Der Keller
Intermedium – Tag 1087
„Das ist... eine schwierige Frage. Ich weiß nicht, was ich antworten soll."
„Reden Sie einfach drauf los. Manchmal muss man irgendwo anfangen, um herauszufinden, wohin man eigentlich möchte."
„Wenn Sie meinen... Ich meine, Sie wissen ja, was ich inzwischen von der anderen Welt halte. Ein Teil von mir ekelt sich, jede Nacht dorthin zu müssen. Ich will gar nicht mehr sehen, wie alles sich weiterentwickelt und alle sich nur noch mehr hassen und bekriegen. Aber ein anderer Teil – und ich glaube, dieser Teil überwiegt – ist... froh. Jedes Mal, wenn ich hier die Augen schließe und dort wieder öffne, bin ich erleichtert. Es bedeutet, dass ein weiterer Tag kommt, an dem ich meine Freunde sehen kann, an dem ich ihn wieder sehen kann. Dafür nehme ich es gerne in Kauf, dorthin zu gehen."
„Interessant. Sie haben erzählt, dass Sie zu Beginn gerne dort waren."
„War ich auch. Damals war das alles noch sehr surreal für mich. Aber ich hab mich daran gewöhnt, dass diese Welt – zumindest für mich – sehr, sehr echt ist. Es sind Leute gestorben, die ich kannte, die ich mochte. So etwas habe ich davor noch nie erlebt, natürlich nicht. Aber für ihn, für... für Levi... war es nichts Neues. Er kannte das, diese Angst und diese Trauer... Haben Sie eine Ahnung, wie viele seiner Mitstreiter schon gestorben sind?"
„Zu viele, nehme ich an. Ich muss gestehen, ich bin noch nicht sehr weit mit der Serie."
„Auf jeden Fall zu viele. Jahrelang haben die Leute dort gekämpft und sind gestorben, um an ihre Freiheit zu gelangen. Um diese verdammten Mauern zu durchbrechen. Und für was? Für die beschissene Wahrheit?! Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sage – ich war immer dafür, die Wahrheit zu kennen, auch wenn sie wehtat – aber in diesem Fall..."
„So schlimm?"
„Ich wünschte, wir wären nie in diesen Keller gegangen."
„Wie lautet denn die Wahrheit?"
„Spoiler."
„Danke für Ihre Rücksicht, Frau Fabri, aber Spoiler kann ich gut verkraften. Immerhin muss es Ihnen möglich sein, hier frei zu sprechen."
„Die Wahrheit, für die sich so viele Menschen geopfert haben, ist, dass sich jenseits der Mauern eine Welt befindet, die sie verachtet. Das... muss so wehtun. Mir hat es wehgetan. Ich bin unheimlich wütend geworden. Wie muss sich das dann erst für jemanden anfühlen, die in diese Welt geboren worden ist?! So viel Leid, alles für Hass von Menschen, die man nicht einmal kennt."
„Sie meinen, Ihre Freunde? Levi?"
„Genau... Und trotzdem macht er jeden Tag weiter. Deswegen denke ich mir, wenn er und die anderen es schaffen, jeden Tag diese Welt, ihre Welt zu ertragen, darf ich nicht jammern. Ich bin... Ich bin wirklich froh, dass sie noch... dass er am Leben ist."
Kapitel 51 – Der Keller
Er warf einen letzten Blick in das Zimmer. Das einfallende Sonnenlicht und der Wind, der durch das zerbrochene Fenster sanft mit den Vorhängen spielte, verliehen ihm eine warme und stille Atmosphäre. Es war klein und nur spärlich möbliert. In dem einzigen Bett lag er, friedlich, zugedeckt mit einem dunkelgrünen Umhang, auf dem die blau-weißen Flügel der Freiheit prangten. Man könnte meinen Erwin Smith würde schlafen. Neben ihm auf einem kleinen Tisch stand eine Vase mit einer einzelnen Blume, frisch gepflückt aus Shiganshina. Ihre weißen Blüten strahlten im Licht der Sonne.
Sich dieses Bild einprägend wandte Levi sich um und schloss die Tür hinter sich. Nachdem er das Haus verließ, fand er sich auf einer der vielen leeren Straßen des Außenbezirks wieder. In fünf Jahren hatte die Natur es geschafft, sich gegen die von Menschen gemachten Konstrukte aufzulehnen. Gräser sprossen zwischen den Pflastern hervor und Ranken hatten begonnen, sich an den Wänden der Häuser gen Himmel zu krabbeln. Levi konnte sich beinahe vorstellen, dass so das Ende der Welt aussah und befand es für erstaunlich friedlich.
