Der Wald der Riesigen Bäume

Kapitel 56 – Der Wald der Riesigen Bäume


Motte weinte erneut auf Sashas Beerdigung. Zusammen mit ihren Freunden stand sie direkt vor dem Grabstein, einer von vielen, alle feinsäuberlich angeordnet, und verabschiedeten die mutige Soldatin. Levi war bei Hanji, konnte nichts weiter tun als die Rücken der jungen Soldaten betrachten, die vor Schluchzen und Tränen zitterten. Besonders hart war es für Nicolo, der anscheinend Gefühle für Sasha entwickelt hatte. Er brach vor ihrem Grab zusammen, weinte unerbittlich und verfluchte den Krieg.

Später als Levi sich mit Hanji auf dem Rückweg zum Hauptquartier befand, begleitete Motte sie schwebend. Keiner der drei sprach ein Wort. Irgendwann jedoch zischte das Mädchen etwas so leise, dass er sich nicht sicher war, ob sie es absichtlich ausgesprochen hatte: „Ich hab keine Lust mehr."

Auf einmal musste er an Erens Worte denken, die er im Luftschiff zum Geistermädchen gesagt hatte. Dass sie vielleicht besser nach Hause gehen solle. Dem Jungen wurde er dafür jetzt noch gerne eine verpassen.

Aber was war, wenn das ihr Wunsch war? Zu gehen und nicht mehr wieder zu kommen?

Er war drauf und dran verärgert mit der Zunge zu schnalzen und konnte sich gerade noch so beherrschen. Eigentlich sollte er sie darauf ansprechen, aber etwas hinderte ihn daran. Mit Sicherheit war es Hanji, die direkt neben ihm lief.

Ganz bestimmt.


Obwohl es beinahe Mittag war, hüllte die Dunkelheit sie ein wie eine Neumondnacht. Baumstämme so dick, dass man mindestens ein halbes Dutzend Mann brauchte, um sie zu umfassen, umringten ihr Lager und wurden vom flackernden Licht mehrerer Öllampen erleuchtet. Die Baumkronen des Waldes waren so dicht, dass sie kein Sonnenlicht zum Boden ließen.

Levi hasste diesen Ort. Als er zum ersten Mal hier gewesen war, hatte er fast seine gesamte Einheit verloren. Es hatte damals zum ersten großen Streit zwischen ihm und der Nervensäge geführt. Nun, vier Jahre später, befand er sich wieder in diesem Wald und auch jetzt war es gewiss kein Freizeitaufenthalt. Ihm sowie dreißig weiteren Soldaten der Aufklärungslegion war die Aufgabe zuteilgeworden, Zeke Jäger hier zu bewachen, fest- und vor allem von seinem Bruder fernzuhalten. Solange, bis anderweitige Befehle vom Hauptquartier kamen.

Prinzipiell eine sehr ereignislose Angelegenheit, doch Levi war zufrieden damit, den Affen im Auge behalten zu können. Außerdem war laut den Berichten ihrer Informanten derzeit die Hölle los im Hauptquartier: Irgendwie war das Wissen über Erens Gefangennahme, nachdem er unter dem Einsatz vieler Leben eldianischer Soldaten aus Marley zurückgeholt worden war, zu den Zivilisten durchgesickert, die damit überhaupt nicht einverstanden schienen. Levi war froh, sich nicht damit auseinandersetzen zu müssen, da spielte er deutlich lieber Babysitter für diese Bartfratze. Auch wenn das bedeutete, dass ein Wettkampf im Kirschkernweitspucken unter den Soldaten das spannendste Ereignis der letzten Tage war. Die Nervensäge hatte erst in ihrer Geisterform versucht alle zu verwirren, indem sie die Kerne ständig verschoben hatte, und dann, als sie erwischt worden war, teilgenommen und jämmerlich versagt.

So sehr es Levi genoss, einmal fernab des Hauptgeschehens zu sein, er glaubte, dass Motte etwas mehr Trubel brauchte. Zwar lauschte sie den wenigen Gesprächen zwischen Levi und Zeke über dessen Rückenmarksflüssigkeit und seine Funktion, auf Kommando Menschen in Titanen zu verwandeln, sie schloss sich dem gemeinsamen Zeitvertreib der anderen Soldaten an, sei es ein Kartenspiel, eine Kostprobe vom angeblichen exquisiten Wein aus Marley oder einfach eine Unterhaltung, sie trainierte ab und zu mit Levi oder nur für sich. Aber im Endeffekt blieb ihnen allen am Ende des Tages viele Stunden des Abwartens und nichts Tuns.

