Ein Teil des Ganzen

Intermedium – Tag 45


„Schaut mal, wer da kommt."

„Wer denn? Oh, ach so. Ja und?"

„Sie ist komisch."

„Na und? Das ist sie doch immer."

„Nein, komischer als sonst. Meint ihr nicht, dass sie in letzter Zeit... anders ist?"

„Wie ‚anders'?"

„Komischer."

„Hä?"

„Ja, ich weiß, was du meinst. Starrt immer Löcher in Luft und grinst so seltsam."

„Ja, genau!"

„Vielleicht ist sie ja high."

„Niemals, dafür ist sie viel zu langweilig... Oh scheiße, sie schaut her. Ob sie uns gehört hat?"

„Und wenn schon."



Kapitel 33 – Ein Teil des Ganzen


„Ich wurde auf einer kleinen Farm im Norden von Mauer Rose geboren. Es befand sich auf einem Stück Land der adeligen Reiss Familie", begann Historia ihre Geschichte am ersten Abend von Levis neuer Einheit. Der Schwarzhaarige hatte feststellen müssen, dass sie alle noch eine Menge lernen mussten, was das Putzen betraf. Erstaunlicherweise schien Eren der einzige gewesen zu sein, der diese Aufgabe ernst genommen hatte.

Nun, da die Stimmung allgemein ruhiger wurde, kam natürlich die Zeit zu reden. Und so ergab es sich, dass Historia sich bitte ihren Freunden erklären solle, die auch erst vor Kurzem von ihrer wahren Identität erfahren hatten.

„Soweit ich mich erinnern kann, habe ich auf der Farm mitgeholfen." Während sie erzählte, schaute sie niemandem in die Augen. Stattdessen hatte sie ihren Blick auf ihr halb gegessenes Abendessen gerichtet. „Meine Mutter aber hat immer Bücher gelesen und kein einziges Mal beim Haushalt mitgeholfen. Sie war eine wunderschöne Frau. Nachts wurde sie von jemanden mit einer Kutsche abgeholt und sie ging mit hübschen Kleidern in die Stadt. Für mich war das das Leben, das ich kannte." Levi verspürte Mitleid.

„Nachdem ich Lesen und Schreiben gelernt habe, habe ich auch angefangen Bücher zu lesen, um meiner Mutter nachzumachen. Erst dann habe ich festgestellt, wie einsam ich war. In allen Büchern haben sich die Eltern um die Kinder gekümmert. Sie haben geredet, sich umarmt, miteinandergestritten und so weiter. Ich hatte noch nie so etwas erlebt. Eines Tages habe ich aus Neugierde beschlossen, meine Mutter zu umarmen. Ich wollte einfach wissen, was für ein Gesicht sie machen würde. Letztendlich hat sie mich weggestoßen, aber es war das erste, was meine Mutter je mit mir gemacht hatte. Darum hat es mich so glücklich gemacht. ‚Hätte ich doch nur den Mut dieses Mädchen zu töten' waren die ersten Worte, die sie je zu mir gesagt hat. Danach hat sie das Haus verlassen, um woanders zu leben." Alle am Tisch lauschten ihr gespannt. Nicht einmal die Nervensäge gab einen Laut von sich.

„Dann, vor fünf Jahren", setzte Historia fort, „eine Nacht, nachdem Mauer Maria gefallen ist, habe ich zum ersten Mal meinen Vater getroffen. Es war der Mann, der das Land regierte, auf dem wir gelebt haben. Meine Mutter, die ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, hat unheimlich verängstigt gewirkt. Mein Vater hat mich abgeholt, damit ich bei ihm leben konnte. Doch bevor wir gehen konnten, kamen schwarz gekleidete Männer und nahmen meine Mutter fest. Sie hat behauptet, dass ich nicht ihre Tochter sei und mein Vater hat dem zugestimmt. Sie wollte damit ihr Leben retten, aber es hat nichts genützt. Ihr wurde die Kehle aufgeschlitzt. ‚Hätte ich dich doch niemals bekommen!' Das waren die letzten Worte meiner Mutter. Kurz bevor ich auch getötet wurde, hat mein Vater etwas vorgeschlagen: Wenn ich weit weggeschickt werden und ein ruhiges Leben leben würde, könnte ich verschont werden. Mein Name sollte von da an ‚Christa Lenz' sein."

Nachdem sie geendet hatte, herrschte betretenes Schweigen.


