Grausamkeit

Kapitel 57 – Grausamkeit


Sie waren seit fast einem Monat im Wald, als sie die Nachricht erreichte, dass Eren ausgebrochen war. Zudem war Dallis Zacklay in einem Attentat umgekommen und eine Gruppe von etwa einhundert Soldaten – die meisten von ihnen aus der Aufklärungslegion – übernahm die Kontrolle über das Militär. Sie nannten sich die Jägeristen und waren leidenschaftliche Anhänger von Eren. Sie waren es auch, die die Informationen über seine Gefangennahme zu der Bevölkerung haben durchsickern lassen. Es wurde vermutet, dass das Ganze ein Plan von Zeke war, der Yelena und Eren involvierte. Die Jägeristen waren höchstwahrscheinlich auf dem Weg hierher, um die Brüder zusammenzubringen und eine Kostprobe des Grollens zu erhalten.

Hanji war derzeit nicht im Hauptquartier und hatte deshalb von dem Putsch nichts mitbekommen und Pixis, dessen Ziel es schon immer gewesen war, die eigenen Leute so konfliktlos wie möglich zu schützen, hatte eingewilligt, mit ihnen zu verhandeln. Levi wusste, was das bedeutete: „Er hat vor, Eren fressen zu lassen."

Der Bote, der ihm all das berichtete, zögerte kurz und erwiderte dann: „Ja."

Die Tatsache, dass diese Entscheidung gefallen war, löste in ihm dumpfe Kopfschmerzen aus. Er stellte fest, unbewusst noch Hoffnung gehabt zu haben, dass die Militärpolizei noch zur Vernunft käme und verstand, dass Eren auf ihrer Seite war. Und dass Eren zur Vernunft käme und weiterhin im Sinne ihrer Ziele handelte. Immerhin... Immerhin hatten sie so Vieles für ihn geopfert.

Doch diese Hoffnung verrauchte.

Wir haben das Vertrauen in dich verloren, hatte Hanji zu dem Jungen gesagt. Levi war dieser Alleingang von ihm schon das ganze letzte Jahr über gegen den Strich gegangen, aber jetzt spürte er sie auch. Diese ehrlichen Zweifel.

„Levi?"

Die Boten waren an ihre Posten zurückgekehrt, teilten den anderen Soldaten mit, dass sie sich auf mögliche Konfrontation vorbereiten mussten. Nur Motte war mit ihm auf einem dieser beschissen breiten Äste dieser beschissen großen Bäume zurückgeblieben. Ihr vorsichtiger Blick fragte, was in ihm vorging.

„Ich habe Eren", murmelte er, „unzählige Male gerettet. Jedes Mal sind immer mehr dabei gestorben. Weil ich daran geglaubt habe, dass er die Menschheit retten wird. Und jetzt schau, wozu das alles geführt hat. Fast wie ein schlechter Witz."

Motte schienen die Worte zu fehlen. In ihren Augen entdeckte er Unsicherheit und doch schien sie gefasster als er sich fühlte. Hatte sie den Jungen tatsächlich schon aufgegeben?

Seine Kopfschmerzen wurden schlimmer und er legte instinktiv seine Hand an die Stirn. Die Enttäuschung, die er verspürte, wurde zu Wut. „Was für ein Bullshit!", fluchte er. „Es ist nicht mal witzig! Dabei haben wir noch einen anderen Bastard, der gefressen werden sollte!"

„Wen meinst du?"

„Zeke", knurrte er und linste verächtlich nach unten, wo der Mann sein Buch las. „Wir verfüttern ihn an einen der Jägeristen. Ich weiß nicht, ob er wirklich Eren manipuliert oder was genau sie vorhaben, aber ihr toller Plan ist hinüber, wenn sie Zeke verlieren. Pixis muss davon erfahren."

Er wollte sich gerade mit seiner Ausrüstung davonschwingen – entweder zu den zwei Boten, um ihnen aufzutragen, dem Kommandanten des Mauergarnison die Nachricht zu vermitteln, oder zu Zeke, um nochmals zu versuchen, etwas aus ihm herauszubekommen – als Motte ihn fragte: „Meinst du wirklich, dass wir das tun sollten?"

