Die Königin der Mauern
Kapitel 42 – Die Königin der Mauern
Kaum waren sie mit ihrer Eskorte bestehend aus Soldaten der Aufklärungslegion im Außenbezirk Orvud angekommen, wurde Levi schon dazu aufgefordert, seine Einheit in der Halle des Militärgebäudes zu versammeln. Die Besprechung über die weitere Vorgehensweise beginne in Kürze. Er bedankte sich schnell bei seinem Pferd, indem er über seine Nüstern strich. Dann stellte er sich zu seiner Einheit, die gerade aus dem Wagen oder von den Pferden gestiegen waren.
„Historia", sprach er zu ihr. „Hab vergessen, es dir früher zu sagen." Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Er hatte es die ganze Zeit im Kopf gehabt, hatte aber den richtigen Moment abwarten wollen. Allerdings musste Levi zugeben, dass er so etwas nicht wirklich gut konnte. Da die Besprechung bald stattfinden würde, machte er es eben jetzt. „Du musst etwas für uns tun."
„Ja?" Inzwischen hatte er die Aufmerksamkeit seiner gesamten Einheit. Auch die Nervensäge glotzte ihn neugierig an.
„Erwins Befehle", sagte er vorneweg. „Wenn dieser Kampf vorbei ist, sollst du, da du die wahre Nachfolgerin für den Thron bist, Königin werden."
Um ihn herum vernahm er Laute des Erstaunens. Sie waren alle fassungslos. „K...Königin? Historia?!", stammelte Sasha nicht gerade geistreich.
Levi ignorierte die anderen und konzentrierte sich nur auf Historia, die ihn mit großen, blauen Augen anstarrte. „Der Coup war erfolgreich, aber das Volk wird keinem Regime an der Spitze folgen. Was wir brauchen, ist eine Geschichte, die sich verbreiten kann. Dass eine wahre Erbin sich die Krone von einem Schwindler zurückgeholt hat."
Sie ließ niedergeschlagen die Schultern hängen. „Ich..." Sie sprach nicht weiter. Es folgte Stille.
Connie brach sie, indem er zögerlich eine Hand hob. „Ähm, Kapitän? Ich bin mir sicher, dass Sie gehört haben, was Historia vorhin gesagt hat, aber... Na ja, ähm... Indem sie sich von ihrem Vater losgesagt hat, ist sie endlich diese Bürde losgeworden, könnte man sagen... Und trotzdem... Schon wieder?"
Zusammenhangloses Gestammel reizte Levi. „Was? Wenn du etwas zu sagen hast, dann sag es." Daraufhin zuckte Connie ängstlich zusammen. „Äh, ähm..."
Motte manifestierte sich neben Levi. „Du darfst keine Angst vor ihm haben", versicherte sie dem jungen Soldaten nüchtern. „Ich denke, es tut ihm gut, wenn ihm Leute ab und zu mal die Meinung sagen." Er machte ein abfälliges Geräusch. Natürlich tust du das. Dafür erntete er ein selbstgefälliges Grinsen.
„I...In anderen Worten", traute sich Jean und Levi drehte sich zu ihm. „Connie versucht zu sagen, dass Historia sich endlich von der Reiss-Familie loslösen konnte und sich selbst gefunden hat. Und jetzt zwingen Sie sie in eine neue Rolle? Ist das nicht..." Seine Stimme starb, aber Levi blickte ihn weiterhin abwartend an. Das schien ihm neue Kraft zu geben. „Ist das nicht ungerecht ihr gegenüber?"
Sie standen in einem Kreis um ihn herum und wollten ihm in aller ängstlicher Höflichkeit klarmachen, dass seine Forderung Historias Leben stark einschränken würde. Als wüsste er das selbst nicht. Jeder hatte nun einmal seine Rolle im Leben zu spielen. Außerdem war das Erwins Entscheidung gewesen und nicht seine. Er war der beschissene Bote. Wieso hatte er das Gefühl, als stellten sie ihn jetzt als Schuldigen dar?
Ehe er etwas dergleichen erwidern konnte, gab Historia ihre Antwort. „Einverstanden." Sie blickte zu Boden, trug Traurigkeit in sich, aber ihre Stimme war fest. „Meine nächste Pflicht ist Königin Sein, richtig? Ich bin einverstanden." Sie wandte sich ihren Freunden zu. „Danke für eure Besorgnis. Aber ob es mir aufgezwungen wird oder nicht, ist meine Entscheidung, glaube ich." Dann schaute sie Levi fest in die Augen. „Jedoch, Kapitän, habe ich eine Bedingung."
