Jenseits der Mauern
Kapitel 52 – Jenseits der Mauern
Marley. Rebellio. Krieger.
Seit Tagen, Wochen bald, wirrten Worte durch Levis Kopf wie ein endloses Mantra. Sie ließen ihn noch schlechter schlafen als sonst.
Neun Titanenwandler. Urtitan, Angriffstitan, Eren besitzt beide, dafür jedoch kein königliches Blut.
Nachdem sie die Aufzeichnungen von Grisha Jäger gelesen hatten, die sein Wissen und seine Geschichte über und in dieser Welt enthielten, waren sie nach Trost zurückgekehrt. Die Expedition hatte keine 36 Stunden gedauert.
Der Tiertitan, Zeke... Zeke Jäger. Erens älterer Halbbruder.
Eren und Mikasa hatten ihre Strafe nur für einige Tage absitzen müssen. Immerhin gehörten sie zu den Leuten, die die Tore von Mauer Maria versiegelt konnten. Und es überlebt hatten. In seinen Träumen hatte der Junge Erinnerungen von seinem Vater gesehen. Von Marley. Und dem Meer, das sie umgab.
Paradis. Eldia. Sperrzonen in Marley. Paradis als schlimmste Strafe. Unsere Heimat als schlimmste Strafe.
Es hatte eine lange Besprechung mit Historia – Ihrer Majestät, die Königin – sowie einigen hohen Führungskräften im Militär gegeben. Es war beschlossen worden die neu gewonnenen Informationen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Schließlich hatten sie dem Volk Transparenz versprochen, als sie die Monarchie gestürzt hatten.
Ein simples Abkommen: Wir lassen euch in Ruhe, wenn ihr uns in Ruhe lasst. Nun, 100 Jahre später, wird Marley dennoch kommen.
Es hatte eine Trauerzeremonie für die Gefallenen gegeben. Der Rest der Aufklärungslegion, einschließlich Motte, hatten an diesem Tag Ehrenmedaillen erhalten. Für... Ja, für was eigentlich? Für das Schließen der Tore? Es schien so mickrig im Vergleich zu dem, was in den Büchern stand. Für die Wahrheit? Sollte man für so etwas ausgezeichnet werden?
Die Zeremonie war für einen kurzen Augenblick ins Stocken gekommen, nachdem Eren wie alle anderen auch zum Dank die Hand der Königin geküsst hatte. Er hatte sie einfach nicht mehr losgelassen. Levi, der direkt neben ihm gekniet hatte, hatte genau gesehen, dass der Junge woanders gewesen sein musste. Sein Gesicht war in diesem Moment so voller Wut und Hass gewesen, Levis Nackenhaare hatten sich aufgestellt. Der erste Gedanke, der ihm in den Kopf geschossen war, war sich Eren nicht als Feind zu wünschen.
Hass. Scheinbar überall.
Natürlich waren die Leute in den Mauern entsetzt. Es war nun die Aufgabe des Militärs mit den neuen Informationen zu arbeiten. Planen und handeln, das wurde nun von ihnen erwartet. Schließlich waren ihr größter Feind keine Titanen. Das wäre ja zu einfach. Es waren Menschen. Nicht nur ein paar, wie die Zentralbrigade. Nein, es waren mehr, viel mehr.
Eigentlich war es die ganze Welt.
Wegen unserer Vorfahren. Wegen uns, dem Volk Ymirs.
Levi konnte es nicht beschreiben. Seltsam käme noch am ehesten hin, aber auch das stimmte seiner Meinung nach nicht. Seit er den Inhalt von Dr. Jägers Büchern kannte, fühlte er sich taub. Er hatte Worte gelesen, die eine Geschichte bildeten. Angeblich sei sie wahr, aber das wollte bei ihm noch nicht so richtig ankommen. Ihm war es leichter gefallen zu glauben, dass die Nervensäge aus einer anderen Welt stammte. Allerdings ging es jetzt um diese, um seine Welt, die so viel größer war als er jemals angenommen hatte. Und nun überlegten sie sich, was sie tun sollten, da anscheinend ebendiese Welt sie wegen irgendwelcher Bodenschätze angreifen wollte. Zurzeit hatte er das Gefühl, er würde einfach im Strom treiben, komplett unwissend, wo er landen würde, nur die Richtung kannte er: Vorwärts. Er wusste, er würde noch Wochen, wenn nicht, Monate brauchen, um sich an all das zu gewöhnen.