„Solange wir nicht wissen, was sie vorhaben", antwortete er schlecht gelaunt, „ist es zu riskant, ihm am Leben zu lassen." Allerdings war ihr Zögern nicht unberechtigt, immerhin würden sie die Kraft eines Titanen mit königlichem Blut verlieren. Deshalb fügte er noch hinzu: „Erstmal schneide ich ihm die Gliedmaßen ab, bis dahin wird sich der Alte hoffentlich entschieden haben. Sag du den Boten Bescheid, dass sie Pixis berichten sollen."

Ehe sie weiteren Protest äußern konnte, schwang er sich vom Baum und steuerte Zeke an. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass Motte in eine andere Richtung flog, um zu gehorchen.

Der Wortwechsel mit Zeke war kurz und unergiebig, so wie immer. Levi war sich sicher, dass er trotz seines üblichen unbeschwerten Plaudertons mitbekommen hatte, dass etwas geschehen war. Womöglich war er sich sogar im Klaren, was genau. Dennoch war er momentan von dreißig Soldaten der Aufklärungslegion umzingelt, nicht einmal er wäre so dumm, jetzt aufzumucken. Deswegen beherrschte Levi sich und ließ ihn weiterlesen.

Mit dem Lagerfeuer im Rücken schritt er auf Motte zu, die ihm gerade entgegengeflogen kam. „Varis sagt, er geht erst los, wenn er den Befehl direkt von dir erhält", teilte sie ihm mit und war anscheinend unzufrieden darüber, dass ihre Autorität infrage gestellt worden war.

Nun ja, es war dem Soldaten auch nicht zu verdenken, immerhin war Levi der Kapitän hier. „Ist gut, ich sag's ihm nochmal." Mit einer knappen Kopfbewegung wies er hinter sich auf Zeke. „Es ist egal, was Pixis sagt, ich werde ihn trotzdem zerstückeln. Dieses bärtige Stück Scheiße ist also doch unser Feind. Hat ja lang genug gedauert."

Seit vier Jahren trug er dieses Versprechen bei sich. Endlich würde er es halten können.

„Sag mal..." Er wandte sich an Motte, die ihn nicht direkt anschaute, sondern eher an ihm vorbeiblickte. „... bist du dir sicher, dass Eren damals, als du mit ihm geredet hast, nicht irgendetwas-..."

„Zeke haut ab", unterbrach sie ihn perplex.

„Was?"

Er wirbelte herum. An dem Platz, an dem Zeke noch vor zwei Minuten gesessen hatte, flatterten einsam und allein die Seiten seines Buches im Wind.

Zeke selber hatte ihnen den Rücken gekehrt und rannte zwischen die dunklen Bäume.

Levi und Motte waren zu verdattert, um zu reagieren. Sie konnten ihn bloß anstarren.

Im nächsten Moment brüllte Zeke in den Wald hinein.

„Was soll das?", hauchte Motte und klang so, als wolle sie die Antwort gar nicht kennen. Aber Levi hatte verstanden. Jede Faser in seinem Körper spannte sich an.

Im letzten Monat hatte er sich immer wieder die Geschichte angehört, wie Zeke die Menschen in Ragako vor vier Jahren in Riesen verwandelt hatte. Sobald Eldia Zekes Rückenmarkflüssigkeit in ihrem Körper aufgenommen hatten, brauchte es nicht mehr als einen Schrei.

Motte sollte keine verbale Antwort mehr erhalten. Um sie herum erschienen dutzende grell leuchtende Lichtquellen und erhellten den Wald. Die Soldaten, alle dreißig, wurden Opfer von Zekes Kräften.

„Nein...", wisperte Levi entsetzt, als ob es etwas ändern würde.

Schon krachte der erste Titan nur wenige Meter von ihnen entfernt auf den Boden. Der nächste folge zugleich. Und dann noch einer. Es regnete Riesen. Erbarmungslos fielen diese Monster... fielen Levis Leute.

„Was?!", flüsterte Motte. Er musste ihr Gesicht nicht sehen, um zu wissen, wie bestürzt sie war. „Wie?"