„Hm?"
„Da mein Schicksal mir gehört, möchte ich es aufs Spiel setzen." Sie wollte also kämpfen.
Nachdem sie das geklärt hatten, gingen sie zu der Besprechung. „Ich denke, du hast dich gerade noch unbeliebter gemacht", gab Motte munter zu Bedenken und klang nicht einmal ansatzweise besorgt.
Am nächsten Tag, die Sonne war gerade erst aufgegangen, standen Soldaten der Aufklärungslegion, darunter Levi und seine Einheit, Hanji, Moblit und Erwin selbst, sowie die Soldaten der Mauergarnison des Außenbezirks Orvud auf und vor dessen Mauern. Sie alle betrachteten das riesige Monster, das innerhalb der nächsten zehn Minuten auf den Bezirk treffen würde.
Auf dem Weg nach Orvud hatte Eren versucht, die Fähigkeit zu nutzen, Titanen zu kontrollieren, die er bis jetzt einmal unwillentlich eingesetzt hatte, doch das Ungetüm, das bis vor Kurzem noch Rod Reiss gewesen war, hatte keinerlei Reaktion gezeigt. Deswegen hatten die Aufklärungslegion und die Mauergarnison noch vor Sonnenaufgang einen Plan aufgestellt. Die letztere Gruppe hatte, da sie in einem Außenbezirk der Mauer Sina stationiert waren, bis jetzt nur kaum Titantenkontakt gehabt. Levi hatte das Gefühl gehabt, sie würden sich mit Rekruten besprechen und nicht mit ausgebildeten Soldaten. Sie hatten ihnen erklären müssen, dass abnormale Riese wie der, mit dem sie es jetzt zu tun hatten, von großen Menschenmassen angezogen wurde. Den Bezirk also zu evakuieren, hätte die Folge, dass der Titan direkt auf die Mauern losgehen würde. Und wenn diese brach, würde es ein Fiasko der Ersten Klasse geben. Deshalb diente nun der gesamte Außenbezirk als Köder. Es war nicht gerade Levis liebster Plan, aber es war derjenige, der vermutlich am wenigsten Opfer bringen würde.
Der jetzige Stand war, dass zunächst die Mauergarnison alles Mögliche versuchen würde, um den Riesen aufzuhalten, dann würde die Aufklärungslegion übernehmen. Sie standen etwas abseits von den Soldaten der Garnison, um alles im Blick zu haben. Letzte Nacht hatten sie noch zusammen mit Erwin ihre eigene Strategie entwickelt. Levi wettete, dass sie sie brauchen würden. Und er hoffte inständig, dass sie funktionierte. Denn wie immer in Erwins Plänen gab es einen kleinen Aspekt, auf den sie setzen mussten und der alles ruinieren konnte.
Die Garnison hatte ihre Kanonen auf und vor den Mauern positioniert. Alle Rohre waren auf die Rauchwolke und das, was in ihr kroch, gerichtet. Wie ein gewaltiger, fleischiger Wurm bewegte sich der Riese auf sie zu. Die Hitze, die sein Körper ausstrahlte, ließ immer noch Gras und Bäume in der Nähe lichterloh brennen. Allmählich spürten sie auch hier auf der Mauer die steigende Wärme. Das dumpfe Krachen seiner viel zu dünnen Hände auf den Boden wurde mit jeder Minute lauter. Sein Gesicht zog er weiterhin durch den Dreck. Levi hatte noch nie etwas Unmenschlicheres gesehen und gleichzeitig war dieses Ding menschlicher als jedes Tier.
Es war widerwärtig.
„Bei uns gibt es Anime Filme vom Studio Ghibli", begann Motte plötzlich. Sie hatte wie alle anderen auch, seit sie hier oben standen, die meiste Zeit über nachdenklich geschwiegen. Ihre Stimme klang belegt. „Da gibt es auch oft solche Viecher", erzählte sie weiter. „So mit großen, dicken Körpern, aber richtig dünnen Armen und Beinen. Die haben mir als Kind immer Angst gemacht." Sie schauderte. „Hätte nie gedacht, dass ich so etwas mal wirklich sehen würde..."