Den Menschen in seiner Umgebung ging es nicht anders. Hanji trug die Miene der neuen Kommandantin der Aufklärungslegion tapfer, auch wenn Levi täglich ihre Unsicherheit spürte. Sie war momentan nicht sehr gut auf Eren zu sprechen. Zum einen wohl, weil er Levi so vehement davon abhalten wollte, Armin sterben zu lassen.
Zum anderen war der Junge ziemlich neben der Spur, seit sie aus Shiganshina zurückgekehrt waren. Nicht nur sein Verhalten bei der Zeremonie, er blickte oft ins Leere, murmelte unverständliche Dinge vor sich her oder schrie aus heiterem Himmel auf. Hanji machte es noch nervöser als sie sowieso schon war, aber Levi tat er eigentlich nur leid.
Eren, Mikasa und er selbst auch wurden zwar nie direkt damit konfrontiert, aber sie spürten es deutlich. Alle, die den Bericht über die Vorfälle in Shiganshina gelesen hatten, meinten, sie hätten sich von ihren Gefühlen leiten lassen. Sie fragten sich hinter ihren Rücken: Wieso dieser Junge? Wieso nicht Erwin?
Sogar Motte verhielt sich anders. Wenn der Abend näher rückte, schien es, als könne sie es kaum erwarten aufzuwachen und doch erschien sie jeden Tag bereits so früh, da hatten die ersten Sonnenstrahlen gerademal den Horizont erklommen, Sie war immer noch lebhaft, lachte herzhaft, gestikulierte wild, redete viel, so wie Levi es von ihr gewohnt war. Aber sie tat es seltener. Häufig war sie still. An ihrem Blick erkannte er, dass sie nachdachte, oft, nur im Gegensatz zu früher schien sie ihre Gedanken nicht mehr auszusprechen. Ihn beunruhigte das, beschloss aber, sie nicht darauf anzusprechen. Sie musste diese Flut an Informationen genauso verarbeiten wie alle anderen auch und sie sollte dafür so viel Zeit haben, wie nötig war.
Es war, als sie nach einem Treffen mit Hanji und zwei Leuten von der Presse, das halb Besprechung halb Nachmittagstee gewesen war, sich auf den Rückweg zum Hauptquartier befanden, dass sie an einer Gruppe Passanten vorbeiliefen, die sich über das Thema Nummer Eins unterhielten: Marley, Paradis und ihre Rolle als Eldia.
Im Laufe der Zeit hatten sie festgestellt, dass es vier verschieden Reaktionen in der Zivilbevölkerung gab: Die, die die Aufklarungslegion als Helden feierten, die, die bei dem, was in der Zeitung stand, Angst bekamen, die, die Witze darüber rissen, und die, die das alles nicht glaubten und meinten, es stecke eine Verschwörung des Militärs dahinter. Das Grüppchen, das sie passierten, gehörte definitiv zur Letzteren. Da Levi nicht seine Uniform trug und Motte vor jedermanns Augen außer vor seinen verborgen blieb, senkten sie nicht ihre Stimmen, als sie unverblümt über die Soldaten herzogen.
Es war nicht das erste Mal, dass sie so etwas mitbekamen, aber anscheinend war Mottes Fass bis dahin schon randvoll gewesen und nun lief es über. Wie sonst auch ignorierte Levi die Menschen und setzte ungerührt seinen Weg fort, doch Motte neben ihm explodierte förmlich. Zwar entmanifestiert – also wollte sie, dass nur er es mitbekam – und trotzdem hätte er gewettet, dass halb Trost sie hörte. Zuerst schimpfte sie über die Leute, von denen sie gerade ein paar Fetzen aufgeschnappt hatten, dann über die Menschen in den Mauern und wie sie auf die Nachrichten allgemein reagierten.
In diesem Zusammenhang schenkte sie Flocke Forster noch einmal ein Extrakapitel. Schon direkt nach der Expedition hatte sie Levi ihren Missmut bezüglich des Rothaarigen mitgeteilt. Sie fände ihn absolut unheimlich, allein schon wie er über Erwin geredet hatte und dass er es als Teufel verdient hatte, weiterhin in dieser Hölle zu leben. Außerdem schien vor der Trauerzeremonie noch etwas vorgefallen zu sein. Er hatte am Rande mitbekommen, wie seine Einheit inklusive Motte mit Flocke eine Auseinandersetzung gehabt hatten. Levi war sich nicht sicher, worum es dabei genau gegangen war, nur dass Motte anschließend mit rauchendem Kopf zu ihm geschwebt war und geschworen hatte, dem Rothaarigen irgendwann Eine reinzuhauen. Nachdem er gefragt hatte, was er denn gesagt habe, hatte sie jedoch gezögert und nur gemeint, dass Levi ihm wohl jeden einzelnen Knochen brechen würde, wenn er das wisse. Jedenfalls beschwerte sie sich nun auch jetzt ausführlich über Flocke.
