch ihre zusammengerollte Haltung gedämpft. Sie krallte ihre Finger in die Haare und zog mit aller Kraft daran. Levi verstand: Der Schmerz in ihrem Herzen sollte durch anderen ersetzt werden. Er wollte sie nicht so sehen. Direkt vor ihr fiel er auf ein Knieund war so in etwa auf ihrer Höhe. Dann tat er nichts weiter, als eine Hand auf ihren Kopf zu legen. Mehr Trost als diese Geste konnte er ihr nicht geben, doch es bewirkte, dass ihre Finger sich entspannten. Sie rollte sich noch enger zusammen und begann zu schluchzen. Levi ließ seine Hand, wo sie war.
„Hat Sasha", wollte Eren wissen, „vorher noch was gesagt?"
„Ihr letztes Wort", schluchzte Connie, „war Fleisch..."
Da regte Eren sich zum ersten Mal, seit Levi ihn heute Nacht gesehen hatte. Er verzog seine Lippen zu einer seltsamen Grimasse und ihm entwichen undefinierbare Laute. War das... Lachen? Oder doch Weinen? Tränen vergoss er keine, doch sein gesamter Körper bebte.
„Eren", kam es grollend von Jean. „Sasha ist gestorben, weil du den Aufklärungstrupp da mit reingezogen hast!"
Erneut veränderte sich Erens Mimik: Zähneknirschend senkten sich seine Mundwinkel, während seine Augenbrauen sich zusammenzogen und er seine Hände zu Fäusten ballte. In Levis Augen sah es so aus, als würde er bereuen.
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