„Der Wein", schlussfolgerte Levi. „Es muss dieser verdammte Wein gewesen sein." Plötzlich fuhr er zu ihr herum. Sie hatte die Hände vor ihrer Brust gefaltet und konnte die aufgerissenen Augen nicht von den Titanen wenden, die sich von ihrem Sturz erholten. „Du hast auch davon getrunken!", fiel ihm ein. „Wieso bist du nicht...?"

Ihm kam die Erklärung, noch ehe er fertig geredet hatte. „Ich bin nicht von hier", beantwortete sie seine unvollendete Frage. „Ich bin keine Eldia."

Er konnte sich an keinen Moment erinnern, in dem er erleichterter über diese Tatsache war.

„Levi!", schrie sie plötzlich auf, doch sein Instinkt ließ ihn nicht im Stich. Aus dem Augenwinkel hatte er gesehen, dass sich der nächstgelegene Titan auf ihn stürzte, sodass er gerade noch rechtzeitig davon surren konnte.

„Du kennst die Regeln!", erinnerte er Motte, die neben ihm einen Baum entlang nach oben flog. Sein Tonfall war aufgrund der Lage strenger als beabsichtigt. Es war fast drei Jahre her, dass er diese Worte wieder aussprechen musste. „Keine Manifestation, wenn Riesen in der Nähe sind!"

Anstatt ihn wie sonst ihn darauf aufmerksam zu machen, dass sie nicht blöd sei, nickte sie nur. „Wie kann das sein?", fragte sie sich, anscheinend immer noch im Schock. „Keiner ist erstarrt. Zeke hat doch gesagt, dass man erstarrt, wenn man seine Rückenmarksflüssigkeit trinkt!"

„Bestimmt eine Lüge", knurrte er. Er stellte fest, dass die Riesen klettern konnten. Und sie waren nicht gerade langsam. „Damit wir keinen Verdacht schöpfen. Und es hat verdammt nochmal funktioniert!"

Wütend über seine eigene Naivität zog er seine Klingen und zerstückelte die Hand eines Riesen, die ihn gerade greifen wollte. Scheiße, sie hatten ihn so angefleht, diesen Wein zu behalten...! Er hätte strenger sein sollen!

Aus purem Instinkt holte er aus, um dem Titanen, dessen Hand er funktionsunfähig gemacht hatte, den Rest zu geben, doch dann stockte er. Er erkannte das Gesicht. Das war Varis. „Scheiße!", fluchte er dieses Mal laut und änderte die Richtung, weg von der Horde, die ihn verfolgte.

War Varis noch irgendwo da drin, in diesem Monster? Waren sie alle noch da?

Selbst wenn... Was brachte das?

Schon wieder.

Schon wieder starben Menschen. Starben seine Leute.

Sie starben, immer und immer wieder.

Wozu das Ganze?

Für Eren? Diesem jähzornigen Jungen, dessen feuriger Blick so kalt geworden war?

Für noch mehr Krieg? Für Schlachten ohne Sinn?

Was sollte am Ende dann noch übrigbleiben?

Ich.

Immerzu er.

Und sonst niemand mehr.

„... etwa schlecht, Levi?!"

Er wurde geschüttelt. Hände hatten ihn an den Schultern gepackt. Vor ihm schwebte die Nervensäge. Aus ihren wütenden Augen strömten Tränen. „Ey, wenn du jetzt draufgehst, bring ich dich um!", schrie sie und klang verzweifelt.

Hatte sie schon länger auf ihn eingeredet?

„Mann, beweg dich! Lass uns von hier verschwinden!" Sie hatte Angst, aber weshalb? Um sich? Um ihn?

Die Titanen hatten sie eingekreist; oben, unten, ringsherum... überall bekannte Gesichter, willenlose Monster.

„Bitte, Levi." Sie begann zu flehen. Ihre Hände verschwanden von seinen Schultern und schlossen sich um sein Gesicht. Ihre hellbraunen Augen schienen ihn zu durchbohren.

Ach, wieso weinte sie denn eigentlich schon wieder? Levi konnte es nicht nur nicht ausstehen, er hasste es geradezu. Es machte ihn so, so wütend. Allmählich taute er auf. Zorn brannte in seinen Adern.

