Der neue Feind

Intermedium – Tag 55


Motte Fabri wachte mit einem heftigen Zucken auf. Ihr Herz klopfte dreimal so schnell wie sonst und sie schnappte panisch nach Luft. Sie war eben noch in Trost gewesen. Und jetzt? Wo war sie? Um sie herum herrschte völlige Dunkelheit. Vor ihren Augen sah sie noch deutlich den Mann, der seine Waffen auf sie gerichtet hatte und schoss.

Ihr Atem ging unregelmäßig, sie musste ihn unter Kontrolle bringen. Während sie sich zwang gleichmäßig tief ein- und wieder auszuatmen, beruhigte sich ihr Herz etwas. Sie nahm immer mehr von ihrer Umgebung wahr: Ihr Rücken lag weich und ihre Augen konnten allmählich die schemenhaften Umrisse ihres Zimmers ausmachen. Sie war in ihrem Bett.

Sie war daheim.

In Sicherheit.

Hier würde ihr nichts passieren. Aber Levi war noch in Gefahr. Sie musste zurück. Sie würde bis dreißig zählen und wieder zurückkehren. Mit klarerem Kopf ließ sich leichter denken. Andernfalls würde sie wieder so etwas Bescheuertes machen, wie sich zwischen eine Kugel und Levi schmeißen, der eindeutig bessere Reflexe und Überlebenskünste als sie besaß.

Der Schock saß ihr noch in den Knochen, aber während sie hier lag, starben die anderen womöglich.

„Scheiße", keuchte sie erschöpft. Sie hob ihre Arme, um sich übers verschwitzte Gesicht zu wischen, und brüllte auf vor Schmerz. Jetzt, da sie sich etwas beruhigt hatte, spürte sie den Schmerz an ihrer rechten Schulter. Es brannte regelrecht. Reflexartig tastete sie mit ihrer linken Hand nach der schmerzenden Stelle und verstärkte das Gefühl dabei nur. Ihre Finger wurden nass. Abermals schrie sie kurz auf, dieses Mal jedoch vielmehr aus Verwirrung. Mehr schlecht als recht richtete sie sich auf, ohne ihren rechten Arm benutzen zu müssen, und griff mit den glitschigen Fingern nach ihrer Nachttischlampe.

Sobald sie das Licht anschaltete, bereute sie es. Nicht nur, dass ihr Kater, der bis vor wenigen Momenten am Fußende ihres Bettes genächtigt hatte, nun protestierend miaute... Sie sah rotes Nass an ihrem Oberarm. Bettlaken, Kopfkissen und ihr T-Shirt waren ruiniert. Motte schickte den dritten Entsetzensschrei in die Nacht. Er spitzte sich zu, als sie die Wunde an ihrer Schulter erblickte. Die Haut war aufgerissen und sie sah darunter rotes Fleisch. Ihr rotes Fleisch. Es war auch ihr Blut, in dem sie da saß, das weiter herauslief und durch ihren Positionswechsel nun nicht mehr direkt in ihr Bett, sondern ihren Arm hinunterrann.

Die Panik, die Motte vorhin erfolgreich unterdrücken hatte können, stieg wieder in ihr auf. Sie wusste nicht mehr, wie man blinzelte oder atmete oder aufhörte, zu schreien. Der Anblick der Wunde verstärkte den Schmerz ums Zehnfache.

Motte?!" Ein lautes Klopfen an ihrer Tür holte sie zurück. Entsetzt schlug sie ihre gesunde, blutverschmierte Hand vor ihren Mund. Sie konnte ihre Augen nicht von ihrer Schulter lösen. Am liebsten würde sie weiterschreien, aber sie durfte nicht. Tränen liefen ihre Wangen hinunter, weniger aus Schmerz, mehr aus Schock. Sie war angeschossen worden. Sie war verdammt nochmal angeschossen worden. In ihrem Bett. Von einer Kugel, die in dieser Welt nicht einmal existierte.

„Motte! Was zur Hölle ist passiert?!", hörte sie ihre Mutter rufen. Sie merkte, wie sie offensichtlich an der verschlossenen Tür rüttelte. Motte hatte auf ein Schloss bestanden, nachdem sie in letzter Zeit immer wieder aus ihrem heiß geliebten Schlaf gerissen worden war. Ob ihre Mutter diese Entscheidung jetzt bereute? „Was ist los?"