Bis Levi sein Zimmer erreicht hatte, war sie bei dem Thema angelangt, von dem er glaubte, dass es sie am meisten beschäftigte: Den Inhalt der Bücher. Er hatte sie noch nie dermaßen außer sich gesehen. Wütend, ja, oft. Laut, auch ja, viel zu oft. Aber noch nie so aufgewühlt. Sie schrie und heulte und ließ ihren Emotionen freien Lauf, angeführt von der Wut.
Wie es sein könne, dass Menschen beschlossen hatten, über Generationen hinweg eine bestimmte Bevölkerung zu hassen und zwar wegen Verbrechen der Vorfahren, von denen man sich nicht einmal sicher war, ob sie überhaupt geschehen waren, wollte sie wissen. Was zur Hölle man sich dabei dachte, wenn man sich damit zufrieden gab, diese Menschen in Mauern oder eine Sperrzone eingeschlossen zu lassen. Wie man jemanden die Ausgeburt des Teufels nennen konnte, ohne denjenigen getroffen, ja nicht einmal gesehen zu haben. Für sie sei noch nie etwas unverständlicher gewesen. So primitiv und dumm. Es machte sie fuchsteufelswild.
Levi hörte sich alles stumm und geduldig an. Ihm war klar, dass sie keinesfalls auf ihn wütend war, ließ das auch mit keiner Silbe andeuten. Er war insgeheim froh sie so zu erleben, denn er wusste, dass Emotionen sich schnell anstauen konnten, und während sie über eine Stunde lang ohne Pause tobte, hatte er das Gefühl, sich selbst leichter zu fühlen. Als würde ihm die Schwere, die seit der Expedition auf ihn lastete und so seltsam taub werden ließ, ein Stück genommen werden. In der ganzen Verwirrung und Unsicherheit, die er spürte, rührte es ihn, dass Motte sich wegen ihnen so aufregte.
Als sie fertig war und sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, gingen sie in die Küche und kochten Tee, den sie wieder mit aufs Zimmer nahmen. Er hatte zwar vor zwei Stunden erst mehrere Tassen heruntergestürzt, aber er trank jetzt trotzdem gleich nochmal drei. Sogar Motte nahm sich welchen, obwohl sie wusste, dass sie ihn aus dieser Welt nicht vertrug. Ihre Stimme war heiser vom vielen Schreien und sie sah nur noch erschöpft aus. Mit hängenden Lidern blickte sie in die dunkle Flüssigkeit und gab matt zu bekennen, was sie alle beschäftigte: „Ab jetzt wird alles anders."
Intermedium – Tag 1432
„Dann heißt es jetzt wohl auf Wiedersehen. Hoffentlich kann man es wörtlich nehmen."
„Scheint so. Aber sollten Sie es sich noch einmal anders überlegen und wieder herkommen wollen, bevor... bevor alles vorbei ist, melden Sie sich einfach."
„Danke, das werde ich. Ich... Ich hoffe..."
„Ja?"
„Ich weiß es nicht. Ich habe das Gefühl, das jeder Wunsch zu viel verlangt ist. Immerhin ziehen wir in den Krieg... Überleben. Dass so viele wie möglich überleben. Dass er überlebt. Das hoffe ich. Jeden Tag."
„Ich würde ja zu gerne auf dem neusten Stand bleiben. Ein Jammer, dass die Serie nicht fortgesetzt wird... Obwohl, nach dem, was Sie mir erzählt haben..."
„... ist es vielleicht auch besser so, ja... Es war... Die Serie am Meer zu beenden, war vielleicht wirklich nicht das Schlechteste, auch wenn viele Fans heute noch sauer sind."
„Was auch passiert, Sie dürfen nie vergessen, wer Sie sind. Was Ihnen wichtig ist. Wofür... Wofür es sich für Sie zu kämpfen lohnt."
„Danke. Für alles. Ich glaube, Sie haben mir in den letzten Jahren sehr geholfen."
„Tatsächlich? Das freut mich zu hören."
„Ja, wirklich. Ich konnte reden und Sie haben mir zugehört. Für mich war das... Danke." Motte erhob sich aus dem Stuhl und hängte sich ihre Handtasche um. Die nächste logische Handlung wäre zur Tür zu gehen, doch stattdessen stand sie noch unschlüssig auf der Stelle und spielte mit der Mütze in ihrer Hand. Schließlich ergänzte sie noch schüchtern: „Er dankt Ihnen übrigens auch. Ich soll's ausrichten."
