Die Gefahr der Wahrheit
Kapitel 27 – Die Gefahr der Wahrheit
„Riesen in der Mauer also, hm?", griff Levi das wohl aktuellste Thema auf, während er seine Jacke ablegte und das Hemd aufknöpfte. Er und Motte befanden sich in seinem Zimmer des Gebäudes, das als Militärsunterkunft diente. Meist hausierten hier Soldaten der Militärpolizei aber unter den besonderen Umständen hatte die Aufklärungslegion für die nächsten paar Tage einen eigenen Flügel zugewiesen bekommen. „Ja...", seufzte das Mädchen wohlwissend, dass wieder Tadel kommen würde.
„Das hättest du auch früher sagen können", kommentierte er wie üblich emotionslos und suchte sich ein neues Hemd heraus. Das momentane war nach den Anstrengungen des Tages etwas dreckig geworden.
„Eigentlich hab ich's dir sogar gesagt", behauptete sie überzeugt. „Vor einem Monat, als wir uns kennengelernt haben." Stolz stemmte sie ihre Fäuste in die Hüften und reckte ihr Kinn besserwisserisch in die Höhe. Levi knöpfte unterdessen sein frisches Hemd zu: „Ach, und wann genau?"
Jetzt musste sie kurz nachdenken. „Mein zweiter Tag, glaub ich. Ich hab festgestellt, dass meine Verletzung von hier auch an meinem echtem Körper waren und du hast das erste Mal mit mir Manifestation trainiert. Bei dir..." Nun schien sie wirklich hart nachdenken zu müssen. „Puh... Was war bei dir los? Ähm... Ich denke... Ja, ihr habt herausgefunden, dass Eren sich in einen Titanen verwandeln kann und musstet dann entscheiden, was ihr mit ihm vorhabt." Tatsächlich konnte Levi sich erinnern: „Ah ja... Und du hast mir damals gesagt, dass sich Titanen in der Mauer befinden?"
„Oh ja!", meinte Motte energisch und deutete mit einem Zeigefinger auf ihn. „Ich weiß es noch ganz genau, denn ich wollte nicht gleich komplett die Katze aus dem Sack lassen. Ich habe dir gesagt, dass es sich für mich unterschiedlich anfühlt, wenn ich durch feste Materie fliege. Bei Riesen und Mauern fühlt es sich sehr gleich an. So oder so ähnlich habe ich es beschrieben." Abermals reckte sie ihr Kinn in die Luft, als hätte sie alles richtig gemacht.
Mit seinem scheinbar gleichgültigen Blick schaute er ihr in die Augen. „Du hast doch wohl nicht ernsthaft erwartet, dass ich anhand dieser Aussage auf die Idee komme, dass sich Titanen in der Mauer verstecken?" Motte zuckte mit den Schultern: „Wieso denn nicht? Ich habe dir die nötigen Hinweise gegeben."
„Du bist scheiße im Hinweise Geben."
Daraufhin verdrehte die Nervensäge die Augen. „Na, vielen Dank auch. Sei du erstmal allwissend, dann können wir weiterreden. Du hast keine Ahnung, wie schwierig es ist, alles auf einmal im Kopf zu haben." Übertrieben erschöpft fuhr sie durch ihren Pony. „Ich hatte schon genug Stoff zum Nachdenken, weil ich immerzu gehofft habe, dass ich die Operation nicht versaut habe. Nur, weil Eren wusste, dass Annies Ring wichtig ist. Hat trotzdem nichts genützt. Das mit den Riesen ist mir erst später eingefallen und dann hab ich's dir ja auch erzählt."
„Allwissend", zitierte Levi bloß spöttisch und überlegte, ob er auch seine Hose wechseln sollte. „Wie lange noch kannst du sagen, was in etwa passieren wird?" Die Frage war kein Triezen, sie war ehrlich.
„Ein paar Wochen noch?", spekulierte die Nervensäge. „Das ist schwierig zu sagen, wenn die Erzählzeit nicht die Zeit deckt, in der etwas geschieht. Und dann gibt es immer einen Monat Pause, bis die nächste Folge veröffentlicht wird. Man hat schon fast vergessen, was vorher passiert ist... Lass die Hose an, die ist nicht dreckig." Den letzten Kommentar sprach sie aus, sobald sie merkte, welche Überlegungen in seinem Kopf vorgingen.