Motte nahm die Hand vom Mund und kniff die Augen zusammen. Die Verletzung anzustarren, beruhigte sie keineswegs. Sie schmeckte Blut und ihr wurde schlecht. „N...Nichts...", erwiderte sie mit schwacher Stimme. Ihre Mutter durfte auf keinen Fall sehen, was los war. Motte musste zu Levi zurück, aber wenn ihre Mum das hier sah... „Ich hab nur schlecht geträumt..." Ihre Kehle fühlte sich staubtrocken an, doch sie konnte nicht bessere Miene zu bösem Spiel tun. Hoffentlich würde ihre Mum denken, dass sie einfach verschlafen war. „Ich... Mir geht's gut. Ich bin müde, ich schlaf jetzt weiter..."

Auf der anderen Seite der Tür schwieg ihre Mutter kurz. „Schatz, was ist passiert?", fragte sie nochmal mit viel sanfterer Stimme.

Mehr Tränen konnten durch Mottes zusammengepressten Augen entfliehen. Seit zwei Monaten schlafe ich nicht mehr richtig. Ich gehe in eine andere Welt. Dort habe ich Freunde gefunden, aber dort sterben auch viele. Es ist eigentlich ziemlich gefährlich... Jetzt bin ich angeschossen worden, Mum. Ich blute. Es tut weh. Ich muss in ein Krankenhaus... Ich hab Angst...!

Sie öffnete ihre Augen und blickte direkt in die ihres grauen Katers. Vorwurfsvoll starrte er sie an. Motte wusste, wo ihre Prioritäten lagen. Sie musste dringend zu Levi zurück. „Gute Nacht, Mum!", sagte sie deshalb nur mit erhobener Stimme. Zumindest versuchte sie es. Alles, was zu hören war, war ein Krächzen.



Kapitel 35 – Der neue Feind


Noch während Levi den Namen seines alten Lehrers brüllte, holte er aus und riss seinen Arm anschließend kraftvoll nach vorne. Im richtigen Moment löste er die Klinge vom Griff, die daraufhin auf Kennys Gesicht zu wirbelte. Der Mann schlug sie noch in der Luft mit einem Revolver beiseite, den er sogleich auf Levi richtete.

Er griff seinen Umhang, bauschte ihn vor sich auf und duckte sich noch in der gleichen Bewegung. Der dunkle Stoff wurde zerfetzt und ein großes Stück Stein wurde aus dem Kamin geschossen, aber Levi blieb unversehrt. Er nahm sich eine Sekunde, um ein letztes Mal Nifas leblosen Körper zu betrachten, sich bei ihr zu entschuldigen, dann sprintete er das Dach hinunter, weg von Kenny.

Hinter ihm schlugen Kugeln ein und ließen Dachziegel zersprengen. Sein alter Lehrer zielte ziemlich gut. Levis Unversehrtheit war allein durch seine Schnelligkeit gewährleistet. Das letzte Stück rutschte er hinunter. Als er schließlich die Dachkante erreicht hatte und für einen Moment fiel, beendete er das kurzweilige Gefühl der Schwerelosigkeit, indem er seine 3D-Ausrüstung benutzte. Gekonnt schwang er sich durch die Häuserreihen von Trost und versuchte, so viel Abstand wie möglich zwischen sich und Kenny zu gewinnen.

Was zur Hölle hat der alte Sack mit der Militärpolizei zu schaffen? Von allen Szenarien, in denen er seinem alten Lehrer wiederbegegnete, war diese hier für ihn definitiv einer der absurdesten. Doch er schob diese Frage beiseite. Sie war momentan nebensächlich.

Jetzt musste er überleben. Seine Instinkte waren in höchster Alarmbereitschaft, seine Gedanken klar: Am wichtigsten war es, zu Eren und Historia zu gelangen. Vermutlich hatten die Feinde schon längst ihre Kutsche lokalisieren können. Alles andere musste er zurückstellen, seine Wut über sich selbst oder seine Sorge um Motte und die anderen zum Beispiel.

