Feuer
Kapitel 20 – Feuer
Als Levi mit Motte und Eren das Schloss betrat, war die Nacht gerade angebrochen. Er und der Riesenjunge sprachen eigentlich gar nicht miteinander, das Geistermädchen ignorierte er immer noch. Der Dunkelhaarige murmelte leise und niedergeschlagen: „Gute Nacht, Kapitän..." und verschwand dann Richtung Keller. Der Schwarzhaarige wusste nicht recht, was er jetzt mit sich anstellen sollte. Schlafen könnte er jetzt gewiss nicht und wach im Bett liegen wollte er auch nicht. In ihm war wieder alles taub.
„Levi..."
Halt, da war ja noch der Funke...
Er machte auf dem Absatz kehrt und lief den Gang entlang. Er hatte einfach irgendwie gehandelt und realisierte erst nach ein paar Schritten, dass er sich auf dem Weg zum Speisesaal befand. Motte schwebte hinter ihm her. Warum ist sie eigentlich noch da? Muss sie nicht... in die Schule oder so?
Der Kapitän hatte sich Ruhe vor der Nervensäge erhofft, denn sie zu ignorieren war auch nicht gerade kinderleicht. Er betrat den dunklen Raum und zündete die Kerzen an. Flackernde Lichter erhellten innerhalb von zwei Minuten den Raum. Levi starrte auf den leeren Tisch. Noch vor 24 Stunden waren hier fünf weitere Personen gesessen und hatten gegessen, getrunken und sich unterhalten. Jetzt würden vier der fünf nie wieder hier sitzen.
Nach ein paar Sekunden, in denen nichts weiter als Stille herrschte, wandte Levi sich vom glatten, dunklen Holz ab und sich der Teekanne auf der Theke zu. Einige Minuten später goss der Schwarzhaarige sich heißen Tee in seine Tasse.
„L...Levi?", kam es vorsichtig von dem Mädchen hinter ihm.
Er trank einfach weiter.
„Du..." Sie schluckte und schien sich bereits im Kopf den nächsten Satz zu formen. „Wie lange willst du mich noch ignorieren?"
Der Schwarzhaarige reagierte nicht, trank einfach weiter.
Die Nervensäge schien mutiger zu werden. Vielleicht lag das daran, dass sie alleine waren. „Ich meine", sprach sie zu seinem Rücken, „es war auch nicht komplett meine Schuld. Ich hab dir gesagt, dass du zu deiner Einheit zurückgehen solltest, aber du hast nicht..."
Er knallte seine Tasse auf die Theke. Sie brach mit einem Zusammenzucken ab.
Einige Momente blieb es still. Levi atmete ein paar Mal geräuschlos tief ein und aus. Er musste sich beruhigen. Der Funke war mit einem Mal zu einer Flamme geworden. Er zügelte sie, er durfte die Beherrschung nicht verlieren.
Es war kein Funke mehr, aber die Flamme hatte die Größe derer, die auf den Kerzen in diesem Raum tanzten. „Warum bist du noch hier?", fragte er mit seiner gleichgültigen Stimme, doch im Inneren kämpfte er mit sich.
„Ich..." Sie war von dem plötzlichen Themawechsel leicht überrascht und benötigte deshalb noch einen zweiten Anlauf. „Ich hab heute später Schule, da kann ich länger schlafen." Ihre Stimme verriet Vorsicht und ein kleines bisschen Verwunderung.
Der Kapitän goss sich noch eine Tasse ein, nahm diese anschließend und lief zum Tisch, ohne das Geistermädchen anzublicken.
Er stellte das Trinkgefäß bei seinem üblichen Platz ab, setzte sich aber nicht hin. Er musste stehen. Sein Blick war auf die Kerzen in der Tischmitte gerichtet.
„Bist du sauer auf mich?", kam es von ihr.
„Ja", antwortete er nüchtern.
„Warum?", machte sie weiter.