Levi blickte sie von der Seite an. Seit Rod Reiss sich in einen Riesen verwandelt hatte, wirkte sie ungewöhnlich apathisch. Es war nicht unverständlich. Sie wussten schon seit einer Weile, dass alle Titanen mal Menschen gewesen waren. Dieser hier aber war kein normaler Riese. Es war auch kein herkömmlicher Abnormaler. So etwas hatte keiner von ihnen zuvor gesehen. Das musste sich erstmal sacken. Auch wenn sie keine Zeit dafür hatten.
„Wenn du damit sagen willst, dass der hier abartig hässlich ist", erwiderte Levi mit seiner üblichen Indifferenz, „dann stimme ich dir voll und ganz zu." Motte nickte bestätigend. „Das Ding wird mich noch wochenlang in meinen Albträumen verfolgen...", glaubte sie. Als ihr bewusst wurde, was sie gerade gesagt hatte, geriet sie ins Stocken. „Vergiss es, ich träume gar nicht mehr. Vermutlich gut so."
Auch hier stimmte Levi ihr zu, auch wenn er nichts sagte. Schlafen ohne zu träumen, klang für ihn wie der Himmel auf Erden. Wenn er dafür aber regelmäßig in eine Welt wie diese kommen würde, machte es auch keinen Unterschied mehr.
„Feuer!", hörten sie den Kapitän der hiesigen Mauergarnison brüllen, sobald der Titan in Schussweite war. Sofort schossen die Soldaten mit den Kanonen, die sich auf der Mauer befanden. Eine Salve von Kugeln prasselte auf ihn nieder und explodierte bei Kontakt. Es knallte laut und begann nach Schießpulver zu stinken.
Vor ihnen waberte eine dicke Säule aus Rauch, die so dicht war, dass keinerlei Bewegung zu sehen war.
„Sieh einer an", meinte Erwin ernst.
Dann aber stieß plötzlich eine Hand hervor und schlug auf die Erde. Der Riese kroch weiter.
Als Antwort begannen nun die unteren Kanonen zu schießen, die direkt vor dem Tor standen. Sie hatten einen flacheren Winkel als die oberen und trafen dementsprechend schlechter. „Die Bodenkanonen scheinen noch ineffektiver zu sein", sprach Erwin aus, was jeder sah.
„Natürlich sind sie das", blaffte Levi gereizt. „Die Mauerkanonen haben schon kaum den Nacken getroffen, obwohl sie den besseren Winkel haben. Was ist ihr Problem?"
„Es ist ein Mischmasch aus Soldaten", erklärte Erwin sachlich. „Die Kanonen haben sie gerade so zusammengekratzt. Oberflächliche Führung. Um das Ganze abzurunden, ist das hier ein nördlicher Bezirk. Anders als die Truppen an der Frontlinie haben sie keine Kampferfahrung. Allerdings ist das das Beste, was wir kriegen können, und das ist unumgänglich."
„Genau das will ich hören, wenn so ein Monster auf uns zukommt", stöhnte Motte sarkastisch auf.
„Ja, so viel ist leider offensichtlich", erwiderte Levi auf Erwins Worte hin. „Und wieder beruht deine Strategie für die Aufklärungslegion auf einer Spekulation. So wie alles andere, was aus deinem Kopf kommt." Levi mochte dieses Vielleicht ganz und gar nicht. Denn sollte es nicht eintreffen, wie erhofft, waren sie alle vermutlich tot.
„Erwin! Ich hab das gute Zeug geholt!", rief Hanji stolz. Sie deutete auf ein viele Fässer und Seile. „Schießpulver, Seile und Netze. Alles, was ich finden konnte. Wir müssen es uns aber selbst herrichten. Ah, und die hier!" Moblit trabte gerade herbei und schob ein größeres Fass vor sich her, das mit zwei Haken und Griffen ausgestattet war, die Levi an die der 3D-Ausrüstung erinnerten. „Der Abzug ist eingerastet, sodass es sich wie unsere Ausrüstung selber einfahren kann", erklärte die Brillenträgerin. Anschließend fragte sie: „Wie sieht's aus? Macht die Artillerie irgendwelchen Schaden?"
Mit leicht verzogener Miene linste er zu den nutzlosen Soldaten der Mauergarnison. „Ein bisschen mehr als ein pissendes Insekt", informierte er sie. „Ah, heute wieder gut gelaunt", bemerkte die Nervensäge. „Aber ich kann's dir nicht verdenken."