Er konnte schnell zur Kutsche aufschließen. Die Leinen, die eigentlich verdecken sollten, was sich auf dem Wagen befand, waren weggerissen worden. Historia und Eren waren bewusstlos und Keiji schon längst nicht mehr der Kutscher. Levi hatte seine Leiche vorhin auf der Straße liegen sehen. Stattdessen hatte eine Frau die Zügel in der Hand, die Levi nicht kannte. Auch sie trug diese sonderbare Art der 3D-Ausrüstung. Eine von Kennys Leuten. Sie hatte anscheinend das Surren von Levis Ausrüstung gehört, denn sie drehte sich zu ihm um. Daraufhin spornte sie die Pferde an, schneller zu werden.

Levi folgte der Kutsche, sauste in der Luft um eine Ecke und blickte in drei feindliche Gesichter, die ihn bereits in der Luft schwingend erwarteten. Kurz weitete er seine Augen vor Überraschung. Sie waren verdammt gut koordiniert. Er reagierte blitzschnell, indem er die Haken nicht wie geplant in weiter vorne liegende Häuser schoss, sondern in eine Wand hinter sich.

Die Seile zogen ihn im letzten Moment zurück, denn alle drei ballerten auf die Stelle, an der er kurz zuvor noch gewesen war. Er würde an den dreien nicht so einfach vorbeikommen, also ging er in die Defensive.

Scheiße! Sie haben jeden unserer Schritte vorhergesehen!, fluchte er innerlich. Gezielt sauste er in eine Seitengasse und blieb so nah wie möglich am Boden. Hinter ihm wurde in Stein geschossen. Er tauchte unter eine Kutsche durch, wechselte nochmals die Gasse... und trotzdem sah er aus dem Augenwinkel drei Gestalten, die ihm dicht auf den Fersen waren.

Kurz ließ er sich über den Boden rollen und schoss dann mit seiner 3D-Ausrüstung in eine komplett neue Richtung. Er entrann den Kugeln jedes Mal nur haarscharf. Vor sich sah er eine Kutsche mit einer Kiste. Er sauste darauf zu, nutzte sie als Boden für ein Rad und schlug sie schließlich mit dem restlichen Schwung in die Richtung seiner Verfolger.

Zumindest ein paar Meter konnte er dadurch für sich gewinnen.

Er bog um noch eine Ecke und sah einen menschlichen Schatten mit Hut auf dem Boden. Dem Winkel des Sonnenlichts nach zu urteilen, war Kenny direkt hinter ihm. Überrascht wich Levi seinen Schüssen aus, platzierte seine Haken neu und machte einen weiteren plötzlichen Richtungswechsel.

Kenny...! Levi fühlte sich an seine Vergangenheit erinnert. An seine Kindheit. Es waren keine schönen Erinnerungen. Auch die Flucht vor Menschen – nicht vor Riesen – mithilfe des 3D-Manövers in einer belebten Stadt versetzte ihn in alte Zeiten.

Seine drei Verfolger hatten ihn wieder eingeholt. Sobald sie begannen zu schießen, stieß Levi sich von einer Hauswand zur nächsten ab und schwang so im Zickzack durch die Gasse. Weiter vorne wurde etwas gebaut. Er landete auf einem langen Brett und rutschte darauf herunter. Einige der Kugeln ließen das Holz vor seinen Füßen zersplittern und in die Luft schießen. Kurz verspürte er einen scharfen Schmerz knapp unterhalb seines Haaransatzes, woraufhin Blut in sein Auge floss. Einer der größeren Splitter hatte ihn wohl getroffen.

Unbeirrt machte Levi weiter. Wie ein wütender Akrobat schoss er die Gasse entlang und unter vor der Sonne geschützten Marktständen hindurch. Für die Schüsse bewegte er sich einfach zu schnell.

Letztendlich fand ein Haken sein Ziel in einem Haus am Ende der Gasse. Das Seil zog Levi hinterher. Kontrolliert stieß er mit den Füßen voran durch die hölzerne Schwingtür einer Bar, auf dessen Theke er landete. Trotz seiner wilden Flucht ging sein Atem gleichmäßig.