Beinahe. Es gab noch eine andere Seele, die Leben in diese Szene brachte. Motte saß manifestiert im Schatten des gegenüberliegenden Hauses und hatte auf ihn gewartet. Intensiv begutachtete sie einen kleinen Strauß derselben weißen Blumen, die auch bei Erwin standen. „Hätte ich doch die hier nehmen sollen?", fragte sie ihn laut, ohne ihn einmal anzusehen, und hielt eine der Blumen hoch. „Die Blätter wirken kräftiger. Wieso hab ich nicht die ausgesucht?"
„Das passt schon so", erwiderte Levi ruhig.
Ihn nicht beachtend hob sie auf einmal erkennend die Augenbrauen. „Jetzt weiß ich es wieder. Hier unten ist ein Fleck!" Sie musterte die Unterseite ihres Exemplars.
„Wir sollten zurückgehen", meinte Levi und lief die Straße entlang. „Vielleicht haben die anderen ja noch jemanden gefunden." Auch wenn er nicht daran glaubte.
„Komme", erklang es geistesabwesend hinter ihm und er bezweifelte, dass sie ihn wirklich gehört hatte. Jedoch holte sie einen Moment später auf. Sie schwebte. Die Blumen hatte sie wohl im Schatten zurückgelassen.
Levi wollte seine Ausrüstung nutzen, um schneller voranzukommen, doch drei Worte aus ihrem Mund hielten ihn zunächst davon ab: „Tut mir leid."
„Was?", gab er nur zurück und sah sie an. Automatisch war er stehengeblieben.
Sie tat es ihm gleich. Ihre Augen blickten zurück zu dem Haus, das nun Erwins Ruhestätte war. Es war nichts Besonderes, nur eines von vielen. „Ich hab ihn falsch eingeschätzt", murmelte sie betroffen. „Ich war die ganze Zeit über so misstrauisch. Das war nicht fair von mir. Ihm gegenüber."
Nachdenklich schaute auch er die Straße hinab. Ein sanfter Wind ließ alles, was nicht fest war, sachte bewegen. „Nein, war es nicht", stimmte er schließlich unverblümt zu. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie sie schuldbewusst auf ihre Unterlippe kaute. „Aber es war nicht unberechtigt", fügte er noch hinzu, was sie sichtlich überraschte. „Du hast gedacht, dass er... mehr wollte als er vorgab. Und damit hattest du recht."
„Kann sein", räumte sie ein. Levi stellte fest, dass er etwas Weiches in ihrem leichten Lächeln erkannte. „Aber letztendlich hat er es aufgegeben. Für das Wohl der Menschheit. Das... Ich hätte das nicht erwartet." Es war Dankbarkeit, was er in ihrem Gesicht sah. Ihr letzter Salut an den Kommandanten, bevor er sich und die Rekruten in den Tod geführt hatte, war durchaus aufrichtig gewesen.
Für einen abrupten Moment hatte Levi das Gefühl, als würde sich eine Faust um sein Herz legen und fest zu drücken. Die Ruhe nach dem Sturm ließ einen immer erst richtig spüren, wie tief die Wunden der Schlacht tatsächlich reichten. „Lass uns zu den anderen gehen", entschied er und wandte sich ab. Ehe noch etwas ihn länger in dieser Straße halten konnte, surrte er mit seiner Ausrüstung über die Dächer Richtung Mauer. Motte folgte ihm unmittelbar.
Oben auf der Mauer traf er auf Eren und Armin, die sich in den Armen lagen. Ersterer war den Tränen nahe, Zweiterer dagegen schien verwirrt. „Du bist wach?", kam es von Levi und er musste sich eingestehen, dass er erleichtert war. Armin wirkte unversehrt.
Von Sascha, die neben den beiden Jungs immer noch in ihrem provisorischen Bett lag, konnte man das leider nicht behaupten. Immerhin schien ihre Bewusstlosigkeit in einen unruhigen Schlaf übergegangen zu sein und das war in Levis Augen immerhin eine Verbesserung.
„Kapitän?", kam es von Armin. Die beiden hatten sich voneinander gelöst, als sie ihn sahen. Während er auf sie zulief, manifestierte Motte sich neben ihn, wobei ihr Schweben fließend in ein Gehen überging. „Was in aller Welt ist passiert?", wollte der blonde Junge wissen. „Ich kann mich dunkel daran erinnern, dass Bertholdt sich in einen Titanen verwandelt hat..." Dann zuckte er plötzlich zusammen, als ihm etwas eingefallen sein musste. „Was ist mit den anderen? Geht's ihnen gut?"