Ihre Gegenüber riss überrascht den Mund auf. „Wer? Levi?! Wirklich?!" Nachdem Motte kurz nickte, zogen sich ihre Mundwinkel ehrlich nach oben. „Ich fühle mich geehrt. Vielen Dank!" Kurz zögerte sie, doch dann legte sie ihre rechte Faust auf ihre Brust, lächelte verunsichert. „Passen Sie auf sich auf."
Vor Verwunderung zogen sich Mottes Mundwinkel nach oben. Sie erwiderte den Salut. Ein Teil von ihr fand es befremdlich diese Haltung einzunehmen, ohne ihre Uniform zu tragen, sondern stattdessen Jeans und einen Trenchcoat, die Handtasche umgehängt, in einer Fast noch die Mütze. Einem anderen Teil jedoch war diese Geste so unendlich vertraut, es tat fast schon weh.
Der große Hammer am Außenbezirk Trost, der zur Tötung von Titanen dient, hat seinen letzten Einsatz zu der Zeit getätigt, als die ersten Schneeflocken am Boden liegen geblieben sind.
Noch bevor der Schnee wieder komplett geschmolzen ist, hat die Aufklärungslegion verkündet, dass alle Riesen innerhalb von Mauer Maria vernichtet worden sind.
Als der Aufzug bei Trost wieder zum Einsatz gekommen ist und die ersten Straßenläden eröffnet haben, haben die Blumen bereits zu sprießen begonnen und Schmetterlinge tanzten umher. Flüchtlinge sind in ihre Heimat zurückgeschickt worden, ein Jahr nach dem Angriff auf Trost.
Endlich, sechs Jahre nachdem der Kolossale Riese zum ersten Mal aufgetaucht ist, beginnt die Aufklärungslegion erneut ihre Expeditionen jenseits von Mauer Maria.
Jahr 851
Das Jahr war wie im Flug vergangen. Levi war hauptsächlich damit beschäftigt gewesen, Titanen zu töten. Und zu lernen, wie alle anderen auch. Die Geschichte von Marley und Eldia, die Kriege, die sie gefochten hatten, die Titanenkräfte. Damit allerdings nicht genug.
In kurzer Zeit lernten sie Vieles kennen, vor allem aus Grisha Jägers Büchern: Das Prinzip von Ländern und Sprachen war noch einfach, mit Politik tat sich Levi sowieso schon immer schwer, aber womit alle Probleme hatten, waren die Technologien. Dr. Jäger hatte zwar einige beschrieben, doch Eren hatte in dessen Erinnerungen noch mehr entdeckt. Zu jedermanns Erleichterung handelte es sich um Dinge, die Motte kannte. Innerhalb des letzten Jahres hatten die beiden versucht, sie auf Papier zu bringen und zu erklären. Eren hatte Beschreibungen geliefert, die auf den verschwommenen Erinnerungen seines Vaters basierten, hatte sie sogar gelegentlich skizziert. Motte hatte es dann benannt und beschrieben:
„Das ist ein Schiff. Wie ein Boot, nur viel größer. Dementsprechend kann es auch mehr Leute oder schwere Gegenstände transportiert. Das frisst aber ordentlich Energie, da kann man nicht paddeln. In den Zeichentrickfilmen haben die immer Kohle benutzt, das machen die hier vermutlich auch..."
„Die. Haben. Autos?! Praktische Dinger, echt! Bei uns könnte man sich ein Leben ohne Autos gar nicht mehr vorstellen!"
„Metallener Vogel? Meinst du ein Flugzeug? Ja, das ist ein Flugzeug! Man fliegt damit, wer hätte das gedacht? Davon hab ich dir erzählt, Levi ,weißt du noch? Aber so wie du's gemalt hast, schaut es älter aus... Die gab's bei uns vor vielleicht siebzig oder achtzig Jahren? Ich weiß es nicht genau..."
Ja, Levi erinnerte sich noch. Motte hatte ihm von allerlei wundersamen Dingen aus ihrer Welt erzählt, von denen er die meisten Namen wieder vergessen hatte und Vieles durcheinander warf. Aber an den metallenen Flieger, einem Flugzeug, konnte er sich erinnern. An die Kästen, die auf vier Rädern fuhren, ebenso. Da war noch etwas in ihren Erzählungen gewesen, das sich in seinem Hirn festgesetzt hatte, aber als er Eren nach Staubsaugern gefragt hatte, hatte der Junge nur verwirrt mit dem Kopf geschüttelt.