Er hörte, wie die verdutzten Gäste ihn als „Levi von der Aufklärungslegion" erkannten und der Besitzer hinter der Bar ihn stammelnd willkommen hieß. Levi ignorierte es, er befand sich immer noch in höchster Alarmbereitschaft. Sein grimmiger Blick wandte sich der Schwingtür zu. Noch kamen seine Verfolger nicht hinterhergebrettert.

Höchst unzufrieden wischte er sich das frische Blut aus dem Auge. Scheiße...! Wenn das so weitergeht, verliere ich mein Team und Eren und Historia! Und... Levi wusste nicht, wie er den Gedanken beenden sollte. Er hatte keine Ahnung, wo Motte war und ob es ihr gut ging.

„Wenn das mal nicht die verfluchteste Pest ist!", hörte er Kenny draußen rufen. Hatte er etwa jetzt schon aufgeholt? „Ich rieche eine dreckige Ratte in dieser Kneipe. Komm raus, du Nagetier!" Levi sprang schnell hinter die Bar und duckte sich. Er hörte, wie Kenny gemächlichen Schrittes auf das Etablissement zuging.

Motte tauchte vor ihm auf.

Levi weitete seine Augen nur überrascht, aber eigentlich fiel ihm ein riesiger Stein vom Herzen. Himmel, war er froh!

„Hey", grüßte sie ihn und lächelte schwach. Er stellte fest, dass sie sehr blass war und ihren rechten Arm seltsam angewinkelt hatte. Als wolle sie ihn schonen. Nicht lange, und er sah das Blut, das unter ihrem Ärmel heraussickerte und über ihre Hand zu den Fingerspitzen lief.

Sofort zogen sich seine Augenbrauen zusammen. Sie bemerkte es und winkte ab. „Ist nicht so schlimm... Also, doch, es tut saumäßig weh, aber es ist, glaub ich, nur ein Streifschuss... Ähm, ich hab mich wieder schlafen gelegt, aber meine Mum hat mitbekommen, dass etwas nicht stimmt und ich weiß nicht, ob sie locker lässt... Aber was geht hier gerade ab? Wo sind wir hier?"

Levi war klar, dass das Mottes erste Wunde eines Kampfes sein musste. Ihr anderes Leben gab solche Situationen nun einmal nicht her. Daher nahm sie diese Verletzung – ein kleiner Kratzer im Vergleich zu dem, was andere hier erlitten – auch so mit. Jedoch konnte man sich hier, in dieser Welt, erst die Wunden lecken, wenn keine unmittelbare Gefahr mehr drohte. Deshalb legte Levi bloß einen Zeigefinger an die Lippen, um ihr zu sagen, dass sie still sein sollte. Dann deutete er mit dem gleichen Finger auf den Eingang der Kneipe.

Schwere, aber starke Schritte waren zu hören. Einen Moment später sprang Kenny in die Bar und Motte zuckte zusammen. „Hab dich gefunden!", jubelte er. „Das Gesetz ist gekommen, um das Ungeziefer zu vernichten!" Dann stapfte er zweimal auf und rief: „Bang! Bang!"

Er hatte sich in den vielen Jahren kein Stück verändert.

Stille war alles, was er als Antwort erhielt. Barbesitzer sowie Gäste waren zu verschreckt, um zu antworten oder sich überhaupt zu rühren. Levi blieb hinter der Bar versteckt und wartete zunächst ab. „Zur Hölle?! Biste nicht hier?!", brüllte Kenny rhetorisch in den Raum. Ungeduld machte sich in seiner Stimme bemerkbar und ließ seine Worte beinahe schon wie eine Drohung klingen.

Motte schien ihn wiederzuerkennen. „Der Kerl hat mich angeschossen!", stieß sie mit großen Augen empört aus. Levi sah, wie sie unbewusst etwas zurück und niedriger schwebte. „Ist das Kenny?", fragte sie ihn ängstlich.

Er nickte, ohne sie anzuschauen. Dann beantwortete er Kennys Frage: „Ich bin genau hier, Kenny. Lang nicht mehr gesehen. Hätte nie gedacht, dass du noch am Leben bist." Aus dem Augenwinkel sah er etwas schwach glänzen. Es befand sich unter der Bar, neben seinem Kopf. Ein Gewehr. In seinem Gehirn formte sich ein Plan. Er griff nach der Schusswaffe. „Was war mit dem Abschlachten der Militärpolizei?", setzte er im gleichgültigen Plauderton fort. „Jetzt bist du einer von ihnen?"