Zwei Tage nach dem Einzug in die abgelegene Hütte, statte Hanji und ihre Einheit zum ersten Mal einen Besuch ab. Von nun an würden sie voraussichtlich täglich vorbeikommen, um das Training und die Experimente zu unterstützten beziehungsweise zu leiten. Das wichtigste war Erens Verhärtungstraining und andere Versuche, die Hanji mit dem Riesenjungen durchführen wollte. Ein weiterer Grund für ihr Kommen war Motte. Während Levi für ihr Kampftraining zuständig war, kümmerte Hanji sich um alle Fragen, auf die der Kapitän und die Nervensäge nicht einmal gekommen wären. Beispielsweise, ob Motte in dieser Welt essen konnte. Dies hatte sich bereits am ersten Abend geklärt, als Historia freundlicherweise gefragt hatte, ob Motte denn mitessen wolle. Sie und Levi hatten sich erstaunt angeschaut, da sie nicht wussten, ob sie es überhaupt konnte. Es hatte funktioniert, doch die Nervensäge hatte das Essen nicht gut vertragen. Hanji wollte bei ihrem Versuch alle Details zur Verdauung wissen und dokumentierte diese. Das war der Punkt, an dem Levi beschloss seine Zeit anderswertig zu nutzen.

Er hatte festgestellt, dass die Stimmung in seiner Einheit zwar gut war, doch es herrschte eine gewisse Anspannung versteckt. Sie lauerte unter den gelegentlichen Witzen und dem Lachen und schien alle zu beobachten. Für Levi war das nur natürlich. Seine neue Einheit war untereinander seit mehreren Jahren befreundet. Allerdings waren nicht mehr alle da: Neben Eren hatten sich drei weitere als Titanendwandler entpuppt, von denen zwei für den bis jetzt schwersten Schlag der Menschheit verantwortlich gewesen waren, eine hatte sie bezüglich ihrer Identität die ganze Zeit belogen, und einige... waren anscheinend tot. Dazu kam noch das Wissen über die Herkunft der Riesen und die Tatsache, dass die Aufklärungslegion momentan keinen guten Ruf hatte.

Und dann war da natürlich noch Motte. Ihre Existenz und Anwesenheit sorgten für eine stetige, kaum merkliche Skepsis, obwohl jeder sein Vertrauen bekannt hatte. Sie gingen mit ihr so ungezwungen wie möglich um, doch es gelang ihnen nicht immer. Oft passierte es, dass jemand kurz zusammenzuckte oder sich anderswie erschrak, wenn sie sich oder ihre Stimme plötzlich manifestierte. Auch herrschte eine leichte Verwirrtheit, wenn Levi mit ihr sprach, während sie sonst keiner wahrnehmen konnte. Meistens war ihnen das nicht einmal bewusst.

Motte aber schien es zu bemerken. Levi stellte fest, wie sie darauf achtete möglichst komplett manifestiert unterwegs zu sein, um ja niemanden zu erschrecken. Des Weiteren sagte sie sich immer häufiger vom Schwarzhaarigen los, vermutlich damit die anderen von ihrer Beziehung zu ihm nicht zu sehr eingeschüchtert waren. Stattdessen bot sie oft ihre Hilfe an und entschuldigte sich für jeden kleinen Fehler. Umso mehr freute sie sich, wenn jemand von den Freunden auf sie zuging und ein Gespräch begann.

Kurzum wurde Levi klar, dass Motte unsicher war. Er hatte sie noch nie so vorsichtig erlebt. Nachdem sie gesehen hatte, wie misstrauisch die Freunde ihr gegenüber sein konnten, bemühte sie sich zu zeigen, dass sie sich auf sie verlassen konnten. Dass sie Grund hatten, sie zu mögen. Levi gefiel es nicht, sie so zu sehen. Er musste daran denken, wie sie früher häufiger als heute erzählt hatte, dass es viele Menschen in ihrer Umgebung – in ihrer Klasse – gab, die ihr das Gefühl vermittelten, als würden sie sie verurteilen. Levi hatte sich immer gedacht, dass Motte so etwas nichts ausmachte, einfach weil sie sie war, aber nun hegte ihn der Verdacht, dass dem vielleicht doch nicht so war. Ob sie sich bei den Menschen in ihrer Welt auch so... verstellte war nicht das richtige Wort. Es war, als würde sie eine verzerrte Version von sich selbst präsentieren.

Levi redete nicht mit ihr darüber, sie war ihr eigener Herr. Sie wusste, was sie tat. Aber es störte ihn trotzdem. Es nagte an ihm. Ein paar Tage später bemerkte er, dass Motte wieder lockerer wurde. Immer mehr von der Person, die er kannte, zeigte sich wieder. Das änderte allerdings nichts an der Tatsache, dass sie eigentlich nur noch beim Training Zeit zu zweit verbrachten. Levi wurde dieses lästige Gefühl nicht los. Es reizte ihn.