„Aber in Marley gibt es Strom", hatte Motte ihn trösten wollen, obwohl er nicht einmal den kleinsten Hauch von Enttäuschung gezeigt hatte, da war er sich sicher, „die Chancen stehen also nicht schlecht, dass sie vielleicht schon Staubsauger erfunden haben und Eren sie einfach nicht in den Erinnerungen gesehen hat."
Mottes Funktion hatte sich wie von selbst verschoben. Natürlich hatte sie sie im letzten Jahr auf Expeditionen begleitet, Ausschau gehalten, doch ihre Rolle innerhalb der Mauern hatte einen höheren Stellenwert eingenommen. Sie war momentan der einzige Mensch auf... auf dieser Insel, Paradis, der einigermaßen den technischen Stand von Marley verstand. Erfindungen und Technologie waren eigentlich nicht ihre Stärken, allerdings konnte sie, wenn sie wach und in ihrer Welt war, ganz einfach nachschauen, wie beispielsweise ein Luftschiff gebaut wurde. Dabei beschränkte sie sich aufs Nötigste, damit es jeder, vor allem sie selbst, begriff. Es stellte sich heraus, dass es trotzdem nicht ganz so einfach war, wie es zuerst geklungen hatte. Mehr als einmal hatte Motte betont, dass sich Marley laut Erens Skizzen auf einem Stand befand, der dem ihrer Welt vor mehreren Dekaden glich. An Informationen zu kommen, die über fünfzig Jahre alt waren, war nicht einfach.
Dennoch stellte sie eine Art informatives Bindeglied dar. Erzählungen über ihre Welt waren nun keine mehr, es waren Daten, die ihnen weiterhelfen konnten. Inzwischen mehr als einmal war es geschehen, dass sich Motte vor den obersten Häuptern des Militärs wiederfand, um Projekte vorzustellen, die auf Paradis Gestalt annehmen könnten. Hauptsächlich ging es um Fragen der Infrastruktur, die allerdings noch nicht umgesetzt werden konnten, da ihnen die meisten Ressourcen fehlten. Tatsächlich waren es nichts weiter als Berichte. Als ein solches Treffen zum ersten Mal beschlossen worden war, war es zeitlich mit einer Expedition der Aufklärungslegion zusammengefallen, das hieß, dass weder Levi noch Hanji hätten anwesend sein können – worauf auch keinerlei Rücksicht genommen worden war, schließlich waren sie die ersten, mit denen Motte über so etwas sprach. Das Mädchen war unheimlich nervös gewesen alleine vor so hohen Tieren sprechen zu müssen, doch als es hieß, dass die Königin selbst ebenfalls anwesend sein würde, hatte sie sich etwas beruhigen können. Historia war immerhin eine Freundin, mit der sie sich gut verstand.
Mottes Leben in ihrer Welt schien auch normal weiterzulaufen. Sie war durch ihr Kampfsporttraining muskulöser geworden, sodass sie auch im Training in dieser Welt langsam aber stetig bessere Ergebnisse zeigte. Ihre Haare waren gewachsen und fielen ihr inzwischen auf die Schultern, jedoch beschwerte sie sich oft, dass sie sie hier nicht richtig zusammenbinden konnte. Mehr hatte sich nicht verändert.
Zumindest nicht wirklich. Levi war aufgefallen, dass Motte bei ihrem täglichen Erscheinen aufgebracht war, häufiger als vor einem Jahr. Ihre Stimmung legte sich schnell, sobald sie den Aufgaben des hiesigen Alltags entgegentrat, doch es hing stets in der Luft. Und sie wusste, dass Levi davon Kenntnis nahm. Sprach er sie darauf an, winkte sie es meistens ab. Fast schon beiläufig erklärte sie, dass sie sich mit Klassenkameraden gestritten hatte. Oder Lehrern. Oder ihrer Mutter. Oder sonst irgendwem. Aber es sei nichts Besonderes. Ebenfalls erwähnt hatte sie, dass sie das Schuljahr wohl nicht schaffen würde, sei keine große Sache. Levi hatte das vorne und hinten nicht kapiert, woraufhin er die nächste halbe Stunde über Schulfächer, Noten und noch vielem mehr aufgeklärt worden war.