„Schau's dir doch einfach nochmal an", meinte er nur und ließ gedanklich von seiner Hose ab. „Dabei kannst du dir auch gleichzeitig einprägen, was noch passiert." Er griff sein schwarzes Jackett und warf es sich über.
„Hm...", druckste das Mädchen herum und schwebte schon mal Richtung Tür, da sie nun aufbrechen würden. „Will ich nicht... Irgendwie schau ich die Serie nicht mehr so gerne seit... Streng genommen erst seit ein paar Tagen. Seit ich weiß, dass die Serie nicht mehr das gleiche ist wie diese Welt hier. Dort kann man alles wieder aufrufen, nochmal anschauen, es ist so surreal. Außerdem..." Nun wurde ihre Stimme leiser und ihre Schultern hängender, während beide das Zimmer verließen. „... kennst du mich dort nicht. Du weißt nicht mal, dass ich existiere, und das ist irgendwie echt doof... Aber ja, ich werde mir trotzdem manche Folgen nochmal anschauen, einfach um meine Erinnerungen aufzufrischen. Dann kann ich dir auch das Wichtigste für die nächste Zeit sagen."
Levi erwiderte daraufhin nichts. Er merkte, dass ihr dieses Thema eher unangenehm war, also sprach er etwas anderes an: „Gibt es denn schon etwas, was du mir erzählen solltest?"
„Puh, ja, schon", stieß sie aus und kratzte sich an der nun gerunzelten Stirn, „aber ich komm da mit der ganzen Reihenfolge noch nicht ganz zurecht. Momentan befinden wir uns bei einem Staffelwechsel und dann wird's manchmal echt konfus... Und bevor ich dich mit zu vielen Informationen überschütte, lass ich es erstmal lieber." Levi öffnete schon den Mund, um zu widersprechen, doch da fuhr sie dazwischen. „Ich werde es dir sagen, keine Sorge! Morgen schon, okay? Denn ich glaube es passieren bald wieder viele Dinge. Aber erstmal will ich mich auf das Gespräch mit Erwin konzentrieren."
„Jetzt tu' nicht so, als würdest du dich unheimlich drauf freuen", murrte der Schwarzhaarige und akzeptierte damit ihre Entscheidung.
„Bin ich nicht", gab sie offen zu. „Aber er wird bald verhört und ich wache gleich auf. Ich will das hinter mir haben."
Sie waren fast da. Am Ende des Ganges befand sich eine Treppe, die sie noch hochlaufen mussten und dann waren sie schon bei Erwins Zimmer. „Er ist kein Monster", erinnerte Levi sie. „Im Gegenteil, die Menschen haben weniger Angst vor ihm als vor mir."
„Hmpf", machte Motte daraufhin nur. Mehr konnte sie auch nicht machen, denn sie waren angekommen. Links und rechts von Erwins Tür stand je ein Soldat der Militärpolizei Wache. Als sie Levi erblickten, nickten sie ihm zu entfernten sich ein Stück. Den Soldaten der Aufklärungslegion war Privatsphäre erlaubt, doch komplett konnten die Wachen nicht abgezogen werden.
Levi hob seine Faust an und klopfte zweimal. Kurz darauf hörte er ein: „Herein!" Er gehorchte. Auch Motte kam durch die offene Tür geschwebt. Als der Kapitän die Tür hinter sich wieder schloss, begrüßte Erwin sie: „Danke, dass ihr gekommen seid." Er saß auf einem Stuhl leicht von dem Tisch an der Wand abgewandt, doch sie waren nicht in seinem Büro. Sie befanden sich in seinem Zimmer, dass dem von Levi glich, abgesehen davon, dass alles spiegelverkehrt aufgebaut war. Der Kommandant trug seine Uniform.