Er und Motte trainierten draußen. Sie befanden sich nahe am Rand eines Waldes. Nicht weit entfernt gab es einen steilen Hang. Dort, auf der tieferen Ebene, übte Eren seine Verhärtung zusammen mit Hanji. Der Rest der zwei Einheiten überwachte entweder die Experimente oder patrouillierte. Levi und Motte konnten die Geräusche des Trainings des Riesen hören. Es klang, wie sonst auch, ziemlich erfolglos.

Der Kapitän hatte beschlossen, dass für Motte Reflexe sogar noch wichtiger als Muskelaufbau waren. Zu Beginn hatte er ihr den ein oder anderen Stoß zum Beispiel gegen den Kopf gegeben, einfach weil sie zu langsam reagiert hatte, aber sie hatte schnell verstanden, worauf er hinauswollte. Ab und zu schaffte sie es sich zu entmanifestieren, bevor er ihr eine verpassen konnte, doch es funktionierte nicht immer. Oft versuchte sie reflexartig auszuweichen, anstatt ihren Körper aufzulösen und dann war der Ausweichversuch sowieso schon zum Scheitern verurteilt.

„Falsch", bekannte Levi heute schon zum zigsten Mal, als er Motte, die seiner Faust ausgewichen war, indem sie sich geduckt hatte, sein Knie in den Magen stieß. „Uff!", machte sie daraufhin. Er ließ von ihr ab und sie klappte am Boden zusammen, ihre Arme hielt sie um ihren Bauch geschlungen. „Noch dümmer", kommentierte er kalt, hob sein Bein und ließ es auf sie niedersausen. Knapp über ihren Kopf hielt er inne. „Sobald du am Boden liegst, bist du ein leichtes Opfer für den Gegner. Lass es nicht dazukommen." Er stand wieder mit beiden Füßen auf dem Boden.

Die Nervensäge lag immer noch in ihrer Kauerstellung im Gras, trotzdem funkelte sie ihn dadurch nicht minder wütend an. „Das tut weh!", presste sie hervor. Ungerührt legte Levi seinen Kopf schief: „Das soll es auch, sonst lernst du nicht." Außerdem benutzte er nicht mal die Hälfte seiner Kräfte. Beim Training mit der Nervensäge bewegte er sich extra langsam und achtete auch darauf, dass hinter seinen Schlägen nicht zu viel Kraft steckte. „Entmanifestier dich, das ist alles. Dann hättest du deine Niederlage verhindern können." Sie fauchte daraufhin frustriert. Situationen wie diese hatten in den letzten Tagen schon zu vielen Auseinandersetzungen geführt, so war es jetzt nicht anders. „Das sagst du so einfach", rief sie wütend und setzte sich ächzend auf. „Wieso musst du gleich mit Fäusten arbeiten? Wirf mir 'nen Apfel zu, dem ich ausweichen muss, oder so! Mach was Einfacheres! Aber du kannst nicht von mir erwarten, sofort im Eins gegen Eins zu gewinnen!"

„Soll ich etwa Sasha wieder herholen?", fragte Levi scharf, woraufhin die Nervensäge zusammenzuckte. Gestern hatten sie das Ausweichtraining aus größerer Distanz ausprobiert. Dazu hatte Levi Sasha gebeten mit stumpfen Pfeilen auf die Nervensäge zu schießen. Heute hatte sie am ganzen Körper blaue Flecken, die nicht so schnell wieder verschwinden würden.

„Los, steh auf. Wie machen's nochmal!", verlangte Levi. Weiterhin zornig fixierte sie ihn, aber nach einigen Sekunden erhob sie sich mit einem wütenden Schnauben. Er konnte an ihrer Bewegung erkennen, dass sie an verschiedenen Stellen Schmerzen empfand. Sie lernt nicht dazu, dachte er seufzend bei sich.

Kaum stand sie auf ihren Füßen, griff der Schwarzhaarige an. Er zielte auf die Stellen, die sie beim Aufrichten soeben unbewusst geschont hatte. Einen Wimpernschlag später lag die Nervensäge auf dem Rücken, Levi kniete über ihr. Mit einer Hand drückte er ihre gekreuzten Handgelenke über ihren Kopf gegen den Boden, die andere hatte er frei. Sie schrie auf vor Überraschung, Schmerz und Frustration: „Ich war noch nicht so weit!"

„Na, und? Denkst du, der Gegner fragt nach, ob du bereit bist? Er wird jede unachtsame Sekunde für sich nutzen und ehe du es dich versiehst, bist du tot. Das war dein erster Fehler." Er ignorierte ihren Protest und als sie sich sträubte, drückte er einfach fester zu. Seine Predigt war noch nicht vorbei: „Dein zweiter war, dass du dich auffällig schonend aufgerichtet hast. Man hat genau gesehen, wo du Schmerzen hast. Dementsprechend habe ich mich auf diese Stellen fokussiert. Und jetzt liegst du wieder am Boden und ich habe sogar noch eine Hand frei." Zur Demonstration schloss er sie zur Faust und tat so, als wolle er zuschlagen.