Erst vor einer Woche hatte sie gestanden, dass sie mehrmals auf angeblich fehlerhaftes Verhalten angesprochen worden war. Es sei inakzeptabel. „Sie meinen mit mir stimmt was nicht. Blöde Arschlöcher." Levi glaubte schnell, dass sie sich veränderte, aber das tat man nun mal in diesem Alter, oder etwa nicht? Außerdem war das, was hier geschah und welche Auswirkungen es auf jemanden haben konnte, vermutlich nicht begreifbar für die Menschen in ihrer Welt. In seinen Augen war es nicht notwendig jemanden zu maßregeln, der handgreiflich geworden war, nachdem derjenige beleidigt worden war. Die Leute in ihrer Umgebung waren da aber anscheinend anderer Meinung.
Wenn er sie jetzt, auf der ersten Expedition außerhalb von Mauer Maria, aus dem Augenwinkel betrachtete, wirkte sie wie immer auf ihn. Sie hatte ihre ernsteren Momente, ja, aber sie wurde auch schließlich älter. Es änderte nichts an ihrer lauten, wechselhaften, oft nervenzerreißenden Art. Gerade eben hielt sie den Blick starr geradeaus gerichtet, komplett auf den Weg vor ihnen fokussiert. Obwohl sie flog und dementsprechend den Gesetzen der Natur widersprach, wehten ihre Haare im Gegenwind wie bei allen anderen auch. Schließlich schien sie doch seinen Blick auf sich zu spüren, denn sie linste zu ihm rüber. Als sie ihn beim Mustern ertappte, streckte sie ihm die Zunge raus. „Was ist, Herr Emotionslos?", neckte sie ihn. „Langeweile, weil es keine Titanen gibt, um Aggressionen rauszulassen?"
Er schnalzte mit der Zunge und wandte seinen Blick ab. „Kann schon sein." Hanji hatte die Vermutung aufgestellt, dass im Laufe der letzten Jahre die meisten Titanen sich dorthin begeben hatten, wo es die meisten Menschen gab, sprich in Mauer Maria. Und tatsächlich bemerkte Levi, dass sie auf fast keine Riesen trafen. Einen jedoch hatten sie gefunden, der aufgrund seiner winzigen Extremitäten kaum vorwärtskam. Stück für Stück musste er sich Richtung der Mauer ziehen und bewegte sie dabei so langsam, dass in dem Graben, den er hinterließ, keine zwei Meter von ihm entfernt wieder Blumen und Bäumchen sprossen. Es war fast schon ein trauriger Anblick.
„Keine Sorge. In ein paar Tagen sind wir am Meer und da wird die Langeweile garantiert vergehen!", versprach sie und grinste vor Vorfreude. Schon seit Wochen freute sie sich auf diese Expedition und lag ihm damit so sehr in den Ohren, dass er sich schon fast angesteckt hatte. Sie und Armin hatten sich in der letzten Zeit wie kleine Kinder verhalten, die begeistert auf ihren Geburtstag warteten. Armin, da er kurz davor war seinen Kindheitstraum zu erfüllen, Motte, da sie ihnen allen endlich das Meer zeigen konnte, auch wenn sie es bis jetzt nur aus ihrer Welt kannte. Es sei ihnen gegönnt.
Nachdem ihre Konversation wieder verstummte, huschte sein Blick noch einmal kurz zu ihr. Ihre Mundwinkel waren deutlich angehoben und ihre Augen funkelten vor Aufregung. Levi verstand nicht, wie man ihr Fehlverhalten vorwerfen konnte.
Am dritten Tag nach ihrem Aufbruch erreichten sie ihr Ziel. Schon Stunden zuvor war die Vegetation immer spärlicher geworden: Bäume und Blumen hatten sich allmählich ausgedünnt, bis schließlich sogar das Gras verschwand, sodass sie letztendlich nur noch über Sandboden ritten. Der Boden war flacher geworden, hier und da ragte mal ein kantiger Hügel in den Himmel. Bald darauf bemerkte Levi, dass die Luft sich verändert hatte; sie war wärmer, feuchter. Außerdem hatte er das Gefühl als würde sie auf seiner Haut kleben. Dann folgte der Geruch und schließlich der Geschmack von Salz. Vögel, die seltsam schrien, kreisten am Himmel.
„Möwen!", hatte Motte aufgeregt ausgerufen, als sie sie zum ersten Mal gehört hatten. Sie wurde jeder Minute hibbeliger und hörte gar nicht mehr auf von ihren wenigen Ausflügen ans Meer zu erzählen. Zum bestimmt vierten oder fünften Mal schon legte sie dar, wie damals ihr Vater, der zu der Zeit noch bei ihnen gelebt hatte, mit ihr in den Wellen gespielt und diese dabei überschätzt hatte. Sie behauptete, dies wäre die erste Nahtoderfahrung in ihrem Leben gewesen.