Nicht selten fanden er und Motte sich auf einem der dicken Äste wieder und saßen einfach nur beisammen. Unweigerlich musste er an ganz früher zu denken, als das Mädchen jede Gelegenheit genutzt hatte, in denen sie allein waren, um auf ihn ein Ohr abzukauen. Natürlich hatten sie die Jahre reifer und somit ruhiger werden lassen, aber seit sie von Marley zurückgekehrt waren, sprach sie außergewöhnlich wenig und hing stattdessen ihren Gedanken nach. Oft hatte er die Nervensäge außer sich erlebt; als die Wahrheit über ihre Insel ans Licht gekommen war, zum Beispiel, oder als ihr verdammter Ex-Freund mit ihr Schluss gemacht hatte. Jetzt aber war anders. Er hatte Motte er noch nie so lustlos erlebt. Man konnte an zwei Händen abzählen, wie oft sie in den letzten Tagen ein Gespräch initiiert hatte. Es führte dazu, dass er nicht mit Sicherheit sagen konnte, was in ihr vorging und das war wirklich ein unbekanntes Gefühl.

Ihm gefiel es nicht. „Vermisst du die anderen?", fragte er deswegen eines Tages geradeheraus. „Denn es wäre absolut kein Problem, wenn du für eine Weile ins Hauptquartier gehen möchtest."

Sie zog ihre Augenbrauen hoch und schien verwirrt. „Was soll ich denn da?", entgegnete sie. „Da würde ich nur genauso nutzlos rumlungern wie hier."

Levi ging nicht auf ihre Frage ein und ließ noch einige Momente verstreichen, ehe er erneut sprach: „Vielleicht hättest du noch etwas länger bei ihnen bleiben sollen. Nach der Beerdigung, meine ich. Immerhin..." Wieder wusste er nicht, wie er seine Gedanken formulieren sollte. „... seid ihr im selben Alter. Und befreundet."

Motte wandte den Blick von ihm ab, um ihn auf das Lagerfeuer inmitten der Zelte zu lenken, meterweit unter ihnen. Dabei zog sie ihre Beine an und umschlang sie mit den Armen. „Wie gesagt: Was soll ich denn da?", wiederholte sie, brachte dieses Mal aber nur ein Murmeln heraus. War das Niedergeschlagenheit?

„Bei dem dabei sein, was gerade passiert", antwortete er direkt. „Überlegen, wie als nächstes vorgegangen werden soll. Entscheiden, wem man trauen kann und wem nicht." Unbeabsichtigt schenkte er Zeke, der gerade ein Buch las und aus dieser Höhe nicht größer als Levis Daumen war, einen finsteren Blick. „Bei deinen Freunden sein. Etwas zu tun haben."

Daraufhin schüttelte sie den Kopf. „Gegen etwas mehr Action hätte ich generell nichts, das gebe ich zu. Aber dieses letzte Jahr in Marley war ganz schön anstrengend. Ich hatte ganz vergessen, wie es sich anfühlt, mit meinem Erscheinen nicht aufzufallen. Die ganze Zeit musste ich darauf achten, dass ich mich nicht spontan manifestiere oder auflöse. Hier kann ich das machen, wie ich will. Das tut zur Abwechslung mal richtig gut."

Und doch blieb sie derzeit beinahe ausschließlich entmanifestiert. Es war fast wie ganz am Anfang, als sie neu in dieser Welt aufgetaucht war. Levi vermutete, dass sie nicht gesehen werden und ihre Ruhe haben wollte. Noch ein Zeichen dafür, dass es ihr nicht gut ging.