„Ich hab dir doch gesagt", murmelte er, „du sollst dich nicht manifestieren, Nervensäge."

Sie ignorierte ihn. „Du hast ein Versprechen, das du halten musst, weißt du noch?"

Langsam wechselte er seine Klingen aus.

Natürlich wusste er das noch.

Natürlich wusste er, was er zu tun hatte. Was er schon immer zu tun hatte. Immerhin war er Soldat.


Zeke hatte einen großen Fehler gemacht: Er hatte nicht damit gerechnet, dass Levi seine Leute umbringen würde, selbst wenn sie zu diesen Kreaturen geworden waren. Deswegen war er komplett außer sich, als er feststellte, dass er ihn eingeholt hatte. Ganz in Rage zerquetschte Zeke als Tiertitan den Riesen, der ihn bis jetzt durch den Wald getragen hatte, und schmiss mit dessen Überresten nach dem Kapitän.

Levi nutzte die Dichte des Waldes zum Schutz. Indem er Äste abtrennte und zu Boden fallen ließ, lenkte er den hässlichen Affen ab, sodass es keine Minute dauerte, bis er vier Donnerspeere gleichzeitig in seinem Nacken grub. „Du hast keine Ahnung", grollte er dabei und sah nur noch rot, „wie viele Mitstreiter wir schon umgebracht haben!"

Eine Explosion später sackte der Tiertitan zu Boden und Levi zog Zekes Körper aus dessen Nacken. Die Wucht hatte viel Haut und Gewebe sowie all seine Gliedmaßen weggesprengt, sodass er noch hässlicher aussah als sonst. Er schien das Bewusstsein verloren zu haben.

Levi schnalzte nur verächtlich mit der Zunge und begnügte sich damit, die Bartfresse an den Haaren gepackt hinter sich her zu schleifen. Der Heilungsprozess setzte bereits ein und heißer Dampf leckte an Levis bloßer Haut, doch er beachtete es nicht. Schmerz spürte er keinen, stattdessen dröhnte sein Herzschlag noch in seinen Ohren.

„Du lässt ihn am Leben?", bemerkte Motte milde überrascht. Sie hatte seinen kurzweiligen Angriff auf Zeke aus der Ferne beobachtet und schwebte nun neben ihm. Angeekelt linste sie zu dem Bewusstlosen herunter.

„Vorerst", brummte Levi. „Wir fahren jetzt zum Hauptquartier. Dort soll entschieden werden, wer das Glück hat, diesen stinkenden Affen zu fressen." Unbewusst krallte sich seine Hand fester in das blonde Haar seines Gefangenen. „Und bis dahin sorge ich dafür, dass er sich nicht mehr verwandeln kann. Ich finde, er hat sein Anrecht auf Gliedmaßen verloren."

Neben ihm nickte Motte zustimmend. „Keine Einwände." Ihre Stimme klang gepresst, überspitzt kontrolliert. Auch sie musste ihre Emotionen zügeln.

Sie kehrten zu der Lichtung zurück, auf der bis vor weniger als einer halben Stunde ihr Lager noch gestanden war. Nun war sie in warmen, stinkenden Dampf gehüllt, der von den Kadavern von fast dreißig Riesen emporstieg. Zwischen der ganzen Wut, die in ihm kochte, kam ein neues Gefühl auf. Es lag schwer in seinem Herzen und tröpfelte in seinen Magen.

Die wenigen Pferde, die sie bei sich geführt hatten, hatten in dem Chaos das Weite gesucht. Es dauerte mehrere Stunden, bis sie ein Pferd und einen funktionstüchtigen Wagen aufgetrieben hatten. In der Zeit hatten sich die toten Riesen und mit ihnen der letzte physische Beweis, dass seine Mitstreiter am Leben gewesen waren, vollständig aufgelöst.

Als sie den Rand des Waldes erreichten und feststellten, wie tief die Nachmittagssonne bereits stand, fuhren sie noch knapp eine Stunde, bis Levi meinte ein Geräusch zu hören. Er zog an den Zügeln und hielt so den Wagen an.