Nach der Begrüßung bewegte sich Levi in die Mitte des Raumes. Motte manifestierte sich. Ihre Miene war sehr ernst und verschlossener als sonst. Der Schwarzhaarige wusste, dass sie erwachsen wirken wollte, jedoch konnte sie ihre Distanz und Nervosität in ihren Augen nicht verbergen. „Sie wollten mich sprechen, Sir?", fragte sie.
Levi war die Anrede aufgefallen. Er wusste, dass das keine Darstellung ihres Respekts war. Wahrscheinlicher war die Vorstellung, dass sie schon immer mal so tun wollte, als wäre sie eine Soldatin des Militärs. Das ist kein Spiel, dachte er verärgert bei sich. Erwin lächelte leicht. Auch ihm war der höfliche Ton nicht entgangen: „Schon in Ordnung, nenne mich ruhig Erwin. Du bist schließlich kein Mitglied des Militärs."
Daraufhin funkelte Mottes immerwährender Trotz in ihren Augen auf. „Was wollen Sie...?" Ihre Stimme spiegelte wider, was ihr Blick bereits verriet. „...Sir?", endete sie nachdrücklich ihre weniger höfliche Frage. Levi hätte ihr gerne gesagt, dass sie sich nicht wie ein Kind benehmen solle, aber hatte sie denn jemals auf ihn gehört?
Erwins Lächeln verschwand nicht. Im Gegenteil, er wirkte amüsiert. Ihm schien aufzufallen, dass sie nicht um den heißen Brei reden wollte: „Na schön, Motte. Ich liege richtig in der Annahme, dass du von den Riesen in der Mauer Bescheid wusstest?"
Ihre entschlossene Miene bröckelte leicht. Unsicherheit blitzte auf. Ihre Augen zuckten leicht, als wolle sie sich hilfesuchend an Levi wenden, doch ihr war klar, dass das Erwin bemerken würde, weswegen sie sich dagegen entschloss. Sie war ein offenes Buch, in dem Levi lesen konnte. Und wenn er dazu fähig war, dann Erwin erst recht. Motte räusperte sich schließlich: „Ja, Sir."
„Und wie lange wusstest du das schon?"
Das Mädchen war angespannt. „Eine Weile."
Erwins Blick blieb verschlossen, doch Levi wusste, dass dem Kommandanten klar war, dass es etwas gab, was ans Licht gebracht werden musste. Er würde so lange weiterbohren, bis er mit den Antworten zufrieden war: „Woher wusstest du das?" Er stellte genau die richtigen Fragen, um der Wahrheit näherzukommen. Er hatte einfach ein Talent dafür. Levi war von Anfang klar gewesen, dass er Mottes Geheimnis dem Kommandanten nicht lange vorenthalten können würde.
Motte aber schien noch nicht aufgegeben zu haben. Zwar dauerte es etwas, bis sie reagierte, doch sie antwortete, wenn auch mit brüchiger Stimme: „Ich habe Zukunftsvisionen." Erwin veränderte nichts an seiner Miene. „So?", meinte er nur und Levi wurde klar, dass er kein Wort glaubte. Nun ja, war ihm das denn zu verübeln? Motte war eine schlechte Lügnerin: Ihre Stimme war nicht fest, sie schaffte es nicht, konsequent in Erwins Augen zu schauen und sie spielte mit den Enden ihrer Ärmel (was sie immer tat, wenn sie nervös war). Sie selbst merkte nichts davon. Sie nickte: „Ja, ab und zu."
„Lass es!", meinte Levi. „Er glaubt dir sowieso nicht."
Mit einem Mal fiel ihre ganze Anspannung ab und sie wandte sich dem Schwarzhaarigen zu: „Wie denn auch? Zukunftsvisionen? Das war 'ne bescheuerte Idee, Mann! Ich bin wirklich überrascht, dass das fast eine Woche Bestand hatte."
„Ach, und ein fliegendes, unsichtbares, nervtötendes Mädchen klingt weniger lächerlich?", konterte er bissig. Motte blies ihre Backen auf, ein Zeichen dafür, dass sie bereit war zurückzuschlagen.
Erwin jedoch unterbrach die kleine Auseinandersetzung. „Du hast dir das ausgedacht?", fragte er Levi verwundert. Dieser verschränkte grummelnd die Arme vor der Brust: „Ja, aber nur, um Eren irgendetwas zu erzählen. Er hat es geglaubt und seine Freunde anscheinend auch."