„Ist das alles, an das du dich erinnern kannst?", fragte Levi. Anscheinend, denn der Junge blinzelte ihn nur ratlos an. Die beiden anderen blickten beiden bedrückt zu Boden. Levi kramte eine Signalpistole hervor. Bevor er grünen Rauch in die Luft schoss, sprach er: „Eren, sag ihm, was passiert ist."
Und das tat Eren. Er erzählte davon, wie Armin sich einen Plan ausgedacht hatte, den Kolossalen niederzustrecken, an dem nur die beiden beteiligt waren. Er erzählte, wie Armin sich dafür beinahe geopfert hatte und wie es zustande gekommen war, dass er dennoch überlebt hatte. In der Zwischenzeit hatten die anderen Levis Rauchsignal gesehen und sich zu ihnen gesellt. Sie hatten nach Überlebenden gesucht, aber keine gefunden.
Nach etwa zehn Minuten hatte Eren geendet und Armin war entsetzt und sprachlos. Einige Momente später fing er sich wieder und starrte auf den Wasserbeutel in seinen Händen, den ihm Mikasa während des Berichts gereicht hatte. „Das bedeutet also, dass die Aufklärungslegion... aus uns zehn hier besteht... und das war's?"
Das war's, dachte Levi sich, brachte es aber irgendwie nicht über sich, diese Worte auszusprechen. Er, Motte, Hanji, Eren, Mikasa, Armin, Jean, Sascha, Connie und Flocke. Das war's.
„Vorerst", war Jeans abgeschwächte Antwort. „Vor vier Stunden hat der Kampf aufgehört. Seitdem suchen wir nach Überlebenden, aber..." Er musste nicht enden. Es war offensichtlich.
„Also... haben wir es geschafft, die Tore von Shiganshina zu versiegeln... aber Reiner, Zeke und noch ein anderer konnten fliehen..." Keine bestürzte Frage, Armin fasste erneut zusammen. „Und dann gab es einen Streit, ob Kommandant Erwin oder ich die Spritze bekommen... Und ich... hab mich in einen Titanen verwandelt und Bertholdt gegessen..." Auf einmal wurde er kreidebleich und Levi ahnte, was gleich kommen würde. Einen Augenblick später begann Armin zu würgen und zu husten, aber in seinem Magen befand sich nichts, was er erbrechen könnte. Stattdessen nahm er den Wasserbeutel und trank in tiefen Zügen.
Danach atmete er schnell und schwer. „Wieso", fragte er fassungslos, „habt ihr mich gewählt? Egal, wie man es betrachtet, wäre Kommandant Erwin nicht der Richtige gewesen?" Vollkommen verwirrt und gleichzeitig verzweifelt blickte er Levi in die Augen. „Kapitän, wieso ich?!"
Verärgert schnalzte er mit der Zunge und kickte Eren in den Rücken, dass es zumindest ein bisschen wehtat. „Ich hab dir gesagt, du sollst ihm alles erzählen!" Für seine Tat erntete er ganz kurz einen finsteren Blick von Mikasa, der sich aber sogleich wieder legte. Levi hatte nicht vergessen, dass sie Motte vorhin im Gerangel mehrmals verletzt hatte, allerdings sprang er auch alles andere als sanft mit ihrem Ziehbruder um, also durfte sich wohl keiner der beiden beschweren.
Leise seufzte er und erklärte Armin: „Es scheint, dass die beiden hier anderer Ansicht sind." Sofort senkten Eren und Mikasa schuldbewusst den Blick. „Sie haben sich mir entgegengestellt, waren bereit Blut zu vergießen..."
„Was?", kam es verblüfft von Armin.
„Wir nehmen jede Strafe in Kauf", meinte Eren reumütig.
„Ihr werdet zwar für Ungehorsam bestraft werden", begann Hanji mit vor Erschöpfung ruhiger Stimme, „aber soll die Akzeptanz von Strafe alles entschuldigen?" Ihre Brille war im Kampf kaputt gegangen und ihr linkes Auge war inzwischen versorgt und verbunden worden.
Eren schluckte betroffen. „Nein."
„Letztendlich", warf Levi ein, „lag die Entscheidung dich zu wählen bei mir." Kurz dachte er nach. „Nein", korrigierte er sich anschließend und verschränkte die Arme vor der Brust, „Ich habe beschlossen, dass dies der Ort ist, an dem Erwin stirbt."