Er sah, wie Motte wütend die Zähne zusammenbiss. Plötzlich entmanifestierte sie sich, woraufhin er wenige Zentimeter zu Boden fiel. Schnell schoss sie durch ihn hindurch und gab sich im nächsten Moment einen Körper. Sie ließ er ganzes Gewicht auf ihn fallen. Nun lag er bäuchlings auf dem Boden, während die Nervensäge auf seinem Rücken saß. „Ah, jetzt kannst du dich also entmanifestieren", kommentierte er. Im letzten Moment hatte er seinen Kopf zur Seite gedreht, andernfalls läge sein Gesicht jetzt im Dreck. „Allerdings reicht das noch lange nicht." Mit diesen Worten zog er Arme und Beine unter seinen Körper und stemmte sich mühelos auf alle Viere hoch. Dabei purzelte Motte von seinem Rücken ins Gras.

Nachdem er sich aufgestellt hatte, klopfte er den Dreck von seiner dunklen Hose. „Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du immer auf Arme und Beine achten muss. Solange die noch beweglich sind, kann man sich einfach befreien." Motte hatte sich anscheinend den Kopf gestoßen, denn sie hielt ihn sich im Sitzen. Ihr Gesicht war verzerrt vor Schmerz und Wut. „Bist du wirklich so schwer vom Begriff?", setzte er noch hinzu.

Da riss Mottes Geduldsfaden. Zornentbrannt löste sie ihren Körper auf und schoss in die Höhe. „Du bist hier schwer vom Begriff!", fauchte sie ihn lautstark an. „Ja, ich brauche Training, aber ich habe null Vorbereitung! Alle Soldaten, die du kennst, hatten mindestens drei Jahre Ausbildung. Ich habe gar nichts."

„Du trainierst seit fast einer Woche und nichts verbessert sich", feuerte Levi zurück. Er war lauter, als er gedacht hätte. Es war, als hätte Motte einen Stöpsel gezogen, denn plötzlich überflutete ihn eine Welle der Wut. „Im Gegenteil, du wirst nur schlechter!"

„Der Sportunterricht in der Schule ist für 'n Arsch! Ich bin da noch nie die Beste gewesen, dafür war ich einfach zu faul und untalentiert und habe zu wenig Sinn in Tänzen mit Hula-Hoop-Reifen gesehen! Mir tut alles weh. Woher zur Hölle soll ich denn jetzt bitte all das können? Ich bin noch unfähiger als der schlechteste Rekrut! Ich kann das nicht von heute auf morgen!"

Zornig presste er seine Zähne zusammen und erwiderte: „Denkst du, den Feind interessiert es, woher du kommst? Dass er Rücksicht darauf nimmt?! Wenn du dich nicht verbesserst, überlebst du keinen Tag!"

Während die Nervensäge ihrem Ärger Luft machte, gestikulierte sie wild mit den Armen: „Gut, mag ja sein, aber trotzdem ist das alles auf einmal einfach zu viel! Lass das Unwichtigere erstmal sein! Wieso trainieren wir bitte Eins-zu-Eins-Kämpfe?! Wir kämpfen gegen Titanen und nicht gegen Menschen! Hör auf, mich windelweich zu prügeln!"

„Wir müssen auf alles vorbereitet sein!", knurrte Levi und schloss seine Hände zu Fäusten. „Schmerz ist der beste Lehrer. Wenn du nicht lernen willst, dann brauchst du eben härtere Methoden." Motte wich leicht zurück. Levi meinte zwischen all der Wut, einen kleinen Hauch Angst zu entdecken. „Du spinnst doch!", murmelte sie bei sich.

Den Schwarzhaarigen machte das nur noch zorniger. „Hör zu, Nervensäge. Du bist hier, weil du es so wolltest, oder nicht?! In dieser Einheit, meine ich. Du und Erwin, ihr habt euch hübsch zusammengetan und entschlossen geredet und wart euch einig, dass du bereits bist, mit an vorderster Front zu kämpfen. Aber das bist du, verdammt nochmal nicht. Du hast keine Ahnung vom Kämpfen, von Taktik, von Anpassung... Du weißt einfach nicht, wie man überlebt! Also, hör auf rumzuheulen und lerne es gefälligst!"

„Ich soll Späher sein!", fuhr sie ihn an. „Ausschau halten, Gespräche belauschen, vielleicht den ein oder anderen ablenken! Das Grün und Blau Schlagen überlasse ich denjenigen, die es können!" Sie wollte es einfach nicht begreifen!