„Was ist mit der Wahrheit?" Erwin führte diese Diskussion in solch einem natürlichen Ton. Sie könnten gerade genauso gut die nächste Expedition planen, der Kommandant würde sich nicht anders verhalten. Wie gefasst er doch bleiben konnte.
Levi antwortete nicht. Ja, was war mit der Wahrheit? Wieso hatte er sie nicht erzählt? Um die Nervensäge zu schützen, schließlich wären viele an einem Mädchen interessiert, das wusste, was passieren würde. Doch war das mit den Zukunftsvisionen besser? Eigentlich nicht, wenn er genauer darüber nachdachte; zumindest nicht viel. Wieso hatte er dann gelogen? Wenn er sich vorstellte, dass die Menschen um ihn herum wussten, wer Motte wirklich war, woher sie kam, was sie zu erzählen hatte... Levi passte dieser Gedanke gar nicht und er hatte keine Ahnung, warum das so war.
Nachdem Motte festgestellt hatte, dass Levi nicht reagieren würde, holte sie tief Luft und beantwortete Erwins Frage, interpretierte sie anders: „Die Wahrheit ist, dass ich weder in die Zukunft sehen kann, noch dass ich früher mal eine Rekrutin gewesen bin."
„Das dachte ich mir bereits", erwiderte Erwin und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Du benimmst dich nicht, wie jemand, der die Intention hatte, dem Militär beizutreten. Geschweige denn, wie eine Person, die weiß, wie es ist zu sterben. Wenn ich ehrlich sein soll..." Sein Blick nahm etwas Ernstes, Analytisches an. „... wirkst du nicht einmal wie jemand, der sein Leben im Käfig dieser Mauern verbracht hat, wohlwissend, wie grausam diese Welt sein kann." Man könnte meinen, dass Vorwurf in seiner Stimme mitschwang.
Während Erwin ihr so eindringlich und scharf in die Augen blickte, wurde Motte nervös, vielleicht sogar ängstlich. Es schien ihr nun egal zu sein, ob Erwin es mitbekam oder nicht, sie wandte sich an Levi, unwissend, was sie tun sollte.
Er blickte zurück und nickte nur leicht. Es war irrational, vor Erwin Angst zu haben, auch wenn Vorsicht niemals falsch war. Motte schien neuen Mut zu schöpfen und sprach mit dem Kommandanten: „Sie haben Recht, Sir, ich kenne das Leben hier nicht. Zumindest nicht so gut wie alle anderen hier." Sie wartete ab, ob Erwin etwas sagen würde. Als dies nicht geschah, redete sie weiter: „Mein Name ist wirklich Motte Fabri, das stimmt, jedoch ist das auch das einzige, was gestimmt hat. Ich komme... von sehr weit her. Wirklich sehr weit..." Sie dachte nach. „Okay, das klingt jetzt ungefähr genauso bescheuert wie das mit den Zukunftsvisionen, aber ich komme aus einer anderen Welt. Dort gibt es keine Mauern und Riesen, die meisten Probleme, die die Menschheit hat, sind selbstverschuldet. Wo ich wohne, leben die Menschen in Sicherheit, Frieden und Freiheit. Irgendwann mal... Bin ich schlafen gegangen und hier als... Geistermädchen wieder aufgewacht, eben so, wie Sie mich kennen. Seitdem komme ich immer hierher, wenn ich einschlafe."
Erwin hatte dagesessen und sich alles angehört. Seine Miene hatte sich kein einziges Mal verzogen. Nicht einmal Levi war sich sicher, was in seinem Kopf vorging. Der Kommandant blickte den Kapitän nur an und fragte: „Stimmt das?"
Levi zuckte mit den Schultern: „Soweit ich weiß, ja."
Erwin nickte. „Verstehe." Er wandte sich wieder an Motte, die so aussah, als würde ihr Herz gleich aus dem Mund raushüpfen. „Jedoch beantwortet das nicht meine Frage: Woher wusstest du, dass sich Riesen in den Mauern befinden?"