„Also werden wir die Dinger hier wirklich benutzen?", schlussfolgerte Hanji und wies auf die Fässer mit den Haken.
„Levi, Jean, Sasha, Connie, Motte. Ihr kümmert euch um die andere Seite", befahl Erwin, ehe Hanji eine Erwiderung erhielt. Alle fünf gehorchten und joggten – oder schwebten – die Mauer entlang, bis sie bei den Kanonen der Garnison angekommen waren. Ihr Plan sah es vor, in etwa gleich viele Soldaten der Aufklärungslegion auf beiden Seiten des Titans zu haben, wenn er bei der Mauer ankam. So nah, wie er war, dürfte es sich dabei nur noch um wenige Minuten handeln.
Die Mauergarnison musste ihre Kanonen inzwischen fast senkrecht nach unten richten, um auf den Nacken zu zielen. „Feuer!", ertönte es abermals. Gefolgt wurde der Schrei von lauten Schüssen. Die Kugeln trafen auf den Riesen, der immer noch keinerlei Reaktion zeigte.
Allerdings sah Levi, dass sich auf dessen Kopf und oberen Rücken, an den Stellen, an denen er getroffen worden war, Krater in seiner Haut gebildet hatten, aus denen wegen des Heilungsprozesses Dampf emporschwebte.
„Das Ding läuft ja trotzdem noch weiter", jammerte Motte. „Mann, ich kann echt drauf verzichten, es aus noch näherer Nähe zu sehen."
„Da kommst du wohl nicht drum rum", teilte Levi ihr unbarmherzig mit.
Ein weiterer Kanonenregen folgte. Daraufhin blieb es plötzlich still. Der große Fleischwurm war direkt vor der Mauer und regte sich nicht mehr.
„Wir haben das Fleisch weggeschossen!", wurde dem Kapitän der Mauergarnison klar. „Noch einmal und es ist erledigt!"
In dem Moment aber verströmte der lädierte Titan Hitze mit derartiger Wucht, dass sie ihnen förmlich von unten ins Gesicht schlug. Levi zuckte zusammen und versuchte wie alle anderen auch, sein Gesicht zu schützen. „Ah, heiß!", erschrak Sasha sich ächzend.
„Scheiße, es nützt nichts...", ärgerte sich Levi. Zu allem Unglück änderte sich noch die Windrichtung, sodass die Wolke aus Dampf und Rauch, die der Riese absonderte, sie umschloss. Zusätzlich zu der unsäglichen Hitze sahen sie also kaum noch die Hand vor Augen. So konnte die Mauergarnison nicht mehr zielen. Blind schossen sie.
Plötzlich krachte es und die Mauer, auf der sie standen, erzitterte.
Der Riese hatte sein Gesicht gegen die Mauer geknallt. Sein mit Kratern verzierter Kopf befand sich direkt unterhalb von Levi, Connie, Sasha, Jean und Motte.
Letztere schrie vor Schreck spitz auf und hielt sich in der nächsten Sekunde erschrocken den Mund zu. So wandte sie sich Levi zu, der ihr einen missfallenden Blick schenkte, auch wenn er sie momentan nicht richtig sehen konnte. „'Tschuldigung!", kam es durch die Hände gedämpft aus ihrem Mund.
Eine gewaltige Hand erhob sich aus der Rauchwolke donnerte nur wenige Meter neben sie auf die Mauer. Sie war so groß, dass sie den ganzen Stein umfassen konnte. Spätestens jetzt sollten die Menschen in Orvud gemerkt haben, dass der heutige Tag nicht so sein würde wie jeder andere.
In Levi schrie jede Faser seines Körpers danach, darauf loszugehen und sie abzuschneiden, aber es ging nicht. Die Hitze war jetzt schon beinahe unerträglich, würde er noch näher rangehen, würde er sich vermutlich verbrennen. „Los, geht zum Wasser", befahl er den Leuten seiner Einheit, die hier waren, und befolgte damit weiterhin den Plan. Sie begaben sich zu dem Fass. Unterdessen hatte der Riese auch die andere Hand auf die Mauer krachen lassen und begann, sich daran hochzuziehen.
Levi war der erste, der sich eine große Ladung Wasser überschüttete. Für einen kurzen Moment breitete sich Gänsehaut auf seinem ganzen Körper aus, aber er konnte nicht umhin, die Abkühlung als wohltuend zu empfinden. Er kippte sich noch einen zweiten Eimer voll Wasser über, ehe er ihn Jean weiterreichte.