Auch Levi war die Wut deutlich ins Gesicht geschrieben: „Schön. Und dann erwischt man dich bei einem Ablenkungsversuch und du bist zu dämlich, um dich aufzulösen und was dann?! Man bricht dir alle Knochen, weil du einfach beschissen im Kämpfen und zu langsam im Kopf bist, und danach fällt dir ein, dass du dich ja entmanifestieren könntest?! Blöd nur, dass du keine funktionierenden Knochen mehr hast, wie soll man da fliehen, wie?! Aber warte, die kleine nervende Göre kann ja fliegen, alles kein Problem! Oder? Kannst du fliegen, wenn alle deine Knochen gebrochen sind?!" Ganz in Rage rief er einfach weiter: „Sollen wir es ausprobieren? Ich bin mir sicher, Hanji wird sich für die Ergebnisse brennend interessieren!"

Nun zuckte die Nervensäge deutlich zusammen. In ihren Augen loderte immer noch Zorn, doch Angst und Abscheu war ebenfalls deutlich zu erkennen. „Nein, Mann. Einfach uncool", erwiderte sie belegt.

Ihre Stimme war deutlich ruhiger geworden, doch Levi konnte sich nicht bremsen. „Wenn du meinst!", giftete er zurück. „Wenn du abkratzt, sage ich Erwin, wie es ist: Tut mir leid, aber sei nicht traurig, sie war sowieso zu nichts zu gebrauchen!"

Das ließ ihre Wut von Neuem aufflammen: „Du kannst mich mal!"

Er spürte, wie die Streitsucht durch seine Muskeln zuckte. Bevor er die Beherrschung komplett verlor, drehte er sich um und schritt zu seiner 3D-Manöver-Asurüstung, die am Rand des Waldes lag. Mit geschickten Fingern legte er sie sich an. Nun, da es seinem Bein deutlich besser ging, schaffte er es größtenteils problemlos. „Ach, dann verreck doch einfach", knurrte er laut genug, dass es die Nervensäge hören konnte.

Fuck you!!", schrie sie ihn an. Sie hatte sich kein Stück bewegt. Aus der Ferne sah er, wie sie ihm beide Mittelfinger hochhielt.

„Ich hab keinen Bock mehr auf diesen Kinderkram!!", gab er mit erhobener Stimme zurück. „Soll Hanji sich mit dir Nervensäge rumschlagen!" Damit schoss er seine Haken ab und schwang sich den Hang hinunter.

Unten angekommen brauchte er nicht lange, um festzustellen, dass das Training hier unten ähnlich erfolgreich war wie das obige. Alle Soldaten gingen ihm aus dem Weg, während er mit immer noch grimmigem Blick zu Hanji stapfte. „Na, aber hallo. Da ist aber jemand schlecht gelaunt", grüßte sie ihn.

„Wir tauschen", schnauzte er sie bloß an.

„Hm? Aber wie haben noch gar nicht Mittag gegessen und erst danach...", wollte die Brillenträgerin einwerfen.

„Tja, sie ist nun mal zu stur, dafür kann ich nichts!", unterbrach er sie schroff. „Meinetwegen kannst du auch hierbleiben, ist mir egal, aber ich bin für heute fertig mit ihr! Eren...!" Ehe Hanji etwas einwerfen konnte, marschierte Levi weiter zum Jungen, der als Riese ziemlich erschöpft auf dem Boden saß, und ließ die Einheitsführerin stehen.

Hanji seufzte. „Und das soll schon eineinhalb Monate so gehen?", murmelte sie zu sich selbst. Sie blickte hoch zum Hang, wo hoffentlich Motte immer noch war. „Wie konnte Levi sie so lange geheim halten? Das war jetzt wirklich nicht zu überhören..."


Als Hanji sich auf die obere Hälfte des Hanges seilte, war, wie zu erwarten, niemand zu entdecken. „Motte?", fragte sie laut ins Nichts. „Bist du da?"

Eine Weile kam keine Antwort. Blöd kam Hanji sich deswegen nicht vor. Im Gegenteil, sie fand es unheimlich cool ein Geistermädchen in ihrer Bekanntschaft zu haben. Allerdings war doch zu hoffen, dass sie aufzufinden war. Andernfalls würde Levi die Brillenträgerin später zur Sau machen – Streit hin oder her – und darauf hatte sie wirklich keine Lust. Denn in den wenigen Tagen, in denen sie Motte kennenlernen konnte, hatte sie schnell begriffen, welchen Einfluss dieses Mädchen auf Hanjis alten Freund hatte.

Gerade als sie sich darauf einstellen wollte, dass sie sich auf die Suchen machen müsste, drang ein „Ich bin hier" an ihre Ohren. Die Stimme kam vom Waldrand. Während Hanji darauf zulief, bat sie: „Ich würde dich gerne sehen. Ist das in Ordnung für dich?"