„Außerdem", setzte sie unaufgefordert fort, „kann ich auf das, was gerade passiert..." Sie benutzte dieselben Worte wie er vorhin. „...verzichten. Sasha... Ich vermisse sie, sehr. Jetzt im Hauptquartier zu sein, würde wahrscheinlich ablenken. Aber mit was?" Ihr Blick verfinsterte sich auf einmal. „Mit Gesprächen, in denen sich darüber geärgert wird, dass Historia schwanger geworden ist, weil sie so den Urtitanen nicht übernehmen kann? In denen überlegt wird, ob und wie Eren zusätzlich bestraft werden soll, bis Historia entbunden hat? Oder dann doch lieber mit den Aufrüstungsplänen gegen Marley? Denn bei dem Desaster, was Eren dort veranstaltet hat, ist das nur noch eine Frage der Zeit, bis die hier auftauchen. Und bei all dem ist es vollkommen egal, wer gestorben ist und wer noch sterben wird." Schnell wischte sie sich mit dem Ärmel über ihre Augen, nur um dann ihren Kopf auf den aufgestellten Knien abzulegen. „Also, nein danke, ich bleibe hier, auch wenn ich seine hässliche Fresse jeden Tag sehen muss." Mit einer abfälligen Kopfbewegung wies sie auf Zeke.

Levi musste zugeben, dass er nicht mit dieser Schimpftriade gerechnet hatte, als er dieses Gespräch begonnen hatte, doch gleichzeitig erleichterte es ihn. Er verstand jetzt besser, wie es ihr ging. Und er stellte mit Überraschung fest, dass seine und ihre Gedanken sich ziemlich ähnelten. „So war es schon immer", erwiderte er grimmig. „Wie kann ich meinen eigenen Arsch retten? Das ist die einzige Frage, die die Menschen, die an der Spitze sind, beschäftigt. Den meisten zumindest. Du hast recht. Was Eren in Liberio veranstaltet hat, war ein absolutes Desaster. Er hat Marley und seinen Alliierten eigenständig den Krieg erklärt. Und dieser Krieg wird wahrscheinlich hier gefochten. Deswegen will die Militärpolizei einen Urtitanen auf ihrer Seite." Kurz dachte er an den einst heißblütigen Jungen, dessen Augen nun so stumpf und leblos schienen. „Einen, dem sie trauen können. Ob das Eren ist... Das wollen sie noch herausfinden."

Für ein paar Momente herrschte Stille zwischen ihnen. Auch wenn sich das Mädchen kein Stück rührte, bekam Levi den Eindruck als würde die Anspannung in ihren Augenbrauen verschwinden und stattdessen ein Trauer zurücklassen.

„Machst du dir Sorgen um ihn?", fragte er vorsichtig.

Es verstrich so viel Zeit, dass er glaubte, sie würde nicht mehr antworten.

„Meinetwegen", sprach sie letztendlich doch, „kann er in der Hölle schmoren." Ihre Stimme war so unglaublich zaghaft, Levi tat sich schwer zu glauben, dass sie ihre Worte ernst meinte.

Noch mehr schweigende Minuten vergingen.

„Weißt du", setzte er schließlich erneut an, „tatsächlich kann dich absolut niemand daran hindern, mit ihm zu reden, falls du das möchtest."

Sie zögerte. „Ich würde die Chance wahrscheinlich nutzen, um ihm lieber nochmal eine verpassen." Sie schenkte sie ihm ein flüchtiges Lächeln, ehe sie ihren Blick wieder zu den Zelten unter ihnen schweifen ließ.

Er seufzte wieder. Offensichtlich hatte die Nervensäge etwas darin gehört, denn sie blickte ihn verwundert an. „Eigentlich wollte ich es nicht ansprechen, aber es bringt nichts." Es ärgerte ihn, dass ihm das Thema unangenehm war: Auch wenn es sich so anfühlte, als wolle er in privaten Angelegenheiten herumschnüffeln, so war es unerlässlich, falls ihre Zukunft auf dem Spiel stand. „Ich werde das Gefühl nicht los, dass du und Eren etwas wissen, was wir nicht wissen. Als würdet ihr etwas geheim halten."

„Ach ja?" Sie wandte ihren Blick ab, lehnte den Kopf wieder auf die Knie und versuchte nicht einmal, milde überrascht zu wirken.

Es reizte ihn. „Motte", setzte er an und bemühte sich, seine Stimme ruhig zu halten. „Wenn du irgendetwas über Erens Pläne weißt oder mit wem er sich getroffen hat..."

„Tu ich nicht", unterbrach sie ihn unverblümt. „Er hat mir nichts von seinen Plänen erzählt."

Die Wortwahl machte ihn stutzig. „Habt ihr denn geredet?"