Levi ließ sie reden. Unbewusst hatte er seine Zügel fester gepackt. Jetzt, da sie ihrem Ziel so nah waren, merkte er, wie die Neugierde ihn ebenfalls packte. Wasser so weit das Auge reichte... Was für eine Vorstellung.
Am Horizont erschienen zwei hohe, felsige Hügel zwischen denen eine Mauer hochgezogen worden war. „Genau wie in den Erinnerungen meines Vaters", verkündete Eren, der nicht unweit von ihm ritt. Sie bewegten sich an der Mauer entlang, fanden an einem der Hügel einen schmalen Pfad, den sie nutzen konnten, und gelangten so an dessen Spitze.
Levi verschlug es die Sprache. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie so viel Blau gesehen. Den Himmel, ja, oft, vor allem, wenn er wolkenlos war, doch spätestens am Horizont war die Farbe des Himmels denen der Erde gewichen. Doch jetzt war es anders. Das Himmelszelt getupft mit weißen, teilweise gräulichen Wolken grenzte an ein tiefes, dunkleres Blau, auf dem sich die Sonnenstrahlen reflektierten und tanzten. Ein sanfter Wind wehte den Geruch von Salz zu ihnen und es war unbestreitbar, dass er von den riesigen, schier endlosen Wassermassen vor ihnen kam.
Mehr als ein Wort, ein Name, mehr als eine simple Beschreibung. Dieser Anblick, der sandige Boden, die salzige Luft, der klebrige Wind, das Geschrei der Möwen. All das zusammen war das Meer.
Um sie herum zog die Nervensäge begeisterte Kreise und Bahnen und wollte unbedingt näher ran und um ehrlich zu sein, ruinierte sie für Levi zumindest ein bisschen den Moment. Allerdings beschlossen sie, genau das zu tun.
Unten am Hügel zog sich ein Sandstreifen am Wasser entlang, Motte teilte ihnen mit, dass man das Strand nannte. Während sich alle ihre Umhänge, Jacken und Stiefeln auszogen und es kaum erwarten konnten, ins Wasser zu laufen, hielt Levi erstmal eine gesunde Distanz. Er musste gestehen, das Meer war ein unglaublicher Anblick; es erinnerte ihn an den Moment, in dem er zum ersten Mal den weiten Himmel gesehen hatte. Oder Schnee. Jedoch besaß jede Rose bekanntlich Dornen und Levi konnte sich gut vorstellen, dass diese Wassermassen ein hervorragendes Versteck für allerlei Gefahren bot. Allein, wie es sich im gleichmäßigen Rhythmus zurückzog und wieder mit einer Welle vorwärtsschob, machte auf ihn sowohl einen beruhigenden als auch bedrohlichen Eindruck.
„Und das ist wirklich so salzig?", hörte er Jean zweifelnd bei Motte nachfragen, als sie sich gerade ihre Hosen hochkrempelten.
„Wenn du es probieren willst, halte ich dich nicht davon ab", versicherte sie ihm schulterzuckend. Ein boshaftes Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. „Aber sag nicht, dass ich dich nicht gewarnt hätte."
Levis Aufmerksamkeit wurde von Sascha abgelenkt, die schmerzhaft aufschrie, nachdem Connie ihr eine Ladung Wasser ins Gesicht gespritzt hatte. Kurz darauf schloss sich Jean ihr an, der tatsächlich etwas getrunken hatte. Motte musste über die beiden lachen. Es schien tatsächlich salzig zu sein. Das erklärte auch den klebrigen Wind.
Sogar Hanji hatte sich bereits einige Schritte hineingewagt. Sie bückte sich und tauchte ihre Hände unter. Anschließend leckte sie sich vorsichtig über die Fingerspitzen. Ihr darauffolgendes Aufrufen war ausschließlich voller Begeisterung. „Alles Salzwasser!", stellte sie hingerissen fest. „Oh, was ist denn das?" Anscheinend hatte sie etwas entdeckt und griff nun danach.
„Hey, Hanji. Was auch immer du da gleich anfassen wirst, es ist vermutlich giftig, also lass es", mahnte Levi sie. Er hielt immer noch einige Meter Abstand zum Wasser. Wieso benahmen sich eigentlich alle wie Kinder? Eren, Armin und Mikasa waren noch die ruhigsten in der Gruppe; sie standen bis zu den Knöcheln im Wasser und nahmen all die Eindrücke still in sich auf.