Er schloss seine Augen. Eine Diskussion ist wohl unvermeidbar, ahnte er in Voraus. Allerdings antwortete er nicht. Sein Schweigen verriet eindeutig: Das weißt du ganz genau.
Sie verstand die Botschaft, ließ aber nicht locker: „Okay, im Prinzip weiß ich es, aber ich will es konkret wissen!"
Nachdem nach ein paar Sekunden immer noch keine Reaktion kam, ergriff sie die Initiative: „Du selber hast gesagt, dass man eine Entscheidung treffen muss." Sie flog um ihn herum, sodass sie ihm gegenüberstand. Ihr Unterkörper befand sich so unter der Tischplatte. „Dass keiner weiß, was danach passiert...!"
Die Flamme wurde mit einem Mal wieder größer. „Du wusstest es! Das ganze ist hinfällig, wenn man den Ausgang des Geschehens kennt!" Er hatte lauter gesprochen, als es für ihn üblich war.
Die Nervensäge ließ sich dadurch anstacheln. Sie war leider leicht zu provozieren. „Ich hab dir gesagt, dass ich nicht weiß, wie es endet!", rief sie.
Seine Augen funkelten und spiegelten blanke Wut wider. Er brachte sie vom wütenden Trotz zur Angst. Das Mädchen zuckte zurück, als dieser kalte Blick sich in ihre Augen bohrte. Levi hatte sie noch nie so verachtend angeblickt wie heute.
Jetzt war es zu spät, es gab kein Zurück mehr. Er hatte auch gar nicht mehr das Bedürfnis, irgendetwas unterdrücken zu müssen. So viele Emotionen wie heute hatte er lange nicht mehr verspürt. Da konnte er noch so gut im Kalte Schulter Zeigen trainiert sein, das konnte nicht länger in ihm drinstecken.
Das Feuer war entfacht.
„Du hast es sehr wohl gewusst!! Komm nicht mit deiner billigen Ausrede an!", rief Levi sehr laut, brüllte schon fast, und ließ seine flachen Hände auf den Tisch knallen, sodass er sich ein wenig nach vorne beugte und dem Gesicht des verschreckten Mädchens näher kam, das daraufhin noch weiter zurückwich. Der Tee schwappte in der unberührten Tasse gefährlich nah an den Rand. Das Mädchen hatte diesen kleinen Mann noch nie so zornig erlebt. „Du kleine Mistgöre hast deine beschissene Klappe einfach nicht aufgemacht!"
Allmählich schwand der Schrecken aus ihrem Gesichtsausdruck und wurde von immer größer werdender Wut ersetzt. „Bist du wirklich so ein...! So ein...!" Sie fand kein passendes Wort, also änderte sie einfach den Satz. „Sag mal, tickst du noch richtig?!" Mit jedem Wort würde ihre Stimme lauter und damit auch ihr Selbstvertrauen größer... genauso ihr Zorn. „Ich habe dir gesagt, dass du zurückgehen sollst! Wirf mir nicht vor...!"
Levi ließ sie nicht ausreden: „Du bist nicht auf den Punkt gekommen!! Du hast nicht gesagt...!"
Auch sie ließ ihn nicht ausreden. Sie würde bestimmt nicht klein beigeben, nur weil er eine einschüchternde Persönlichkeit hatte. Automatisch kam sie zwar seinem Gesicht näher, sprach aber mit lauterer Stimme. Ebenfalls erhob sie sich vor Zorn ein wenig in die Luft. „Du hättest mir vertrauen sollen!! Ich dachte, das hätten wir schon letzten Monat geklärt!! Aber das hast du nicht getan!!"
„Ich war dabei zu verhindern, dass unsere Chance für den Sieg der Menschheit von diesen Missgeburten gefressen wird!!" Auch wenn er nun seinen Kopf in den Nacken legen musste, änderte das nichts an seiner Überzeugung. Seine Augen waren verengt und seine Lippen leicht zurückgezogen, als würde er gleich das Knurren anfangen.
Sie dagegen hatte vor Wut funkelnde Augen, die in die des Schwarzhaarigen blickten. „Und hat's was gebracht?!"