Armins Mund hing offen. „Ich versteh's nicht", flüsterte er. „Auf keinen Fall ist es in Ordnung Erwin sterben zu lassen. Wenn der Kommandant nicht mehr da ist... Wie sollen wir dann weitermachen?"
„Ich stimme dir zu. Ich finde, Erwin hätte die Spritze bekommen sollen, um ganz ehrlich zu sein", meinte Hanji unverblümt. „Es ist schlimm, dass wir in diese Situation geraten sind. Wie dem auch sei, Erwin hat Levi mit dieser Entscheidung betraut. Und Levi hat letztendlich dich ausgesucht. Die Sache ist erledigt. Erwins Leben und die Macht eines Riesen lasten auf deinen Schultern. Egal, was die Leute sagen, das ist jetzt ein Teil von dem, der du bist, Armin."
Levi beobachtete seine Reaktion. Der Junge wirkte verstört. Er konnte es verstehen, Levi würde nicht mit ihm tauschen wollen. „Bedeutet das", hauchte er, „dass ich Erwins Ersatz bin?" Es wirkte, als würde er das Wasser gleich wieder erbrechen. „Auf keinen...! Ich kann nicht...!"
„Versteh das nicht falsch", warf Levi sanft ein. „Du wirst nie Erwins Ersatz sein. Aber ich weiß, dass du eine Stärke besitzt, die sonst keiner hat. Ich werde meine Entscheidung nicht bereuen. Allerdings..." Er legte je eine Hand auf den Köpfen von Mikasa und Eren ab. „... sorg dafür, dass die beiden hier es auch nicht bereuen werden. Oder einer der anderen. Und vor allem du selbst auch nicht. Das ist mein Befehl an dich."
Neben Armin konnte man leises Stöhnen vernehmen. Sascha hatte in ihrem Halbschlaf das Gesicht verzerrt. „Halt die Klappe!", ächzte sie mit geschlossenen Augen.
Levis Blick verfinsterte sich unwillkürlich und seiner Einheit stand vor Entsetzen der Mund offen. Für einen Moment beherrschte Schweigen die Szene, doch dann wollte Motte ihren aufkommenden Kicheranfall verkneifen, indem sie eine Hand vor dem Mund schlug. Trotz ihrer Bemühungen war gedämpftes Glucksen zu hören und sie wandte sich ab. Nun hielt sie sich auch noch den Bauch.
Hanji stimmte in ihr Lachen ein und Levis kurz aufgekommener Missmut verschwand endgültig. „So ist Sascha nunmal", kommentierte Hanji amüsiert. „Na ja, als Erwins Nachfolgerin lastet auch auf mir ein großer Druck", meinte sie anschließend an Armin gewandt. „Wir beide müssen uns unsere Entschlossenheit einfach erkämpfen."
Der Junge zögerte noch kurz, dann nickte er schließlich. „Gut", befand Hanji und erhob sich. „Wenn es Armin gut geht, sollten wir weitermachen. Levi, Eren, Mikasa, Motte und ich werden der Sache nun auf den Grund gehen. Der Rest von euch soll weiter Wache halten." Jean und Connie gehorchten. „Eren", sprach sie dann zu ihm, „ich hoffe du hast immer noch diesen Schlüssel."
Er griff sich an die Brust, wo eine Schnur, die er um den Hals trug, unter seinem Hemd verschwand. „Ja", antwortete er, seine Stimme klang nun fester als vorhin. „Er ist genau hier."
Im Gegensatz zu heute Mittag war der Außenbezirk nun einem anderen Licht ausgesetzt. In der Nachmittagssonne warfen die Häuser lange Schatten. Ein sanfter Wind wehte durch die Straßen, ließen Grashalme tanzen und alte Schilder von Wirtschaften quietschen. Abermals fand Levi, dass Shiganshina so friedlich wirkte, wären da nicht die zerbrochenen Gläser, zerstörten Häuser oder die letzten Überreste, die darauf hinwiesen, dass hier einst viele Menschen dem Bezirk Leben eingehaucht hatten. Er entdeckte einen dreckigen, zerfetzten Stoffbären, von dem er den Blick sofort wieder abwandte.
Die Straßen, durch die sie schweigend liefen – beziehungsweise schwebten – waren Levi unbekannt; sie waren nicht dort, wo er Erwin hingebracht hatte. Diese hier waren breiter, lagen näher am Zentrum. Im Schritttempo überquerten sie einen Platz. Früher musste hier einmal ein Markt gewesen sein, es fanden sich überall kaputte Stände und Körbe.