„Ja, einen Moment noch..." Nanu? Das Mädchen klang etwas verschnupft. Hatte sie etwa geweint. Einen Augenblick später tauchte Motte vor Hanji wieder auf. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt und lächelte, doch sie hatte kaum merklich ihr Gewicht auf nur ein Bein verlagert und strotzte im Allgemein nicht vor Selbstbewusstsein, wie sie es sonst tat. Außerdem waren ihre Augen rot. Sie hatte eindeutig geweint.

„Oh je, jetzt sieh einer an, was Levi mit dir angestellt hat", seufzte Hanji mitfühlend, aber lächelnd. Sofort rümpfte das Mädchen die Nase: „Der? Was soll der mit mir gemacht haben?!" Jetzt zeigte sie mehr von ihrem stolzen Selbst. „Arschloch...!", setzte sie noch leise hinzu.

Hanji war belustigt. „Komm, setz dich lieber. Ich glaube, du brauchst eine Pause." Sowohl körperlich als auch seelisch, setzte sie noch gedanklich hinzu, behielt es aber doch lieber für sich. Sie hockte sich selbst im Schneidersitz ins Gras und klopfte einladend auf eine Stelle neben sich. Kurz darauf saß Motte neben ihr. Ein Bein winkelte sie nicht so sehr an, wie das andere.

„Hast du starke Schmerzen?", erkundigte Hanji sich. „Ich bin mir sicher, dass Levis Trainingsmethoden einem hart zusetzen. Und dazu kommt noch, die wenige Erfahrung..."

„Gar keine Erfahrung", fiel ihr Motte grimmig ins Wort. Unzufrieden rupfte sie ein paar Grashalme aus. „Es geht schon", beantwortete sie ihre Frage. „Es ist, glaube ich, größtenteils nur Muskelkater und die blauen Flecken von gestern."

Eine Weile schwiegen beide. Hanji versuchte abzuschätzen, was nun besser wäre: Ablenkung durch Versuche und Fragen über die Welt des Mädchens oder ein klärendes Gespräch. Die Brillenträgerin beobachtete sie beim gedankenversunkenen Rupfen von Gras. Als Hanji das erste Mal vom Mädchen erzählt bekommen hatte, hätte sie schwören können, dass Erwin bei der letzten Expedition einen ernsthaften Hirnschaden erlitten hatte. Doch es war die Wahrheit gewesen. Ein Mädchen, das wie ein Geist durch diese Welt schwirrte. Erwin hatte ihr ebenfalls grob erzählt, wie behütet Motte aufgewachsen war. Bei ihrem ersten Treffen von Angesicht zu Angesicht war Hanji ganz aus dem Häuschen gewesen. Das Ganze war einfach nur... abgefahren. Auch wenn es ein Jammer war, dass Motte nichts mehr über die Zukunft wusste, so war ihre Existenz allein ein Mysterium.

Trotz ihrer ungebremsten Aufregung hatte Hanji sich ein Bild darüber gemacht, was für ein Mensch Motte eigentlich war. Auch wenn sie im Alter von Eren und dessen Freunden war, wirkte sie von allen am ehesten wie ein Kind. Verständlicherweise, musste man sagen. Die meisten Teenager in ihrem Alter hatten bereits zu viel Grausamkeit gesehen. Motte aber nicht. Sie wurde stets von einer unschuldigen Freude begleitet, es fiel einem gleich viel leichter zu glauben, dass sie aus einer anderen Welt stammte. Und doch gab es Momente wie diese, in denen man das Gefühl hatte, dass das Mädchen reifer war, als es zunächst den Anschein hatte.

Hanji entschied sich für das Gespräch. „Ich hoffe doch, dass du weißt, dass du Levi manchmal nicht ernst nehmen darfst", begann sie. Motte rupfte inzwischen keine einzelnen Halme mehr, sondern ganze Büschel, doch nun hielt sie kurz inne. „Du hast das gerade mitbekommen?"

Hanji lachte auf. „Seinen Teil zumindest, ja. War leider nicht zu überhören." Motte sagte daraufhin nichts, sondern machte sich wieder ans Rupfen. „Weißt du, er hat nicht Unrecht", gab Hanji zu bekennen.

„Schon klar", brummte Motte säuerlich. „Ich bin zu nichts zu gebrauchen."

„So habe ich das nicht gemeint!", warf Hanji schnell ein. „Du brauchst vielleicht etwas länger zum Lernen, aber er ist einfach nur frustriert, das ist alles."