Das Feuer im Kapitän wurde immer größer. Es war, als würde das Geistermädchen laufend Brennmaterial hineinschütten. Sie provozierte ihn noch mehr. „Weil du nichts gesagt hast!!" Okay, er war vermutlich auch nicht besser...
„Soll der Reinfall dieser Expedition also meine Schuld gewesen sein?!"
Levi ballte seine Hände zu Fäusten, sein rechter Unterarm zuckte. Es war eine unkontrollierte, nicht gewollte Bewegung gewesen. Im letzten Moment hatte er sich beherrschen können. Andernfalls wäre seine Faust durch ihr Gesicht gefahren. „Ja!!", presste er also zwischen den Zähnen hervor.
Da blieb sie erstmal still und schaute ihm bloß in die Augen. Dann fing sie auf einmal das Lachen an. Laut und plötzlich und ganz anders als das Lachen, das er mochte. Es war hysterisch. Ein Lachen während eines Streits. „Hahaha! Diesen Moment zu erleben... Nein... Zu erfahren, dass es solche Momente überhaupt gibt...! Schade, dass ich kein Handy dabei hab, mit dem ich das filmen kann!" Sie richtete ihren Kopf, den sie in den Nacken gelegt hatte, wieder gerade, sodass ihre hellbraunen Augen wieder in die Levis blickten. „Der kleine Kapitän Levi verliert die Beherrschung und ist an einem Punkt angekommen, an dem er aufhört zu denken!"
Ein wütendes Knurren formte sich in Levis Kehle, doch sie ließ es gar nicht so weit kommen. „Ich soll an allem schuld sein?! Ich sehe ein, dass ich es hätte verhindern können, aber ich bin nicht schuld!!" Sie wurde wieder lauter und die finstere Ironie wandelte sich abermals in Wut. „Ob du's mir glaubst oder nicht, es hat sich nichts geändert! Alles ist so gelaufen, wie ich es kennengelernt hab!"
Seine Hände waren immer noch zu Fäusten geballt, sie zitterten vor Wut. Es war lange her, dass er sie so offen zeigte. Und auch wenn er es in seinem Unterbewusstsein nur sehr ungern zugab, hatte sie Recht, was das mit der Beherrschung und dem momentanen mangelnden Denkvermögen betraf. Es war nicht ihre Schuld, das war es nie gewesen. Eigentlich hatte sie hier nichts zu verantworten, gar nichts. Denn eigentlich... Er hatte keine Lust mehr auf diesen Scheiß. „Was machst du überhaupt hier?!", knurrte er sie nach oben hin an. Seine Stimme war vergleichsweise zu vorhin gefährlich ruhig. „Laut dir sollte es dich hier doch gar nicht geben. Was machst du also hier?!" Diese Sätze waren in seiner Tonlage unmöglich misszuverstehen. Dahinter steckte eindeutig die Botschaft: Verschwinde!
Daraufhin sagte sie nichts. Die einzige Reaktion war, dass sie sich allmählich zurückflog und wieder nach unten, sodass sie ungefähr auf seiner Augenhöhe schwebte. Doch bewegte sie sich auch zurück, bis sie einige Meter zwischen sich und Levi gewonnen hatte. Die Kerzen auf dem Tisch brannten nun zwischen ihnen. Ihr Blick: Zorn. Wut. Und auch Trauer. Mit diesen Worten hatte der Schwarzhaarige sie ernsthaft verletzt. Sie sah an seinen Augen, dass er sie nicht zurückzog, was eigentlich das Schlimmste von alldem war.
Dies hier war keine einfache Diskussion, die man innerhalb einer Stunde wieder vergessen konnte. Das hier war mehr. Zwei Dickköpfe, die nicht nachgeben wollten, bei einem empfindlichen Thema. In Levi brannte ein richtiges Feuer und in ihr war vermutlich auch eins entfacht.
Beide schauten sie sich an und waren still.