„Bei uns", erwiderte das Mädchen zögerlich, „ist das alles hier eine Geschichte. Wie ein Buch. Ich kenne einige Leute bereits, ohne sie getroffen zu haben, und weiß von einigen Geschehnissen, die noch nicht passiert sind. Das einzige, das nicht reinpasst, bin ich." Bei ihren Worten blitzten Erwins Augen auf. Levi gefiel das nicht.
„Verstehe", erwiderte der Blonde abermals. Obwohl seine Stimme und Haltung ruhig waren, so hatte sein Blick etwas Hungriges angenommen. Der Kommandant hatte Ideen und es brannte ihn nur so in den Fingern, sie zu planen und umzusetzen. Nein, Levi mochte das ganz und gar nicht. „Noch etwas, was du wissen möchtest?", fragte dieser barsch.
Erwins Augen wanderten zu ihm, obwohl er seine nächste Frage immer noch der Nervensäge stellte: „In deiner Welt, Motte... Wie sieht dein Leben da so aus?"
Sie war verwirrt von der Frage: „Mein Leben? Ähm, na ja... Morgens wache ich auf, frühstücke mit meiner Mutter, gehe in die Schule, obwohl ich meistens den Bus nehme, ab und zu mal das Fahrrad..." Sie legte eine Hand ans Kinn und schaute an die Decke, während sie nachdachte: „Nach der Schule... Essen, Fernsehen, Hausaufgaben, Internet... Manchmal, wenn das Wetter schön ist und ich wirklich Lust habe, fahre ich mal Skateboard, aber meistens bin ich zu faul. Nach dem Abendessen habe ich früher immer noch irgendwas gemacht, aber seit ich nachts hierherkomme, gehe ich immer gleich schlafen."
Erwin antwortete nicht sofort, schien nachzudenken. Es war unmöglich, dass er auch nur die Hälfte von dem verstanden hatte, was Motte soeben gesagt hatte. „Wieso hast du nicht von Anfang an die Wahrheit erzählt?" Durchdringend blickte er sie an. „Vertraust du mir nicht?"
„Ich vertraue Levi", antwortete sie fest und ohne zu zögern.
Spannung lag in der Luft. Deutlicher hätte sie ihr Nein kaum formulieren können. Plötzlich aber lächelte Erwin belustigt. „Verstehe. Danke, Motte, das wäre dann alles. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gerne noch mit Levi alleine sprechen."
Sie nickte und wandte sich dann an den Schwarzhaarigen: „Dann gehe ich für heute. Mein Wecker klingelt eh gleich." Levi nickte. Daraufhin drehte sich das Mädchen um und ging zur Tür. Während dieser Bewegung entmanifestierte sie sich von den Füßen ausgehend aufwärts. Eine sehr theatralische Geste. „Tch!", machte Levi, wofür er eine rausgestreckte Zunge bekam. Dann verschwand Motte.
„Ein sehr aufgewecktes Mädchen", meinte Erwin und starrte noch immer auf den Punkt, an dem er Motte zuletzt gesehen hatte. Levi schnaubte abermals: „Meistens zu sehr, wenn du mich fragst."
„Wie kann es sein, dass nur du sie sehen kannst?"
„Das wissen wir nicht."
Eine Weile schwiegen beide und schauten in unterschiedliche Richtungen. Levi wartete ab, bis sein Vorgesetzter etwas sagte, schließlich war er es, der mit ihm reden wollte. „Kann ich dir vertrauen, Levi?" Der Schwarzhaarige war von dieser Frage dermaßen überrascht, dass er Erwin zunächst nur anblinzelte, ehe er eine Gegenfrage stellte: „Meinst du das ernst?"
Ein Schatten legte sich über das Gesicht der Kommandanten: „Allem Anschein nach habe ich dein Vertrauen verloren." Nun wurde Levi klar, worauf er hinauswollte, und er erklärte sich: „Eigentlich habe ich mir die Geschichte mit dem Geist und den Zukunftsvisionen nur für Eren ausgedacht."
„Warum überhaupt?"