Lustlos zuckte sie mit einer Schulter. „Irgendwie schon, schätze ich."

„Wann?"

„Das ist schon länger her", erklärte sie ihm monoton, als würde sie das Gespräch langweilen. „In Marley, noch bevor er verschwunden ist."

Vorhin hatte sie noch ohne Hemmungen ihren Gedanken freien Lauf gelassen und nun war sie wieder so apathisch wie die letzten Tage schon. Ihre Passivität irritierte Levi, sie reizte ihn fast schon, denn bei allem, was gerade um sie herum geschah, machte er sich auch noch Sorgen um sie. „Worüber habt ihr geredet?"

Abermals zuckte sie halbherzig die Schultern. „Allerlei. Alles und nichts." Er öffnete den Mund, um weiter nachzuhaken, da setzte sie noch hinzu: „Über nichts, was relevant wäre."

Er schloss seinen Mund wieder und ließ ihn zu. Sie wollte nicht darüber reden und sie würde es auch nicht tun, egal, wie sehr er nachbohrte. Er hoffte nur, dass es stimmte, wenn sie behauptete, es sei nicht wichtig gewesen.

„Sag mal, Levi", murmelte sie auf einmal und zwar so leise, dass er sich nicht sicher wäre, ob sie überhaupt mit ihm sprach, wenn sie nicht seinen Namen gesagt hätte. „Wenn man besonders ist, weil man in diese Welt geboren wurde..." Ihre Augen waren glasig, ihr Blick lag weit in der Ferne. „... was ist dann mit mir, die aus einer anderen Welt kommt?"

Augenblicklich verzog sich sein Gesicht. Diese Worte kamen ihm bekannt vor und er konnte plötzlich erahnen, worüber Motte mit diesem Gör gesprochen hatte. Levi hatte angenommen, dass sie diese Gedanken vor vier Jahren abgelegt hatte. „Was soll dieser Bullshit?", spuckte er so verächtlich, dass sie ihn überrascht anglotzte. „Ich kann's allmählich nicht mehr hören. Immer dieses Gelaber über jemand Besonderes sein und in diese Welt geboren werden...! Ich wurde in diese Welt geboren. Und mein Leben war bisher größtenteils ziemlich beschissen." Ein abfälliges Schnauben entwich ihm und er verschränkte die Arme vor der Brust. „Jemand Besonderes sein... Anscheinend bin ich das auch, wenn man sich diese Worte zu Herzen nimmt, aber wenn das dazugehört – ein außergewöhnlich beschissenes Leben – dann verzichte ich!"

Der Nervensäge entwich ein seltsames Geräusch, fast wie ein Glucksen und er stellte fest, dass ein belustigtes Lächeln ihre Lippen umspielte. „Ich hätte nicht gedacht, dass dich dieses Thema so aufregt."

Gereizt – oder doch peinlich berührt? – schnalzte er mit der Zunge. „Ich versteh Quintessenz, das schon. Aber dieses ganze Gehabe... Das ist doch lächerlich!" Ein weiteres abfälliges Geräusch verließ seinen Rachen.

Dieses Mal kicherte Motte sogar und Levi hatte auf einmal das Gefühl, etwas erreicht zu haben. „Das erinnert mich an etwas, was Hanji mir mal gesagt hat. Dass du vielleicht nur ein ganz normaler Typ wärst, wenn du in meiner Welt leben würdest."

Was für ein Gespräch hatten die beiden geführt, dass so eine Aussage dabei herauskam? Abermals schnalzte er mit der Zunge und wandte seinen Blick ab. „Das ist vermutlich besser, als diesen ganzen Scheiß hier mitzumachen", brummte er leise.

„Wie sähe wohl dein Alltag aus, wenn du in meiner Welt wärst?", überlegte sie laut und auch wenn es ihm aus irgendeinem Grund unangenehm war, ließ er sie. „Was würdest du da machen? Vielleicht einen Teeladen führen?"

Oh, das war kein schlechter Gedanke.

„Staubsaugen", murmelte er noch leiser als vorhin, kaum mehr als ein Ausatmen.

Sie schien ihn trotzdem gehört zu haben, denn sie brach plötzlich in schallendem Gelächter aus und er spürte, wie seine Mundwinkel nach oben zuckten.

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