„Was ist los mit dir?", fragte sie auf einmal in normaler Lautstärke, doch ihr Blick verriet immer noch, dass sie nicht gut auf ihn zu sprechen war. Sein Blick spiegelte seine Gereiztheit wider. Beinahe hätte er ihr die Begründung entgegen geschleudert, die er ihr schon die ganze Zeit mitteilte, doch sie ließ ihn nicht dazu kommen. „Jeder kennt dich als Levi, der stärkste Soldat der Menschheit, der immer ruhig bleibt und keine Gefühle zeigt, weswegen er schon fast herzlos erscheint. Was ist auf einmal los mit dir?"
„Es ist doch scheißegal, was man von mir denkt!", erwiderte er grimmig. „Das heißt noch lange nicht, dass ich dem wirklich entsprechen muss!" Sein Blick war finster. „Das bleibt immer noch mir überlassen!"
Sie gab nicht auf: „Du bist nie so nach einer Expedition! Es war noch nie eine wirklich erfolgreich, warum gerade heute?!" Ihre Stimme war wieder lauter geworden.
„Zum einen..." Auch sein Lautstärkepegel hob sich. „... weil die Möglichkeit da gewesen wäre, aus dieser Expedition keinen Reinfall zu machen, die Möglichkeit aber hat nichts gemacht!" Sein Ton wurde wieder deutlich aggressiver. Er verschränkte die Arme vor der Brust, andernfalls könnte er wirklich noch zuschlagen. „Zum anderen", ergänzte er, „weil die Folgen... Hast du überhaupt eine Ahnung, wie fatal sie sind?!"
Sie sagte nichts. Und wie sie das wusste. Der Schwarzhaarige zählte sie dennoch auf. Sollte sie doch ein schlechtes Gewissen kriegen, das wäre sogar gut! Er litt durch den Misserfolg. Sie sollte den Schmerz zumindest ansatzweise kennen. Sie hatte keine Ahnung. „Der Weibliche Titan läuft als Mensch irgendwo frei herum, genauso der Kolossale und der Gepanzerte, Eren wird der Militärpolizei ausgeliefert und die Aufklärungslegion... Wir haben offiziell auf ganzer Linie versagt und dürfen für unser unüberlegtes Handeln..." Er legte in diese zwei Wörter so viel Spott wie nur möglich. „... büßen! Wer weiß, ob wir überhaupt nochmal die Mauern verlassen dürfen?!" Sie weiß es, beantworte er seine rhetorische Frage.
„Meine Schuld ist es aber nicht!!", reagierte das Mädchen.
„Aber du hättest was sagen können!!", brüllte der Kapitän. Seine Hände löste er wieder, ballte sie abermals zu Fäusten in platzierte sie neben sich. Es tat ihm gut, so laut zu sein, er hatte es bitter nötig.
„Ach ja?!" Plötzlich kam die Nervensäge angesaust. Ihr Körper war fast waagrecht, ihr Gesicht befand sich direkt vor seinem. Sie schwebte, sodass er abermals hochschauen musste. „Dann überleg mal, Herr Kapitän!! Hättest du auf mich gehört?! Wärst du mitgegangen, wenn ich gesagt hätte, dass sie sterben?!"
„Ja!!", knurrte Levi zu ihr hoch, ohne zu zögern. Sie war nicht überzeugt, das bemerkte er, noch ehe sie die nächsten Worte aussprach: „Klar, im Nachhinein lässt sich das immer leicht sagen! Aber in diesem Moment? Vor ein paar Stunden in Wald?! Hättest du es da getan?! Ich glaube nicht!!" Ganz tief unten in seinem Bewusstsein dachte er sich, dass er später vermutlich wieder diesen hohen Ton im Ohr haben würde, der kam, wenn es zu lange zu laut gewesen war. Seine Konzentration aber war im Hier und Jetzt. „Man muss in seiner Entscheidung vertrauen, das hast du gesagt!!", endete sie. Das gleiche hatte sie vorhin schon mal in den Raum geworfen.