Motte, die bis jetzt ihre Augen nicht von dem Mann mit Hut gelöst hatte, nahm die Waffe wahr, in dessen Besitz Levi soeben gelangt war. „Was hast du vor?", wollte sie wissen. Ihre Stimme verriet, dass sie Ungutes ahnte. Sie bekam keine Antwort.

„Erwachsene tun viele Dinge die Kinder wie du nicht verstehen", erwiderte Kenny abfällig. „Ah, mein Fehler. Es ist nur so, dass du so mickrig bist, es fällt mir schwer zu glauben, dass du jetzt älter bist." Motte hätte vermutlich in einer weniger bedrohlichen Situation über diese Bemerkung gelacht. Jetzt starrte sie den Mann nur verängstigt an. Das Blut rann weiterhin unter ihrem Ärmel hervor.

„Hab mich darauf gefreut, dich endlich in Aktion zu sehen", gestand Kenny. „Hätte nicht gedacht, dass all die Tricks, die ich dir beigebracht habe, dir auf diese Weise behilflich sein würden. Hab ich dir nie gesagt, was mit einer Ratte passiert, die in die Ecke getrieben wurde?" Levi hörte das Klicken seiner Revolver, als Kenny sie entsicherte. Ihm war inzwischen klar, dass um die Kneipe herum höchstwahrscheinlich weitere Feinde lauerten. Er war umzingelt. „Egal, wohin sie rennen wollen, sie werden von oben gesprengt."

Noch während er gesprochen hatte, war das schabende Geräusch von Holz über Holz an Levis Ohren gedrungen. In der nächsten Sekunde flog ein Stuhl hinter die Bar und krachte in das weitläufige, hohe Regal, in dem die verschiedensten Spirituosen präsentiert wurden.

Das Möbelstück war durch Motte hindurchgepfeffert worden, die deswegen leise aufschrie und heftig zusammenzuckte. Die Gäste murmelten erschrocken, während die Flaschen zerbrachen. Glassplitter und Alkohol wirbelten durch die Luft. Levi rührte sich kein Stück und blieb von Kennys plötzlicher Wurfeinlage unbeeindruckt.

Motte war ein einziges Nervenbündel. Trotz ihrer geisterähnlichen Form, die ihr versicherte, dass ihr nichts geschehen würde, kauerte sie sich unter den zerstörten Flaschen auf dem Boden zusammen, sodass sie Levi gegenübersaß. Sie starrte mit wässrigen Augen auf einen Punkt am Boden vor sich, ihren rechten Arm schonte sie weiterhin und sie wimmerte leise. Levi war zornentbrannt.

„Es muss einen Grund dafür geben, dass du der Aufklärungslegion beigetreten bist", sprach Kenny weiter, als ob er nicht eben fast beinahe alle Spirituosen der Bar zerstört hätte, „und ich glaube ich kenne ihn. Wir hatten keine andere Wahl als in dieser Müllkippe zu überleben." Levis Augenbrauen zogen sich weiter zusammen, während er Kennys Worten lauschte. Sie weckten unschöne Gefühle in ihm. „Jeden Tag mussten wir aufs Äußerste gehen, nur um am Leben zu bleiben", brummte der Ältere. Sogar ihm waren diese Erinnerungen unangenehm. Dann wurde seine Stimme plötzlich sanfter. „Und als wir herausgefunden haben, wie groß die Welt wirklich war... es tat weh wie Sau. Aber etwas hat uns gerettet..."

Levi bemerkte, dass das Wimmern gestoppt hatte. Seine Augen wanderten vom verschütteten Alkohol, der sich langsam auf dem Holzboden ausbreitete, nach oben und trafen auf Mottes. Braun und glänzend, da sie immer noch den Tränen nahe war. Jedoch waren Schmerz und Angst vergessen und Verwirrung und Mitgefühl waren stattdessen in ihren Seelenspiegeln zu sehen. Sie verstand nicht, wovon Kenny da sprach, und ihr ging es physisch sowie psychisch ziemlich beschissen. Wieso blickte sie ihn dann so einfühlsam an? Nun ja, er war hier hinter einer Bar verkrochen, voller Blut und Alkohol und einer schmerzenden Vergangenheit. Wahrscheinlich sah er sehr bemitleidenswert aus. Levi war das zuwider.