„Er hat einen Mund", hörte er Motte mit matter Stimme aussagen. Es veranlasste ihn dazu, an dem Riesen hochzublicken. Dieses Monster war tatsächlich doppelt so groß wie die Mauer. Levi verstand ihren Tonfall. Durch das ständige über den Boden Ziehen hatte der Titan sein Gesicht abgeschabt. Man erkannte das Gehirn, die Augen- und Nasenhöhlen... Und die Mundhöhle mit einer halben Zunge. Blut floss aus den Öffnungen. Nicht nur das, auch die Haut seines Torsos sowie die vorderen Hälften der Rippen waren weg. Die Innereien des Riesens quollen heraus und plumpsten zum Teil auf die Mauer. Widerwärtig war das einzige, was Levi durch den Kopf schoss.
Am Rande hörte er unten in Orvud die Menschen panisch schreien. Die Mauergarnison, die aus lauter Verzweiflung nicht wusste, was sie tun sollte, wuselte verzweifelt umher.
Es hatte einen Mund.
Erwins Spekulation hatte sich ausgezahlt.
Nachdem seine Einheit fertig war und Wasser von ihrer Kleidung und ihren Haaren tropfte, nahm er nochmals den Eimer entgegen. „Manifestier dich", verlangte er von Motte. Sie konnte ihren von Ekel erfüllten Blick nicht von Rod Reiss' Titan wenden. Levi wettete, dass ihr übel war. Ein Teil ihres Bewusstseins musste ihn gehört haben, denn sie tat wie geheißen, wenn auch sehr abgelenkt.
Das änderte sich im nächsten Augenblick. „Scheiße, ist das heiß!", jaulte sie erschrocken auf und zuckte zusammen. Auch wurde in dem Moment, in dem sie sich einen Körper gab, mit ihren Haaren ein heftiges Windspiel getrieben. Levi hielt das Wasser bereit und kippte es ihr über. Abermals zuckte sie zusammen und funkelte ihn wütend an. „Eine Vorwarnung wäre nett gewesen!", beschwerte sie sich. Motte hatte etwas von einem nassen Hund.
Levi ignorierte ihren Kommentar. Er musste feststellen, dass ihn auf einmal seltsamerweise das Gefühl von grimmiger Genugtuung ergriff. „Falls es nötig ist und du dich manifestieren musst, bist du immerhin nicht mehr so der Hitze ausgesetzt." Ihn immer noch böse anstarrend nickte sie. Anschließend entmanifestierte sie sich.
Das Wasser, das einen dünnen Film auf ihrem Körper gebildet hatte, klatschte traurig zu Boden. Die schwebende Motte war sofort staubtrocken. „Oh", gab sie nicht sehr geistreich von sich und blickte auf die Pfütze unter ihren Füßen. „Das Wasser ist nicht Teil meines Körpers, bleibt also nicht bei mir. Hätten wir uns auch denken können."
„Ich hab's mir gedacht", gestand Levi unverblümt und legte den Eimer zurück. Mottes lautstarke Beschwerde und Schimpftriade, die folgte, ließ er gekonnt unbeachtet. Sie hatten keine Zeit mehr zu verschwenden.
„Rückzug! Alle Mann, Rückzug!", schrie der Kapitän der Garnison panisch. Er stand in ihrer Nähe, sodass Levi jedes Wort hörte, was er den Tränen nahe zu sich murmelte. „Scheiße... Der Riese bricht durch... Die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, ist am Ende."
Levi legte ihm eine Hand auf die Schulter, woraufhin er heftig zusammenzuckte. „Tritt zurück, Kapitän. Ab jetzt übernehmen wir." Inzwischen hatte der Wind das meiste von der Rauchwolke weggetragen, sodass sie wieder mehr sehen konnten. Das Wetter würde heute wieder sehr schön werden.
Levi konnte nicht erkennen, was bei ihren Leuten auf der anderen Seite des Reiss-Titans los war, aber er nahm an, dass auch sie bereit waren, als plötzlich ein gelber Blitz einschlug und ein wütendes Brüllen zu hören war. Eren hatte sich verwandelt.
Sasha und Connie positionierten das Fass mit den Haken wie besprochen. Es war direkt auf die Hände dieses Ungetüms gerichtet. Auf der anderen Seite sollte es auch so sein. Ein tiefes Brüllen entsprang der Kehle des Titans. Noch einmal blickte Levi hoch auf diesen frontal abgeschnittenen Schädel und sah, wie die halbe Zunge heraushing. Aus tiefstem Herzen erkannte er abermals, wie verdammt hässlich dieses Ding war.