Durch Levis Worte hatte er die Aufmerksamkeit der Nervensäge auf sich gelenkt, die empört feststellte, dass er sich nicht vom Fleck bewegt hatte. Sofort kam sie zu ihm geflogen. Sobald sie sich vor ihm manifestiert hatte, zog sie an seinem Umhang, sodass er sich von seinen Schultern löste. „Reiß da nicht dran rum! Du machst ihn kaputt!", fuhr er sie an.
Sie runzelte unbeeindruckt die Stirn und legte den Umhang auf den Boden. „Weißt du, was der schon alles ausgehalten hat? Wenn der jetzt gerissen wäre, dann weil seine Zeit gekommen ist." Nun zupfte sie an seiner Jacke rum, doch er riss sich eilig von ihr los. „Lass das! Ich will da nicht rein."
Augenblicklich zogen sich ihre Augenbrauen grimmig zusammen. „Ich werde nicht zulassen, dass ich zum ersten Mal mit meinen Freunden am Strand bin und auch nur einer von ihnen nicht im Wasser war! Und wenn ich dich mit deiner kompletten Uniform da reinschubsen muss, ist mir egal!" Oh je, er kannte diesen Blick. Sie würde keinesfalls nachgeben.
Als würde sie seine stumme Befürchtung bestätigen wollen, griff sie wieder nach seinem Ärmel, dieses Mal energischer. Verärgert wand er sich aus ihrem Griff. „Ist ja gut!", schnauzte er und schenkte ihr einen bitterbösen Blick. Gleichzeitig streifte er die Jacke ab. „Was für eine Nervensäge!", zischte er und funkelte sie an, damit sie auch ja verstand, wer adressiert war.
Danach krempelte er seine Ärmel hoch und murmelte dem Mädchen Flüche entgegen, das jedoch nur mit ungerührter Miene und verschränkten Armen neben ihm stand und überwachte, dass er auch ja keinen Rückzieher machen konnte. „Wenn ich krank werde", drohte er mit schmalen Augen und hob den Zeigefinger, „mach ich dich verantwortlich."
Entnervt verdrehte sie die Augen. „Meine Güte, du wirst doch von dem bisschen Nass nicht krank! Kalt ist das Wasser auch nicht wirklich", wusste sie und schob seinen Zeigefinger aus ihrem Gesicht.
„Wer weiß, was da alles herumfleucht", murmelte er vor sich hin, während er sich an seinen Stiefeln zu schaffen machte. Sie neigte sich zu ihm herunter. „Bitte?", fragte sie provozierend nach.
Er richtete sich auf und kickte seine Stiefel weg, doch er kam nicht mehr dazu, etwas Bissiges zu entgegnen, denn Hanji kam mit leuchtenden Augen auf sie zugewatet. Sand blieb an ihren nassen Füßen kleben und in ihren Händen hielt sie je ein dunkles, wurstartiges... Ding. „Hanji, was hast du da?", fragte er gefährlich ruhig.
„Keine Ahnung!", meinte sie Feuer und Flamme und hielt Motte die zwei glitschigen Würmer unter die Nase. „Hast du sowas schon einmal gesehen?"
„Du musst ihr nicht antworten", riet Levi dem Mädchen aus Reflex und beäugte Hanjis Entdeckungen voller Misstrauen.
Motte jedoch, überrascht von der plötzlichen Nähe dieser Viecher, erwiderte nur perplex: „Ich glaube, das sind Seegurken?" Gurken?!, schoss es ihm durch den Kopf.
Das Thema wurde beendet, indem Armins begeisterte Stimme zu ihnen herübergetragen wurde. „Schau dir das an, Eren. Auf der anderen Seite der Mauer..."
„Ist das Meer", fiel der Dunkelhaarige ihm teilnahmslos ins Wort. Er stand einige Schritte tiefer im Wasser als die anderen, hatten ihnen den Rücken gekehrt, blickte nur geradeaus zum Horizont. „Und hinter diesem Meer liegt die Freiheit. Das habe ich die ganze Zeit geglaubt. Aber ich lag falsch. Das einzige, das wir da draußen finden werden, ist der Feind." Als er sich mit gequältem Blick seinen zwei engsten Freunden zuwandte, zuckte Levi innerlich zusammen. Ob es nur an der Brise lag, die ihnen entgegenwehte, wusste er nicht.
„Alles ist genau so, wie ich es in den Erinnerungen meines Vaters gesehen habe." Eren hob seinen Arm und deutete fast schon beiläufig auf den Horizont. „Wenn wir jeden einzelnen unserer Feinde da draußen töten", sprach er ruhig und klang mit einem Mal so alt, „werden wir dann endlich frei sein?"
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