„Aus dem gleichen Grund, aus dem du kaum einem deinen Plan verraten hast, den Weiblichen im Wald zu fangen. Man weiß nie, wem man trauen kann und wem nicht. Ein Mädchen, das mehr oder weniger die Zukunft kennt und über Wissen verfügt, von dem wir nur wagen können zu träumen..."
„Das habe ich verstanden", unterbrach Erwin ihn. „Dennoch kannst du es mir nicht übel nehmen, mich verraten zu fühlen, wenn einer meiner engsten Berater mich angelogen hat."
„Das war ihre Entscheidung", erwiderte Levi wahrheitsgetreu. Er wusste nicht, wozu diese Diskussion führen sollte. Er stand hier vor dem Kommandanten wie ein blutjunger Soldat, der einen Fehler gemacht hatte und sich nun rechtfertigen musste. Das war doch lächerlich. „Erwin, das war bestimmt keine Verschwörung gegen dich oder was auch immer gerade deine Sorgen sind."
„Und dennoch hast du dich dazu entschlossen mir die Wahrheit zu verschweigen." Erwins Blick blieb distanziert, während der Vorwurf deutlich in seiner Stimme mitschwang. „Auch wenn du dich nicht so verhältst, dachte ich, du wüsstest, wie die Hierarchie im Militär ausschaut."
Inzwischen wurde Levi sauer: „Das ist der Punkt. Die Nervensäge hat nichts mit dem Militär zu tun. Das ist eine reine Privatangelegenheit."
„Noch."
Beim Klang dieses kleinen Wortes stellten sich Levis Nackenhaare auf. Genau das war es, was er vermeiden wollte: Erwin sah in Motte eine Möglichkeit. Sie sollte als militärisches Werkzeug dienen. „Das kannst du nicht von ihr verlangen."
„Levi", gab der Kommandant aufgeräumt von sich. Ihm war bewusst gewesen, dass dem Kapitän dieser Gedanke nicht gefallen würde. „Du kannst doch nicht ernsthaft behaupten, dass du es nicht schon selbst in Erwägung gezogen hast. Jemand, der den Ausgang aller Geschehnisse kennt, ist für uns von unschätzbarem Wert. Das könnte nicht nur die Rettung der Aufklärungslegion bedeuten, sondern den Sieg der Menschheit." Erwins Augen blitzten wieder so hungrig auf. Die Vorstellung schien ihn hellauf zu begeistern, gerade zu euphorisieren. „Wir wären dem Feind, ob Titan oder nicht, stets einen Schritt voraus. Wir könnten dem entgegenkommen, Alternativen planen..."
„So einfach geht das nicht", fuhr Levi dazwischen. „Die Geschichte ist in ihrer Welt noch nicht abgeschlossen. Die Nervensäge weiß nicht sehr viel über zukünftige Ereignisse. Außerdem könnte es sein, dass sich die Zukunft so weit abändert, dass sie nichts mehr vorausdeuten kann, wenn sie zu sehr eingreift. Glaub mir, Erwin, diese Diskussion führen wir schon seit über einen Monat."
„Aber versteht sie denn nicht, was für uns auf dem Spiel steht?" Der Kommandant blieb zwar ruhig, doch Levi sah, dass er nicht mehr zu bremsen war. „Sie könnte uns die fehlenden Informationen liefern, die wir benötigen. Nicht nur das: Ein unsichtbares Mädchen! Der Feind würde sie niemals kommen sehen."
„Sie ist keine Soldatin!" Levi ließ sich nicht beirren. Natürlich verstand er die Beweggründe des Kommandanten, er selbst hatte sie der Nervensäge mehrmals vorgeführt, doch inzwischen war ihm auch klar, warum Motte nicht sofort alles ausspuckte. Tatsächlich stand hiermit die Menschheit auf dem Spiel. Des Weiteren wusste Levi, dass der letzte Kommentar darauf bezogen war, Motte im Kampf einzusetzen. Dort hörte es auf für den Kapitän. Sie konnte sich nicht verteidigen, geschweige denn kämpfen. Physisch war die Nervensäge vielleicht auf der Höhe derer, die während der Ausbildung innerhalb der ersten Woche ausgemustert wurden.