Levi mochte es nicht, wenn er sich wiederholen musste, aber momentan war sowas egal. „Andere Umstände!", rief er bloß energisch.
Jetzt waren es Mottes zu Fäusten geballte Hände, die vor Wut zitterten. Es dauerte ein paar Momente, bis sie sich beherrschte und die richtigen Worte gefunden hatte. „Da gibt's noch einen anderen Grund! Für deinen Wutausbruch! Was ist los?!"
„Das weißt du doch ganz genau!!", schrie er zurück.
Mit einem Mal wich aus dem Mädchen jede Art von Gefühl, nur betroffene Erkenntnis blieb zurück. Sie wusste es wirklich. „Petra."
Der Schwarzhaarige drehte sich um und wandte ihr den Rücken zu. Seine Arme zitterten immer noch. Er hatte es sich geschworen... sich zwingen lassen... niemals wieder so starke positive Gefühle für jemanden zu entwickeln! Seit sechs Jahren vermied er das ordentlich. Stets war er gründlich vorgegangen. Doch bei Petra hatte es nicht so gut geklappt wie bei anderen. Jetzt noch versuchte er sich einzureden, dass er rein gar nichts empfand, aber es war sehr schwer. Der Schmerz war nicht ausgeblieben... blieb nicht aus. Sie hatte ihm einen Heiratsantrag gemacht. Er hatte nicht angenommen, um Situationen wie diesen vorzubeugen. Aber er hatte auch nicht abgelehnt, was ein großer Fehler gewesen war. Und jetzt war sie tot.
„Okay." Die Nervensäge schien nachzudenken. „Okay!" Sie atmete einmal tief ein und aus, um sich mehr Nachdenkzeit zu verschaffen, dann meinte sie: „Ich... Ich kann es dadurch nicht mehr ungeschehen machen und ich hab keine Ahnung, wie oft ich das heute schon gesagt habe, aber: Es tut mir leid! Ehrlich! Es tut mir wirklich gottverdammt nochmal leid! Ich wollte nicht, dass sie alle... Günther, Eldo..." Ihre Stimme wurde eine wenig krächzender, vermutlich hatte sie Tränen in den Augen. „... Auruo und Petra..." Sie holte tief Luft. „Ich wollte nicht, dass sie sterben! Aber du hast kein Recht, mich so anzuschreien." Sie flog um ihn herum, sodass sie sich wieder anschauten. „Es war so vorbestimmt!" Die Aggressivität kehrte wieder in ihre Stimme zurück.
„Komm mir jetzt nicht mit sowas wie Schicksal an!", erwiderte der Schwarzhaarige. „Und wenn schon! Du hättest was ändern können!!" Wieder mal wurde er mit jedem Wort lauter. „Aber das hast du nicht getan! Du hast nichts gemacht!! Du hast einfach zugesehen und deinen verkackten Mund gehalten!!"
„Das habe ich nicht!!", schrie sie und beugte sich noch ein wenig weiter über ihn. Würde das so weiter gehen, würde sie bald senkrecht zu ihm runter, beziehungsweise er zu ihr rauf gucken. „Ich bin im Gegensatz zu dir zu Eren gegangen und hab versucht in dazu zu bringen, zu deinen Leuten zurückzukehren und sie zu retten!!"
„Und hat's was gebracht?!", erwiderte der Kapitän. Er benutzte die gleichen Worte wie sie zuvor. In diesem Moment stockten beide gleichzeitig. Für einen kurzen Augenblick schwand die Wut aus ihren Gesichtern und ein verdutztes Augenpaar blickte ins andere.
Dann, wie auf Kommando, drehten sie sich voneinander weg, immer noch dieser Ausdruck in ihren Gesichtern. In diesem Moment wurde ihnen klar, dass beide das gleiche durchmachten. Beide ließen gerade bloß ihren Frust aus, denn beide hatten sie ein schlechtes Gewissen. Motte, weil sie nicht Klartext geredet hatte. Levi, weil er auf sie hätte hören können und seine Leute möglicherweise gerettet hätte.