„Was ist los?", fragte Motte, die manifestiert neben ihm saß, verwundert. Die beiden hatten in der ganzen Zeit kaum ein Wort gewechselt. Anscheinend hatte sie nichts gehört. Oder Levi hatte es sich doch eingebildet.

Wie dem auch sei.

„Es wird spät, heute Nacht bleiben wir hier", entschied er knapp. Sie befanden sich auf einem festgetretenen Pfad, irgendwo im Nirgendwo. Weit und breit gab es kein Dorf, kein Haus, nicht einmal einen Wald; nur ein Fluss schlängelte sich nicht unweit von ihnen parallel zu ihrem Weg. Bei ihrem jetzigen Tempo würden sie noch knapp einen Tag brauchen, bis sie bei Mauer Rose ankamen. Da die Sonne bald untergehen würde, machte es keinen Sinn, weiterzufahren, schließlich führten sie keinerlei Lichtquelle bei sich.

„Außerdem..." Nun wandte er sich um, um hinter sich in den Karren blicken zu können. „... wird unsere Prinzessin hier wahrscheinlich nicht mehr lange schlafen." Zeke war immer noch bewusstlos. Seine gefesselten Arme und Beine waren vollständig wieder nachgewachsen, seine Haut brauchte da noch länger, doch Sorgen um den nahezu abgeschlossenen Heilungsprozess machte Levi sich keine.

Einen Donnerspeer hatte er noch übriggehabt. Er steckte tief in der Flanke des bewusstlosen Mannes. Mit einem Seil hatte er Zekes Hals mit dem Auslöser des Donnerspeers verbunden, sodass er, wenn er denn mal wieder aufwachen würde, kaum Bewegungsfreiheit hätte, ohne sich selbst in die Luft zu jagen.

Motte folgte seinem Blick und meinte bloß: „Wenn's nach mir ginge, würde er gar nicht mehr aufwachen."

Levi wollte zustimmen, doch vor allem nach dem heutigen Tag, hatte er einen Einwand: „Dann würde er viel zu einfach davonkommen."

„Du bist nach wie vor ein Sadist", seufzte sie ohne jeglichen Tadel. „Schön, dass sich manche Dinge nicht ändern."

Beleidigt zogen sich seine Augenbrauen zusammen. „Du hast nicht mal mit der Wimper gezuckt, als ich ihm dieses Ding reingerammt habe."

Gleichgültig hob sie die Schultern an. „Ich habe schon vor langer Zeit festgestellt, dass ich für manche Menschen kein Mitleid mehr empfinde." Dann grinste sie plötzlich und schnippte Levi gegen die Stirn. „Das ist dein schlechter Einfluss."

Missmutig brummend schob er ihre Hand weg und konnte das Schuldgefühl, das in ihm aufkam, nicht unterdrücken.

„Wir sollten Schichten übernehmen", wechselte sie das Thema. „Solange er bewegungsunfähig ist, hab ich kein Problem damit, auf ihn aufzupassen. Dann kannst du dich schlafen legen. Soll ich die erste Schicht-...?"

Auf einmal ertönte ein Geräusch, dasselbe wie vorhin, nur lauter. Es war ein Stöhnen. Beide wandten sich wieder um und blickten zu Zeke, dessen Augen benommen aufflatterten. „Wurde auch Zeit", schnaubte Levi und drehte sich im Sitzen komplett, sodass er der Bartfratze ganz zugewandt war. Der Mann begann sich zu rühren, während er aufwachte, doch Levi hielt ihn davon ab: „Halt, warte, ich glaub du lässt das Herumgezappel lieber. Sonst fliegen wir noch in die Luft."

Diese Worte schienen Zeke endgültig aufzuwecken. Seine Augen flackerten von Levi über Motte zu dem Donnerspeer, der aus seinem Körper ragte. Einen Moment später würgte er und erbrach sich.

Widerlich.

„Ich wette, du wünschst dir, du wärst jetzt tot", kam es erbarmungslos von Levi. „Nicht, dass mich das interessieren würde." Vor seinem inneren Auge erschien das Bild der Lichtung mit den toten Riesen und die Wut, die in den letzten Stunden ein wenig abgeflaut war, kehrte mit einem Schlag zurück.