Sein Blick wanderte weiter, über Mottes Schulter hinweg. Er sah, dass die unterste Regalreihe der Alkoholflaschen unversehrt geblieben war.

Mehr Schaben war zu hören, Kenny griff noch einen Stuhl. Er setzte seinen kleinen Monolog fort: „Wir haben beide etwas gefunden, was wir tun wollten. So einfach ist das. Wirklich einfach. Aber die Wahrheit ist: Das einzige, was unseren Leben einen Sinn gegeben hat, waren Hobbies."

„Hobbies?", wiederholte Levi verächtlich. „Also ist das Köpfe Wegblasen meiner Leute auch nur eines deiner Hobbies?" Er streckte seinen Arm nach vorne, an Motte vorbei, und drehte eine der Flaschen leicht. In der neu entstandenen Spiegelung sah er, wo Kenny stand und dass er unter einem Arm einen weiteren Stuhl geklemmt hatte. Die andere Hand hielt den Revolver, der auf die Bar gerichtet war. „Jap", antwortete der Ältere ohne Unterfangen. „Um meine großen Ziele zu erreichen, töte ich so viele, wie ich muss. Du bist da nicht anders. Auch du tötest, wenn es dir einen Vorteil bringt."

Levis Augen wanderten wieder zu Motte. Sie sahen sich direkt an. Was für ein temperamentvoller Wirbelsturm nur vor wenigen Wochen in sein Leben geraten und bei ihm geblieben war... Momentan war nichts davon zu sehen. Momentan wirkte Motte so zerbrechlich. „Ist das wahr?", fragte sie mit einer schwachen Stimme voller Unglauben. Plötzlich bekam ein großer Teil seines Zorns ein neues Ziel: Neben Kenny war er auch verdammt wütend auf sich selbst. Er wusste, welches Bild Motte von ihm hatte... In ihm wuchs der seltsame Drang, sich zu entschuldigen.

Als er den Mund öffnete, um ihre Frage zu beantworten, löste er den Augenkontakt nicht: „Ja."

Blitzschnell warf er das Gewehr über seinen Kopf, knallte es somit verkehrt herum auf die Theke und schoss. Er hörte Kennys überraschten Ausruf und Mottes gleichzeitigen Aufschrei. Sofort sprang Levi hinter der Bar hervor und sah nach seinem alten Lehrer. Offensichtlich hatte er getroffen, denn er sah, wie der Alte draußen im staubigen Boden auf dem Rücken landete. Ob er jedoch tot war, bezweifelte Levi. Kenny gehörte zu der zähesten Sorte Mensch. „Danke", bedankte er sich halbherzig beim alten Kneipenbesitzer und gab ihm das Gewehr zurück.

In Eile wandte er sich Motte zu, die langsam höher schwebte und ihren geschockten Blick nicht vom Kneipeneingang lösen konnte, durch den Kenny geflogen war. Sie hielt ihren gesunden Arm an ihre Brust gepresst, als wollte sie sich vor etwas schützen. „Du... hast ihn erschossen", hauchte sie fassungslos.

„Ich glaube nicht, dass er tot ist", warf er seine Bedenken ein und widmete dem Eingang keinen Blick. Er wusste, dass man Motte jetzt mit Vorsicht, Geduld und Taktgefühl begegnen müsste, jedoch waren das alles Qualitäten, von denen Levi nicht viel hielt, geschweige denn besaß. „Bist du in der Verfassung weiterzumachen?"

Motte blinzelte ihn verwirrt an. „Wa...?", begann sie langsam. Levis Zunge wollte ungeduldig schnalzen, doch er beherrschte sich. Mit jedem Augenblick, der verstrich, wurde er unruhiger. Der Feind saß ihnen im Nacken. „Du... hast gerade jemanden angeschossen", wiederholte sie, dieses Mal mit deutlich mehr Kraft. „Ich bin angeschossen worden. Ich weiß nicht, ob ich..."