Dann kam das rote Rauchsignal, auf das sie gewartet hatten. Der Angriff begann nun.
Sasha betätigte die Auslöser, sodass die Haken augenblicklich nach vorne schossen und sich in die Hand des Riesens bohrten. Levi glaubte, dass ein Mückenstich deutlicher zu spüren war. Die Haken, mit denen er schon das ein oder andere Leben genommen hatte, wirkten bei dem Riesen so lächerlich mickrig. Sasha betätigte den nächsten Auslöser und das Fass wurde zur Hand gezogen.
Sobald es auf die Hand traf, explodierte es. Das Gleiche geschah auf der anderen Seite. Sehr gut, dachte Levi bei sich. Es handelte sich dabei um genug Schießpulver, damit der Riese den Halt verlor.
In den neu entstandenen Rauchwaden sah Levi, wie der Titan nach vorne kippte, bis sein Kopf nicht mehr gute fünfzig Meter über ihnen war, sondern quasi direkt auf der Mauer lag.
Sofort begannen regelmäßige, leichte Erschütterungen durch die Mauern zu gehen. „Eren ist losgerannt", teilte er seinen Leuten mit. Der Junge in Riesengestalt würde auf Rod Reiss' Titan zustürmen, bei sich einen Sack voll Fässer mit Schießpulver.
Erwin hatte gemeint, von außen an den Nacken zu kommen, würde zu schwierig werden, deswegen sollte Eren Schießpulver in den Rachen des Riesens stopfen. Er verströmte genug Hitze, um es zu entzünden. Die Explosion dürfte Rod Reiss aus dem Nacken reißen.
Allerdings hatte sich der Titan noch bis vor Kurzem mit dem Gesicht nach unten vorwärtsbewegt. Sie hatten nicht gewusst, ob er überhaupt eine Kehle oder einen Mund hatte.
Das war Erwins Spekulation gewesen.
Und er hatte Recht gehabt.
Natürlich gab es noch andere Faktoren, die den Plan vereiteln konnten. Vielleicht wurde das Pulver gar nicht entzündet. Oder die Explosion war nicht stark genug. Kein Plan ohne Risiko.
Nur wenige Sekunden später sahen sie, wie der Rachen des Riesens aufgebläht und von innen heraus erhellt wurde. Wegen der Massen an Pulver war die Explosion so gewaltig, dass sie von hellem Licht und einer neuen Art der Wärme überschwemmt wurden.
Es hatte funktioniert.
Riesige Fleischbrocken schossen durch die Luft. „Genau wie Erwin gesagt hatte!", staunte Motte. Der Kommandant hatte gemeint, dass die Größe des Riesens dafür sorgen könnte, dass die Mindestmaße, mit denen ein Stück Riesennacken herausgeschnitten werden musste, nicht eingehalten werden würde. An der Stelle müsste die Aufklärungslegion das Fleisch zerschneiden, damit sich der Titan nicht mehr regenerieren konnte.
Das war es, was sie jetzt taten. „Du bleibst hier!", ordnete Levi Motte an, während er bereits seine Haken schoss. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie Sasha, Connie und Jean es ihm nachtaten.
Sie sausten durch die Luft und zerschnitten ein Fleischstück nach dem anderen. Nicht nur, dass sie Reiss endgültig erledigen mussten, die Brocken waren so groß und schnell, dass sie die Menschen in Orvud zerquetschen könnten. Diese waren aus Levis Perspektive gerade nichts weiter als winzige, schreiende Ameisen und er setzte alles daran, dass keine davon starb.
Auch die anderen Soldaten der Aufklärungslegion flitzten durch die Luft. Darunter Historia. Sie hatte darauf bestanden, mit an vorderster Front zu kämpfen. Dabei hatte sie ein triftiges Argument hervorgebracht: Die Leute würden keine neue, unbekannte Königin einfach so akzeptieren. Durch ihren Einsatz konnte sie vielleicht ihr Ansehen gewinnen.
Und während Levi wütend flog und schnitt und letztendlich nichts mehr übrig war, bekam er mit, dass der entscheidende Schlag ausgeführt worden war. Dieses gigantische Ungetüm würde nicht wiederkommen. Rod Reiss war endgültig tot.