Er erhob sich schneller als er es beabsichtigt hatte. „Du hast mit den Leben unserer Mitstreiter gespielt. Sag schon, war es Teil deines wunderbaren Planes, in der eigenen Kotze zu baden und um Gnade zu flehen?!" Ganz in Rage zuckte seine Hand zu den Klingen.

Am liebsten würde er Zeke hier und jetzt leiden lassen, doch Motte saß noch neben ihm. „Ich übernehme die erste Schicht", entschied er. „Wach auf und iss etwas. Geh pinkeln, mach dich frisch. Tu, was auch immer du zu tun hast. Dann kannst du wieder herkommen und mich ablösen."

Empört blickte sie zu ihm hoch. „Ich werde dich doch nicht allein mit ihm lassen!"

„Wie du bereits gesagt hast, er ist bewegungsunfähig", wies er sie darauf hin. „Ich kann gut auf mich aufpassen. Geh, solange es gerade passt. Sonst wachst du später von selbst auf oder deine Mutter weckt dich wieder, weil du zu lange hier bist." Er wusste, dass seine Argumente logisch waren, und es war bereits mehr als einmal vorgekommen, dass Motte in wichtigen Situationen plötzlich verschwunden war. Dass er sich allem voran jedoch sorgte, dass sie ihr anderes Leben seinetwegen vernachlässigte, konnte er nach vier Jahren immer noch nicht aussprechen.

„Der Moment scheint mir trotzdem nicht ideal", widersprach sie und wies mit einer knappen Kopfbewegung zu Zeke. Schwer atmend verfolgte er ihre Konversation.

Levis Gesicht verzog sich. Wenn die Bartfratze ihren Worten lauschte, fühlte es sich an als wäre seine Privatsphäre verletzt worden. Gehässig zuckten seine Mundwinkel nach oben, während er seine Klingen zückte. „Du kannst natürlich auch hierbleiben und zusehen, wie ich meinen Frust an ihm auslasse."

Für einen Moment herrschte Stille. Dann zuckte sie betont beiläufig die Schultern; ihr kurzes Zögern jedoch hatte er bemerkt. „Ich bin in ein paar Stunden wieder da", versprach sie. Ein letztes Mal wandte sie sich an Zeke. „Ich hoffe, du bist bis dahin abgenippelt." Dann verschwand sie.

Innerlich atmete er auf. Das Ganze ließ sie also doch nicht so kalt, wie sie vorgab. Was hatte sie gleich gesagt? Schön, dass sich manche Dinge nicht ändern.


Die Nacht war schrecklich. Nachdem Levi ihn bearbeitet hatte, war Zeke wieder ohnmächtig geworden. Eigentlich war ihm das ganz Recht, doch es zerrte an seiner Selbstbeherrschung: Stundenlang mutterseelenallein zu sein, mit dem Mann, den er aus tiefsten Herzen verachtete...

Ihm durchaus bekannte, dunkle Gedanken suchten ihn seit langer Zeit erstmals wieder heim. Mit jeder Minute, die er in dieser nächtlichen Stille verbrachte, juckten sie mehr unter seiner Haut, kratzten sie kräftiger in seinem Kopf. Es war, als würde er bloß auf den Moment warten, in dem er die Beherrschung verlor und sich auf Zeke stürzte oder jämmerlich zusammenbrach oder schlicht und einfach platzte.

Doch irgendwie schaffte er es, durchzuhalten.

Motte tauchte etwa sieben Stunden später mitten in der Nacht wieder auf. Er hatte sich schon gedacht, dass sie viel zu wenig Zeit in ihrer Welt verbringen würde und hatte sie ursprünglich wieder zurückschicken wollen, doch angesichts der Tatsache, dass er kurz davor war, an seinen eigenen Gedanken zu ersticken, protestierte er nicht.

Im Gegenteil, er wünschte sich, sie wäre schon viel früher zurückgekehrt.

Die letzten paar Stunden in Einsamkeit hatten mehr an ihm gezerrt als der gesamte Tag, weshalb er es sogar schaffte, für wenige Stunden mehr oder weniger unbesorgt zu ruhen.