„Nein, ich hab schon verstanden", gab Motte schlecht gelaunt von sich. „Seit ich nicht mehr weiß, was passieren wird, ist das einzige, was ich kann, allen auf den Geist zu gehen." Sie winkelte ihr gesünderes Bein an und legte ihr Kinn auf dessen Knie ab. Inzwischen war zwischen dem grünen Gras zu ihren Füßen ein kleiner, kahler Fleck Erde zu erkennen. „Es ist bestimmt beschissen für ihn sich noch mit mir abgeben zu müssen, nur weil er mich aus irgendeinem Grund ständig sehen kann", setzte sie nuschelnd fort. „Ich versteh's ja, er ist der stärkste Soldat der Menschheit. Seine Aufgabe ist es, den Schlüssel für unseren Sieg zu bewachen. Ich bin nur..." Auf einmal wurden ihre Augen feucht. „Nur ein lästiges, kleines Mädchen." Schnell wischte sie sich übers Gesicht. „Ah, verdammt. Tut mir leid", entschuldigte sie sich rasch.

Hanji aber blinzelte sie überrascht an. „Warte, meinst du das ernst?" Verwirrt blickte Motte zurück. „Hä?"

„Du fühlst dich schlecht, weil du meinst, du wärst nur eine belanglose Zeitverschwendung?", fasste Hanji Mottes Gedanken zusammen. Das Mädchen antwortete nicht, sondern beobachtete, wie ihre ausgerupften Grashalme vom sanften Wind hinfort getragen wurden. Von der unteren Hälfte des Hanges hörte man Erens Riesen schwächlich rufen und Sasha, die anscheinend Hunger hatte und Mittagessen wollte.

Hanji brach in schallendem Gelächter aus. Tatsächlich musste sie sich den Bauch halten. „Hast du dich mal angesehen?", fragte sie schließlich. Motte blickte nicht mehr verwirrt, eher verstört. Mit einem Strahlen sprach die Brillenträgerin ihre Gedanken aus: „Du bist ein Geistermädchen, das nur von einem Menschen in allen Zustandsformen gesehen werden kann! Nach unserem Wissensstand bist du sogar noch einzigartiger als Eren! Weißt du, wie neidisch ich auf Levi bin? Wie kannst du nur glauben, dass du nichts Besonderes wärst?!" Sie lachte wieder und klopfte dabei Motte auf die Schulter.

Die senkte daraufhin entmutigt ihren Blick. „Weil ich nichts Besonderes bin", erwiderte sie leise. „Aus irgendeinem Grund bin ich hier... so, aber bei mir... In meiner Welt bin ich nur ganz normal."

„Na und?", meinte Hanji schulterzuckend. „Vielleicht wäre Levi bei dir ja auch nur ganz normal."

Bei diesen Worten wurden Mottes Augen langsam größer. Es war das erste Mal, seit sie sich heute gesehen hatten, dass etwas Positives in ihnen aufschimmerte. Es sah aus wie Belustigung. Motte entwich ein Glucksen: „Glaubst du echt?"

Abermals zuckte die Brillenträgerin betont beiläufig mit den Schultern: „Könnte schon sein. Die Leute sagen immer, dass man selbst entscheiden kann, wer man ist. Bis zu einem gewissen Grad stimmt das, glaube ich, schon, aber ich bin mir sicher, dass die Umwelt verdammt viel ausmacht. Wäre Levi unter anderen Bedingungen aufgewachsen, wäre er sicherlich nicht der, der er heute ist."

„Ja? Wie ist er denn aufgewachsen?", hakte Motte nach.

Nun machte Hanji große Augen. „Weißt du das denn nicht?" Als Motte den Kopf schüttelte, versuchte die Brillenträgerin noch die Kurve zu kratzen. „Tja, ich auch nicht. Wir sollten ihn wohl mal fragen, meinst du nicht auch?"

Das Mädchen blickte wieder auf ihre Stiefel. „Hab ich schon mal. Fand er nicht so toll", erzählte sie kleinlaut. Oh je, jetzt ging das Gespräch wieder in die falsche Richtung. Aber nun wusste Hanji, was das Mädchen beschäftigte.

„Motte, was ich eigentlich sagen will", begann Hanji sanft, „ist, dass Levi nicht ganz normal ist. Als Typ, meine ich. Er ist nicht gerade gut darin zu zeigen, was er empfindet."

„Außer Wut", warf Motte ein.

„Außer Wut", stimmte Hanji zu. „Ja, du sagst es. Levi ist sehr wütend. Das liegt aber nicht an dir. Er hat einfach schon verdammt viel Scheiße mitgemacht. Wie wir alle eigentlich." Sie fühlte sich auf einmal so erschöpft. „Auch wenn es nicht den Eindruck hat, lässt ihn das alles andere als kalt..."