„Uns bleibt keine Zeit, um nachzudenken oder zu zögern!", unterbrach er sie scharf. Für die Anwesenden hielt er einen sehr seltsamen Monolog, doch er musste sich um Wichtigeres kümmern. „Entweder du kommst mit mir mit und versuchst zu helfen oder du gehst. Ganz oder gar nicht. Anders funktioniert das nicht. Sonst sterben wir."

Das Entsetzen in ihren Augen bestand weiterhin, doch seine Worte kamen bei ihr an. Immer noch leise, aber entschlossener entschied sie: „Ich lass dich nicht allein."

Daraufhin packte er einen Stuhl und warf ihn durch eines der Fenster nach draußen. Augenblicklich folgten Schüsse und die Sitzgelegenheit wurde zerfetzt. Am Rande nahm Levi war, wie Motte nach Luft schnappte. Anhand des Winkels der Schussbahn konnte er abschätzen, wo ungefähr der nächste Angreifer sich befand. Sobald das Schießen pausierte, sprang er durch das kaputte Fenster, seinen Körper hatte er bereits richtig ausgerichtet. Motte folgte ihm schnell.

Ein Mann war auf dem Dach links von ihnen positioniert. Levi fackelte nicht lange und schoss einen Haken ab. Er bohrte sich in den Kopf des Mannes.

„Hä?", machte Motte leise und wurde langsamer.

Den anderen Haken schoss Levi in das gegenüberliegende Haus, wo er sich und die Leiche des Mannes hinziehen ließ. Auch hier waren zwei Gegner auf dem Dach. Sofort ballerten sie auf Levi, der konnte jedoch rechtzeitig die Leiche des Mannes zum Schutz vor sich halten. Während er auf die beiden zu rannte, bohrten sich die Kugeln in totes Fleisch. Dann warf er den Leichnam beiseite und nutzte das 3D-Manöver, um auf sie zuzufliegen. In dem Moment, als er an ihnen vorbeischoss, schwang er seine Klinge und schnitt dabei ihre Hälse auf. Wieder zwei weniger.

Er machte sich auf den Weg zu Eren und Historia.

„Levi...", meinte Motte leise. Er schielte aus dem Augenwinkel zu ihr rüber. Sie flog neben ihm, aber ihr Blick verriet, dass sie ganz woanders war. „Diese Leute da... Die sind tot."

Sein Fokus richtete sich wieder auf den Weg vor sich. Blitzmerker!, schoss es ihn sarkastisch durch den Kopf. Dafür biss er sich anschließend auf die Zunge. Spott war hier fehl am Platz. „Richtig", meinte er energischer als sonst. Adrenalin und Wut ließen sein Innerstes toben. „Sei froh, sonst wären wir es. Oder zumindest ich."

Es war, als hätte sie ihm nicht zugehört. „Du hast sie umgebracht."

„Du hast doch gehört, was ich Mikasa vorhin gesagt habe", erinnerte er sie im Flug knurrend. „Unsere Feinde sind jetzt Menschen. Die wollen uns an den Kragen."

Abermals schien sie ihn zu ignorieren. „Du... hast sie umgebracht...!" Etwas in ihrer Stimme verleitete ihn dazu, sie anzublicken, bevor er antwortete.

Er erschrak.

Noch nie hatte er diesen entfremdenden Blick in ihren sonst so fröhlich schimmernden Augen gesehen. Voll blankem Horror starrte sie ihn an. Sie war wahnsinnig entsetzt. Nicht wegen Kenny oder seiner Leute. Nicht wegen Erens und Historias möglicher Entführung. Sondern seinetwegen. Wegen Levi als Person. Weil er Menschen getötet hatte. Sie hatte es nicht gewusst, nicht mal erahnt. Eben erst hatte sie erfahren, dass Levi ein Mörder war.

Sein Magen sackte ihm in die Kniekehle.

Als er eine weitere Kurve tat und sich vor ihm die Straße offenbarte, in der die entführte Kutsche davonraste, war Motte nicht mehr neben ihm.

Sie war weg. Aufgewacht. Ob aus Zwang oder freiwillig, wusste Levi nicht.