Schließlich war er nicht alleine.

Als sie früh am nächsten Morgen ihren Weg fortsetzten, hatten sich dichte Wolken am Himmel zusammengebraut. Nicht lange und der Regen brach über sie herein. Levis Umhang schützte nur wenig vor der Nässe und Motte beschwerte sich einmal kurz, wie sehr Regen in dieser Welt hasste: Zwar wurde sie nicht nass, dafür spürte sie jeden einzelnen Tropfen, der durch sie hindurchfuhr.

Abgesehen davon, blieb es still zwischen den beiden. Die Stimmung heute war... anders. Und es lag nicht nur am Unwetter. Die letzten Reste von Wut und Schock waren spätestens mit den ersten Tropfen weggespült worden.

Zurück blieb nur die blanke Grausamkeit der Realität.

Sie waren gestorben. Die Leute, die ihm anvertraut worden waren, die ihm ihr Leben anvertraut hatten, waren tot. Allesamt.

Schon wieder.

Levi war pragmatisch, er glaubte nicht an spirituelle Dinge wie Wunder oder Flüche.

Doch wenn ihm jemand sagen würde, er sei verflucht, würde er es, ohne mit der Wimper zu zucken, hinnehmen.

Denn die alternative Erklärung war, dass er ganz einfach daran scheiterte, auf Menschen aufzupassen.

Aus dem Augenwinkel schielte er zu Motte, doch lange hielt er ihrem Anblick nicht stand. Er bemerkte selbst, wie seine Gedanken wieder in den Teufelskreis drifteten, den er in der Nacht bereits unzählige Male durchlaufen war. Deswegen war ihm auch klar, zu welchem Schluss er kommen würde:

Objektiv gesehen wäre es am besten-... wäre es am sichersten für sie, wenn sie nicht mehr herkäme. Ob das etwas war, was sie tatsächlich beeinflussen konnte, wusste er nicht, sie hatten es nie ausprobiert. Aber nach dem, was gestern geschehen war, und wenn man bedachte, was vermutlich noch auf sie zukommen würde, war es das Verantwortungsbewussteste, sie dazu zu drängen.

Zu gehen und nie mehr wieder zu kommen... Es war lange, lange her, dass er daran gedacht hatte.

Der Grund dafür lag auf der Hand: Levi war nicht pragmatisch.

Ein Teil von ihm schämte sich. Es war egoistisch, es war feige. Aber er brachte es nicht übers Herz. Er wollte es einfach nicht.

Deswegen sagte er keinen Mucks und biss sich stattdessen auf die Zunge. Unbeabsichtigt packte er die Zügel fester, was dazu führte, dass das Pferd stehenblieb.

Scheiße!

Eine Sekunde zu spät bemerkte er, dass er laut geflucht hatte. Er spürte Mottes Blick auf sich brennen.

Das war doch lächerlich! Er war lächerlich! Der Regen musste sein Gehirn weichgespült haben. Er vergrub sein Gesicht in den Händen und stöhnte frustriert auf.

Es war, als hätte dieser Laut eine Tür geöffnet. Mit einem Mal brachen all die Fragen und Sorgen, die er seit gestern hatte, gleichzeitig über ihn herein.

Auf wessen Seite steht Eren? Was haben er und Zeke vor? Inwiefern ist Yelena involviert? Seit wann werden sie hintergangen? Wer sind diese Jägeristen und was haben sie vor? Wie wird Pixis sich entscheiden?

Geht es Hanji gut? Und Mikasa und Armin und Connie und Jean?

Was kann ich jetzt tun? Was soll ich jetzt tun?

„Ich versteh das alles nicht mehr", gestand Levi so leise, dass er seine eigene Stimme im prasselnden Regen kaum wahrnahm.

Er wusste nicht, ob Motte ihn gehört hatte. Er bemerkte nur, wie nach einiger Zeit das Holz der Bank ganz leicht unter zusätzlichem Gewicht nachgab. Anscheinend hatte sie sich manifestiert.