„Aber sie wäre es gerne", konterte Erwin. So einfach ließ sich der Kapitän nicht umstimmen: „Du meinst ihr Möchtegern-Soldatenverhalten? Das ist ein Spiel für sie, Erwin. Sie macht das zum Spaß. Das kannst du in keiner Weise ernst nehmen. Sie würde keine zwei Tage als Soldatin überleben."
„Dafür hat sie doch dich."
„Ich kann nicht die ganze Zeit auf noch eine Nervensäge aufpassen. Ich habe schon mit Eren alle Hände voll zu tun."
„Das machst du doch sowieso schon den letzten Monat über." Auch Erwin wollte nicht nachgeben. „Auf sie aufpassen, meine ich."
Levi erwiderte erst einmal nichts. Diese Diskussion würde zu nichts führen. Nicht, wenn der Kommandant nicht einsah, wie irrational sein Gedankengang momentan war. „Was ist los mit dir? Ich verstehe, dass du alles für das Wohl der Menschheit riskieren würdest. Aber seit wann würdest du Menschen dazu zwingen? Sie war auf der letzten Expedition dabei, sie will so schnell keine Soldatin werden. Nicht nur deswegen, sie weiß, dass sie das einfach nicht kann. Wie du bereits erkannt hast, weiß sie nicht, wie es ist in einem Käfig aufzuwachsen. Noch weniger verspürt sie denn Drang auszubrechen. Du kannst nicht erwarten, dass sie Verantwortung für andere Menschenleben übernimmt."
Mit einem Mal veränderte sich Erwins Ausdruck. Das Hungrige schwand, Erkenntnis blieb zurück. „Ja... Ja, natürlich. Du hast Recht. Verzeih, das habe ich nicht bedacht." Abermals wurde es still. Levi war sich sicher, dass dieses Thema nicht abgeschlossen war. Wie er den Kommandanten kannte, würde er es bei Motte selbst versuchen; würde versuchen, ihr einzureden, dass es nicht nur das Beste für sie, sondern für die ganze Menschheit wäre, sich aktiv an militärischen Plänen zu beteiligen.
Levi durchbrach die Stille und versuchte so Erwin von seinen Gedanken abzulenken: „Wem wirst du von ihr erzählen? Hanji hatte ja schon das Vergnügen."
„Sie wird noch die komplette Wahrheit erfahren", meinte Erwin. „Mike auch. Die beiden und du seid die Menschen, denen ich am meisten vertraue."
Leise schnaubte Levi verärgert. „Sie sollen ja nicht plaudern. Wer weiß, was für Typen an ihr interessiert sind..."
„So?", erwiderte Erwin belustigt. „Zum Beispiel?"
„Die Militärpolizei. Du hast doch gesehen, wie sie reagiert haben, als sie erfahren haben, dass Eren sich in einen Riesen verwandeln kann."
Das amüsierte Lächeln verschwand nicht vom Gesicht des Kommandanten: „Ziemlich genauso wie du." Man könnte schon meinen, Levi begegnete dieser Bemerkung mit empörtem Blick. „Nun ja", setzte Erwin fort, „beide habt ihr eine Bedrohung für die Menschheit gesehen und beide wolltet ihr sie einfach eliminieren."
„Die Nervensäge ist aber keine Bedrohung", widersprach Levi säuerlich. „Allerhöchstens für mein Gemüt. Die Militärpolizei aber wird eine solche in ihr sehen. Die finden alles, was nur irgendwie unbekannt ist, gefährlich."
„Ich verstehe." Levi konnte an Erwins Blick deutlich erkennen, dass er sich mit diesen Worten auf mehr bezog als das, was der Kontext hergab. Dieses Lächeln wollte nicht verschwinden und aus irgendeinem Grund reizte das den Schwarzhaarigen. „Was ist jetzt?", hakte er ungeduldig nach. „Wirst du klarstellen, dass die beiden nichts weitererzählen?"
„Ich werde ihnen sagen, dass es dir wichtig ist, Stillschweigen zu bewahren."
Dieses grässliche Grinsen!
Levi wimmelte ab: „Wenn du meinst."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top