Und trotzdem war das Feuer der Wut nicht erloschen. Es brannte und schien den Schwarzhaarigen von innen aufzufressen. Langsam, aber schmerzhaft. Er hatte sich durch den Streit hineingesteigert. Fast durchlebte er die Hölle von vor sechs Jahren nochmal.
„Scheiße!!", fluchte er, packte den Stuhl, auf dem er immer gesessen hatte und der gerade eben unglücklich stand (schräg rechts von ihm) und pfefferte ihn gegen die Wand. Er schnaufte ein kleinwenig, während er auf das zersplitterte Holz an der Wand starrte.
Er hatte gesehen, wie der Stuhl durch sie hindurch gefahren war, wie sie zusammengezuckt und zurückgeschreckt war. Es machte ihn wütend. Er hatte gar keinen Grund dazu, aber er war wütend. Er hatte das Gefühl, er könnte alle Titanen der Welt mit bloßen Händen auslöschen.
„Chill mal...", murmelte die Nervensäge. Sie hätte es bleiben lassen sollen.
Der kleine Mann schien fast zu explodieren. „Du kleine Mistgöre hättest nur einen beschissenen Satz sagen müssen und es würden vier Leute mehr hier sitzen!! Nur einen Satz!!! Aber du scheinst es nicht zu kapieren!! Das hier ist keine verdammte Geschichte, in der du nach Lust und Laune zurückblättern kannst wie in einem Buch: Das ist die Scheißrealität!!! Wenn was passiert ist, ist es passiert und kann nie wieder rückgängig gemacht werden!! Du hattest die Chance gehabt, die Geschichte umzuschreiben, sie zu ändern, und du hast es nicht gemacht!! Ich weiß nicht, warum! Entweder du hast echt nicht realisiert, dass das keine Geschichte mehr ist oder..." Er suchte nach einem anderen Grund. „Oder du denkst, alles ist gut, weil du keinen Körper hast!! Nur weil das bei dir so ist, heißt das noch lange nicht, dass alle so gefahrlos herumstolzieren können!! Das ist doch wohl auch der Grund, weswegen du mir widersprichst! Du versteckst dich hinter deinem nicht vorhandenen Körper!! Dir kann ja nichts passieren!!!" Der letzte Satz triefte vor Verachtung.
Als er geendet hatte, blieb es still. Vor ihm schwebte die Nervensäge, ihre Augen waren feucht. Er hatte es zu weit getrieben. Aber Reue... verspürte er nur in einen winzigen Teil seines Bewusstseins.
„Schön." Ihre Stimme klang brüchig. Sie war den Tränen nahe, doch sie verbiss sie sich. „Bitte." Es war fast ein Flüstern. Sie flog um ihn herum. Er folgte ihr mit seinem Blick.
Über dem Tisch machte sie Halt. Sie drehte sich zu ihm um, verschränkte die Arme vor der Brust und hockte sich in der Luft in den Schneidersitz. „Na dann." Sie gab sich einen Körper und fiel gute zehn Zentimeter nach unten auf den Tisch. Ein wenig Tee schwappte durch den Aufprall über. Sie hatte sich einen Körper gegeben. „So. Jetzt habe ich einen Körper. Mach, was immer du willst." Ihre Stimme war wieder etwas kräftiger. Entschlossen blickte sie ihn an. Auch wenn sie Tränen in den Augen hatte, war sie bereit nun Opfer körperlicher Gewalt zu werden.
Levi machte nichts, sondern schaute bloß in ihr Gesicht. Sein Blick war so emotionslos wie immer.