Im nächsten Moment lehnte sie ihren Kopf gegen seine Schulter. Trotz seines Zustandes – oder vielleicht gerade deshalb – reagierte er sichtlich überrascht und drehte verdattert den Kopf in ihre Richtung. Sie war jetzt schon klitschnass.

„Ich wünschte", meinte sie und klang seltsamerweise traurig, „wir könnten abhauen. Weit, weit weg von hier, wo wir uns nicht mehr mit dem ganzen Zeug beschäftigen müssen. Dann kannst du deinen Teeladen aufmachen. Und ich guck die Sterne an oder so."

Er erwiderte nichts. Nach einer Weile legte er den Kopf in den Nacken, wobei ihm die Kapuze vom Kopf rutschte, und schloss die Augen. Kalte, schwere Tropfen prasselten hart auf seine Haut, rannen sein Gesicht entlang zum Hals und unter die Kleidung. Es war ekelig und unangenehm.

Es beruhigte ihn.

Noch nie hatte er sein Leben in Frieden führen können. Er wusste gar nicht, ob er dazu fähig war. Dennoch wünschte er sich, es mal versuchen zu können.

Nicht in diesem Leben, wusste eine leise, gemeine Stimme in ihm, doch sie hatte recht. Es gab Dinge zu erledigen, Schlachten zu kämpfen, Feinde zu besiegen. Levi war Soldat, er hatte Pflichten zu erfüllen. Er hatte keine Zeit für Wehmut und Selbstmitleid...

Mit einem Mal erschlaffte sein Körper; seine Schultern sackten zusammen, die Zügel lagen nur noch locker in seinen Händen und er ließ den Kopf hängen. Anstatt sich zusammenzureißen und das Pferd wieder anzutreiben, rührte er sich nicht.

Irgendwann neigte er seinen Kopf – ganz, ganz leicht – und lehnte ihn gegen Mottes.

Er war so unglaublich müde.

Der Regen prasselte unbarmherzig auf sie nieder und Levi verlor jegliches Zeitgefühl. Wenige Minuten könnten vergangen sein, oder vielleicht doch schon eine Stunde, als sie hinter sich Ächzen wahrnahmen: „Unsere einzige Erlösung..." Sie richteten sich auf und blickten zu Zeke, der anscheinend sein Bewusstsein wiedererlangte. „... ist die Unfruchtbarkeit der Eldia."

Levi drehte sich ganz um und erhob sich, sodass er direkt vor Zeke stand und auf ihn herabblickte. „Was hast du gesagt? Unfruchtbarkeit?" Das Antlitz dieses Mannes weckten in ihm die andere Art dunkler Gefühle; die, die in seinen Fingern juckte und ihn zuschlagen lassen wollte. „Du wirst dich im Maul eines Riesen wiederfinden und erfahren, wie es sich anhört, wenn man verdaut wird. Verglichen mit der Art, wie du die Leben meiner Mitstreiter gestohlen hast, klingt das nach einem schönen Tod."

„Ich hab sie nicht gestohlen", röchelte Zeke. Er wirkte benommen, fokussierte nichts Bestimmtes. Als wäre er gedanklich woanders. „Ich hab sie gerettet. Die Leben der Kinder, die sie auf diese grausame Welt gebracht hätten..."

Was war das für Geschwafel? Nahm sich dieser Bastard wirklich heraus, Leben gerettet zu haben?! „Sieht so aus, als wären deine Beine wieder nachgewachsen", spuckte er und zog seine Klinge. „Ich schätze, ich muss-..."

„Nicht wahr, Herr Xaver?!!", brüllte Zeke plötzlich aus vollem Halse und streckte seinen Rücken durch.

Die Zündschnur löste sich vom Donnerspeer.

Für einen halben Atemzug schien die Zeit nahezu stillzustehen.

Motte!

Sie saß manifestiert auf der Reiterbank. Levi fehlte die Zeit, sich zu ihr umzudrehen. Blind schubste er sie, wo auch immer er sie erreichen konnte. Er hoffte, dass das Schock genug für sie war, um sich aufzulösen.

Der Donnerspeer explodierte direkt vor Levis Nase.

Das einzige, das er noch mitbekam, war das grelle Licht und die Wucht, die ihm am ganzen Körper traf. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.

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