„Ich weiß", unterbrach Motte fest. Sie blickte Hanji in die Augen. „Nein, wirklich, ich weiß das. Nicht nur, weil er seinen Frust immer mal wieder an mir auslässt, nach der letzten Expedition zum Beispiel..." Da musste Hanji leise lächeln: Hat er das also? Motte bemerkte es wahrscheinlich nicht, denn sie setzte unbeirrt fort: „... sondern auch... weil ich es mitbekommen habe... Nachts..." Sie zögerte leicht. „Ich bin nachts nicht oft hier, aber... Er schläft eigentlich immer schlecht. Und, wenn er denkt, dass ich zu sehr mit Reden oder so beschäftigt bin, guckt er manchmal so... alt." Sie vermied es wieder Hanji in die Augen zu sehen. „Er... Es macht mich traurig ihn so zu sehen..." Ihre Stimme war immer leiser geworden, gegen Ende hatte Hanji Schwierigkeiten sie zu verstehen.

Die Brillenträgerin blickte das Mädchen von der Seite an. Reifer als man denkt.... Hanji rieb sich den Nasenrücken. Es wurde zum Mittagessen gerufen, doch keiner der beiden machte Anstalten sich zu bewegen.

„Tut mir leid", entschuldigte Motte sich plötzlich. Überrascht merkte Hanji auf und sie sah, dass das Mädchen sie betrachtete. „Ich wollte nicht irgendetwas annehmen, von dem ich keine Ahnung habe. Das hier ist nicht meine Welt."

„Doch", erwiderte Hanji immer noch verwundert, was nun die Jüngere aufmerken ließ. „Erwin hat mir erzählt, dass du diese Entscheidung getroffen hast. Dass du von nun an in beiden Welten leben willst. Eine verdammt mutige Entscheidung, wenn du mich fragst." Hanji setzte sich etwas bequemer hin. „Was glaubst du denn, warum Levi zurzeit ständig gereizt ist?"

„Das ist er doch immer", antwortete Motte berechtigterweise.

Hanji lachte auf. „Mehr als sonst, meine ich. Nein, er hat schon genug von dieser Welt gesehen, um sagen zu können, dass sie sehr grausam und unfair sein kann. Deswegen nimmt er dich auch so hart ran im Training. Denkst du, er würde wirklich so viel Zeit und Energie in jemanden investieren, der ihm egal wäre? Den er nicht leiden kann?" Sie lächelte. „Vermutlich ist es ihm selber noch nicht einmal bewusst. Aber, Himmel, weißt du, wie lange es her ist, dass ich ihn so leidenschaftlich erlebt habe?!"

Mit offenem Mund starrte Motte Hanji an. Dann zogen sich ihre Lippen in ein Strahlen und sie begann zu lachen. Es war laut und herzhaft und ehrlich. Hanji mochte es.

Die Brillenträgerin empfand Stolz. Hatte sie es doch tatsächlich geschafft, dem sonderbaren Mädchen ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern. „Na, komm!" Sie stieß Motte freundschaftlich gegen den Arm. „Lass uns was essen. Ich verhungere gleich! Und danach..." Sie spürte, wie ihre Wangen heiß wurden und ihr Herz schneller klopfte. Das unbeschreibliche Gefühl der absoluten Vorfreude packte sie bei dem Gedanken an all die Informationen, die sie heute Nachtmittag herausfinden könnten.

Sie erhoben sich. Motte war immer noch bestens gelaunt. Hanji betrachtete sie aus dem Augenwinkel. Sie musste zugeben, dass sie nicht ihre Geisterform oder ihre Herkunft am Faszinierendsten fand, sondern wie sie es schaffte, den kleinen, unnahbaren Kapitän so zu beeinflussen ohne es richtig zu versuchen.


Am späten Nachmittag kam Motte zu Levi gesaust, der sich gerade zu einer Teepause hatte überreden lassen. Eren sah aus, als müsse er gleich weinen. „Hallo, Herr Emotionslos", grüßte sie ihn überraschend fröhlich. Es war, als hätte sie den Streit vom Vormittag vergessen.

„Wieso trainierst du nicht mit Hanji", gab er nur zurück. Seine Stimmung war weiterhin gereizt. Auch bei Eren hatte es heute keine zufriedenstellenden Ergebnisse gegeben.

„Wir sind fertig für heute hat sie gesagt", erwiderte sie munter. „Sie meinte, ich solle mich ausruhen, sonst sterbe ich noch durchs Training."

„Tch", gab Levi von sich und wandte sich ab. Er lief zu den Tischen, wo fast alle schon versammelt waren. Bald war auch der heutige Tag vorbei und Hanji und ihre Einheit würden demnächst gehen.

Motte folgte ihm schwebend. „Falls es dich interessiert, es tut jetzt schon weh, wenn ich fliege. Ich glaub also nicht, dass das mit gebrochenen Knochen gut funktioniert."

„Sag ich doch", meinte er ruhig.

„Ja, ja", winkte Motte gelangweilt ab.

Er merkte, dass die Spannung zwischen ihnen beiden verraucht war. Auf einmal fühlte er sich deutlich leichter.

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