Die Situation erlaubte ihm nicht, weiter darüber nachzudenken. Er musste einen kühlen Kopf bewahren. Die Kutsche hatte inzwischen ein irres Tempo drauf. Beinahe waren sie am Stadtrand angelangt. Eren und Historia waren immer noch bewusstlos.

Ein Schatten fiel über ihn und er blickte über seine Schulter. Noch ein Feind, der schnell aufholte. Er richtete seine Waffe auf Levi und schoss. Knapp konnte er ausweichen, doch die Kugel ließ seine Haare aufwirbeln. Kraftvoll drehte er sich im Flug, sodass er rückwärts flog. Er feuerte einen Haken ab, der sich sogleich in den Brustkorb des Mannes bohrte. Levi ließ sich zu ihn ziehen und beendete sein Leben mit einem sauberen Schwingen seiner Klingen.

Er machte kurz an einer Hauswand Halt. Von der Ferne kam der Rest seines Teams angeflogen. „Jagt die Kutsche!", rief er ihnen zu. Als sie näherkamen, bemerkte er, dass sie ihn mit dem gleichen Blick ansahen wie Motte zuvor auch. Auch sie waren von seiner Hemmungslosigkeit bestürzt. Mikasa war die erste, die sich wieder fing: „Verstanden!"

Zusammen sausten sie der Kutsche hinterher. „Zuhören!", richtete Levi das Wort an seine Leute. „Sie sind es gewohnt gegen andere Menschen zu kämpfen! Sie haben bereits drei von uns erwischt." Sie schnappten erschrocken nach Luft. „Wenn wir Eren und Historia wiederbekommen wollen, dürft ihr nicht zögern! Wenn ihr die Möglichkeit habt, tötet ihr! Kapiert?"

Das Zögern in ihren Augen war nicht zu übersehen. „Verstanden", sprach Mikasa dennoch für alle. Keiner war glücklich darüber.

Levi genügte das. Er nutzte einen der Männer in der Kutsche als Ziel für seinen Haken und zog ihn heraus. Anschließend ließ er ihn auf der Straße zurück. Sogleich kam ein Ersatz herbeigeschossen.

„Tch!", ärgerte Levi sich. „Armin! Jean! Sichert die Kutsche! Wir geben euch Rückendeckung!", befahl er den beiden Jungen.

„Verstanden!", gehorchte Armin laut rufend. Jean schien zu zögern, aber letztendlich folgten beide dem Befehl und sprangen auf die Kutsche. Von da an, überließ Levi es ihnen, sich zu verteidigen. Er kümmerte sich um die letzten Feinde, die von hinten angerauscht kamen.

Ein Schuss ertönte. Schnell wandte er sich der Kutsche zu und sah Armin, der die Zügel in der einen Hand und eine Waffe in der anderen vor sich hielt, und eine von Kennys Leuten, die leblos zusammensackte. Levi war etwas zurückgefallen und wollte wieder aufholen, da sah er erst drei weitere Feinde, die zwischen den Häusern hervorgeprescht kamen. Sie waren viel näher als er. „Scheiße! Armin! Jean!", rief er ihnen eine Warnung zu.

Die drei Feinde zielten auf die Kutsche. Ihnen blieb keine Zeit. Levi beschleunigte so schnell er konnte und schaffte es aufzuholen. Von der Seite schwang er sich auf Jean zu, packte ihn und nahm ihn mit. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Sascha das gleiche mit Armin tat.

Die Kugeln trafen auf Holz. Kennys Leute sprangen in die Kutsche und verließen die Stadt durch das Tor. Zwei weitere schwangen hinterher. Zum Abschied schoss einer nochmals nach ihnen.

Mikasa musste zurückweichen und landete sicher auf dem Boden. Levi sah die Entschlossenheit, die sie verströmte, und handelte schnell. Ehe sie ihnen nachjagen konnte, hielt er sie zurück. „Tu's nicht! Zieh dich zurück!" Sie wehrte sich verbissen, doch Levi war stärker. Als sie bemerkte, dass sie nicht gegen ihn ankam, fiel ihre Körperspannung ab. „Eren!", schrie sie verzweifelt der längst verschwundenen Kutsche hinterher.

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