Historia hatte ihn erledigt.
Die wahre Thronfolgerin hatte unter Einsatz ihres Lebens die Menschen des Außenbezirks Orvud vor einem Titanen gerettet, wie ihn sonst noch keiner gesehen hatte. Na, wenn das mal nicht eine Geschichte war.
Laut jubelnd zog die Nervensäge große Spiralen in die Lüfte. „Das riesige Viech ist weg!", freute sie sich aus vollem Halse. Levi veranlasste es dazu, aufzuseufzen. Immerhin... Im Vergleich zu vorhin, als sie trotz der Anwesenheit fremder Soldaten Anstalten gemacht hatte, sich zu manifestieren und ihm um den Hals zu fallen, war das wohl der bessere Ausdruck der Freude. Nicht nur, dass die Nervensäge anscheinend vergessen hatte, dass gerade mal zehn Soldaten von ihrer Existenz wussten... Auch wenn er es neulich zugelassen hatte, war Levi alles andere als scharf auf Umarmungen.
„So ein hässliches Viech war das! Und als Mensch war er ja anscheinend auch nicht viel besser. Arme Historia, hoffentlich übersteht sie das gut! Aber es ist niemand gestorben, das ist vermutlich das Allerbeste! Und, hey! Eren kann sich verhärten! Das Loch in Shiganshina kann geschlossen werden! Wir können sehen, was im Keller ist!" Auf einmal lachte sie laut und herzlich und eine Spur triumphierend. Dadurch, dass sie sich ständig bewegte, nahm die Lautstärke laufend ab und wieder zu. „Seit die Serie begonnen hat, fragt man sich, was in diesem Keller ist! Und ich werde wahrscheinlich die erste sein, die es erfährt!"
Nur leider konnte er ihre Erleichterung nicht teilen. Während sie um ihn herumschwirrte und ihre Fröhlichkeit vertonte, war sich Levi bewusst, dass das Aufräumen hinterher manchmal schlimmer war als der Kampf selbst. Der Außenbezirk Orvud hatte sich von einem traumatischen Erlebnis sowie materiellen Verlusten der Artillerie zu erholen. Historia war noch nicht gekrönt. Eren würde seine Verhärtung noch besser trainieren müssen. Es war noch so viel zu tun. Bevor aber all das geschehen konnte, gab es noch eine sehr wichtige Sache zu erledigen.
Levi blickte von der Mauer aus auf die Landschaft, die sich vor ihm erstreckte. Er fragte sich, ob er bereit war, dem nachzugehen. Ihm war klar, dass er es tun musste, dass er es tun würde. Aber ob er dem, was er sehen würde, sich entgegenstellen könnte? Die Antwort würde er erst erhalten, wenn es soweit war.
„Sag mal, Herr Emotionslos." Mottes Kopf tauchte verkehrt herum direkt vor seinem Gesicht auf. Sie ließ trotz ihrer körperlosen Erscheinung die Haare herunterbaumeln. „Du bist unerschütterlich, was?" Tadel war in ihrer Stimme herauszuhören.
Ungerührt erwiderte er ihren vorwurfsvollen Blick. „Weil es noch nicht vorbei ist", erklärte er nüchtern. Verwirrung blickte ihm entgegen, woraufhin er mit einer Kopfbewegung auf den Landstrich hinter ihr wies. „Letzte Nacht haben wir die Zentralbrigade zurückgelassen. Wenn jemand überlebt hat, müssen wir denjenigen so schnell wie möglich gefangen nehmen. Außerdem finden wir vielleicht noch etwas auf Rod Reiss' Land, das uns weiterhelfen könnte."
„Ah", machte sie erkennend und drehte sich um, sodass sie wieder richtig herumschwebte. Levi meinte in ihren braunen Augen zu sehen, dass sie mehr begriffen hatte, als er erwartet hätte. Statt der Erleichterung und dem sanften Vorwurf, die davor in ihren Seelenspiegeln gefunkelt hatten, war nun dieses Mitgefühl zu erkennen, das Levi nicht verdient hatte. „Wir werden Kenny suchen." Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
Es war die Kombination dieser Worte und dieses einfühlsamen Blicks, die Levi plötzlich die Kehle zuschnürte. „Ja", bestätigte er und hoffte, dass seine Stimme sich nicht so kratzig anhörte, wie sie sich anfühlte. „Wir werden Kenny suchen."
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