Es war immer gleich gewesen. Immer, wenn der Schwarzhaarige jemanden kennengelernt hatte, hatte er eine Mauer um sein Herz errichtet, die auf die Person abgestimmt war. Was die Dicke betraf. Bei Motte war es besonders gewesen. Sie hatte die Mauer erblickt und angefangen, daran herumzustochern. Leicht panisch hatte Levi daraufhin ein zweite Mauer errichtet, die sich innerhalb der ersten befand. Das Mädchen harte trotzdem nicht aufgehört, die erste Mauer Stück für Stück abzuarbeiten. Das Seltsame daran war, dass der Kapitän auch nichts weiter dagegen unternommen hatte, wie bei anderen Menschen, sondern es einfach hatte geschehen lassen. Nach der heutigen Expedition war auf einmal der Funke entstanden, den er auf keinen Fall ausbrechen sehen gewollt hatte. Deswegen hatte er Motte von der ersten Mauer weggeschoben und eine dritte um die zwei anderen gebaut. Allerdings war diese grob gewesen. Sie fiel, nachdem das Geistermädchen ein paar Mal dagegen gestupst hatte. Gleichzeitig wurde der Funke zur Flamme, da die Mauern diesen gebändigt hatten. Dann war sie wieder zur ersten Mauer gegangen und hatte da weitergemacht, wo sie aufgehört hatte. Daraufhin loderte das Feuer, an dem sie sich nun verbrannt hatte. Sie war verschreckt und verletzt dadurch und hielt sich erstmal bei der Mauer zurück. Levi nutzte das aus, er hatte entschieden, das entstandene Loch wieder zu schließen, was er tat.
Das wurde ihm klar. In seinem Inneren war dieser Prozess seit dem Tag ihrer Begegnung bis zum heutigen vorangeschritten. Und jetzt stand er hier, vor ihr, und hatte das Loch geschlossen. Zwischen Motte und Levi standen wieder zwei Mauern, wie am Anfang.
„Ich geh schlafen", entschied er und machte auf dem Absatz kehrt. Alles war wie zu Anfang, die Flamme war von den Mauern erstickt worden.
„Levi", kam es leise und leicht überrascht von hinten. „Warte bitte."
Er blieb wirklich stehen. Warum sollte er nicht hören? Schließlich war er nicht sauer. Nicht mehr.
Plötzlich spürte er Kälte von hinten. Bekannte Kälte. Warme Kälte. Vertraute Kälte. Mist! Motte flog durch ihn hindurch, drehte sich um und manifestierte sich direkt vor ihm wieder. Er schaute sie einfach an.
„Ich...", fing sie an. Sie blickte gequält. Anscheinend fand sie keine richtigen Worte. Stattdessen hob sie ihre Arme halbherzig an. Wenn es das ist, was ich denke... Sie stockte kurz, war sich nicht ganz sicher. ... sollte sie das lieber bleiben lassen. Herzlichen Körperkontakt mochte er nicht. Weil er nicht protestierte, hob sie die Arme noch höher, trat auf ihn zu...
... und verschwand.
Sie hatte ihn umarmen wollen, doch sie war aufgewacht. Der Schwarzhaarige starrte noch einige Momente auf die Stelle, an der sie vor ein paar Sekunden noch gestanden war.
Levi bemerkte, dass er beim Verschließen des Lochs in seiner Mauer nicht gründlich genug gewesen war. Der Riss, der selbstständig entstanden war, als sie durch ihn hindurchgeflogen war und er diese Kälte gespürt hatte, wurde größer. Vermutlich bröckelten bereits einige Steinkrümel zu Boden. Scheiße!
Aber jetzt war es zu spät, um etwas dagegen zu unternehmen. Auf einmal nahm er wahr, wie müde er eigentlich war. Auch spürte er plötzlich den Schmerz in seinem linken Bein wieder. Vielleicht sollte er wirklich ins Bett gehen. Der Tag war lang gewesen. Vorher aber musste er noch die ganzen Kerzen ausblasen und den Tee...
Draußen hörte er plötzlich ein Geräusch. Das Klatschen von Haut auf blanken Stein. Mit raschem Schritt lief er zur Tür, öffnete sie und blickte in den Gang. Durch das Kerzenlicht, das aus dem Raum in den Flur strömte, dauerte er nicht lange, bis Levi erkannte, wer da gestolpert und auf den Boden gefallen war. Ein allzu vertrauter, braunhaarige Junge.
„Eren?"
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