Eren und Mikasa blieben immer mal wieder stehen, nur kurz, um bestimmten Ecken einen etwas längeren Blick zu schenken. Immerhin war dies ihre Heimat. Dieser Ort musste für sie voller Erinnerungen stecken. Kein einziges Mal mussten sie angehalten werden, weiterzugehen, nach Sekunden lösten sie sich von ihren Gedanken und setzten ihren Weg fort.
Die Straße ging leicht aufwärts, es gab sogar einige Stufen, bis die beiden am höchsten Punkt stehenblieben. Sie betrachteten stumm ein Haus, das größtenteils unter einem großen Felsen begraben war. Inzwischen war die Spitze mit Moos überzogen und auch hier sprossen einige dieser weißen Blumen. „Ist es das?", fragte Hanji nach. Es dauerte eine Weile, bis Eren nickte und sich darauf zu bewegte.
Die Lage ist schön, fiel Levi beiläufig aus. Die befanden sich in einem höher gelegenen Teil des Bezirks. Man hatte eine gute Sicht auf die Häuser und den Fluss, der in der Nähe plätscherte. Klein war das Haus auch nicht gewesen. Er wollte keine Annahmen machen, aber Levi konnte sich vorstellen, dass dies ein schöner Ort war, um aufzuwachsen.
Neben ihm atmete Motte geräuschvoll aus. Mit großen Augen und den Kopf in den Nacken gelegt, blickte sie zum Felsen hoch. „Das sehe ich zum ersten Mal in echt", hauchte sie und es war erstaunlich schwierig zu deuten, was sie gerade empfand. Jedoch sah Levi, wie ihre Augen wässrig wurden und sie schwer schluckte. „Ich hab zugesehen, damals. Ich hab in meinem Zimmer gesessen und nicht wirklich gewusst, was auf mich zukommen würde."
In den nächsten Minuten hantierten Eren und Mikasa am Boden nahe dem Hause herum. Sie räumten, so gut es ging, eine Falltür frei. „Hier ist es!", teilte Eren in die Runde mit. Nun hinderte sie nur noch ein kleinerer Fels daran, sie zu öffnen. Zu fünft und mithilfe von zwei Holzbalken schafften sie es ihn wegzuschieben und legten die Tür endgültig frei.
Sie ließ sich problemlos öffnen. Eine steinerne Treppe führte ins Dunkel, bis sie schließlich vor einer Tür endete. Als sie davorstanden, bemerkten sie, dass sie abgeschlossen war, aber Eren hielt den Schlüssel schon bereit. Er werkelte einige Sekunden am Schloss herum, bis er scharf die Luft einzog. Levi schwante Übles.
„Was ist los?", wollte Hanji wissen.
„Der Schlüssel", meinte der Junge und blickte sie hilflos an, „passt nicht in diese Tür."
„Was?"
„Aber das ist ganz sicher der Schlüssel, den Dr. Jäger auch immer gehabt hat", warf Mikasa ein.
„Soll ich hineingehen? Versuchen, die Tür irgendwie von innen öffnen zu können?", bot sich Motte an, auch wenn an ihrem Blick erkennbar war, dass sie keinen Schimmer hatte, wie sie das anstellen sollte.
„Blödsinn, das geht schneller", hinderte Levi sie daran. „Geh mal beiseite", meinte er zu Eren und schob ihn schon weg, ehe er reagieren konnte. Ohne zu zögern winkelte Levi sein Bein an, zielte auf die Klinke und steckte all die Kraft, die er heute noch zusammenkratzen konnte, in den Tritt. Das Holz gab augenblicklich nach. Die Tür war nun zwar Schrott, aber immerhin offen.
Im Keller gab es eine Öllampe, die sie anzündeten. Sogleich erhellte sie den Raum. „Oh", kam es kurz darauf leise von Motte. „Überraschend... normal." Sie klang enttäuscht.
„Es sieht fast aus wie ein Labor", fand Hanji und hob die Lampe etwas an, um Licht auf die vielen Bücher und Fläschchen in den Regalen und den Schreibtisch in der Mitte des Raumes werfen zu lassen. Levi griff ein Buch und begann darin zu blättern; er verstand kaum ein Wort.
„Mein Vater war Arzt", erklärte Eren. „Er warf oft hier unten und hat Medikamente gemixt."
„Macht Sinn." Hanji betrachtete die Fläschchen genauer. „Wenn die hier richtig beschriftet sind, sind das Medikamente, die eigentlich überall erhältlich sind. Und die Bücher scheinen auch alle von Medizin zu handeln. Es wirkt schlicht und einfach wie der Keller eines Arztes."
„Sag ich doch", wiederholte Motte. „Überraschend normal."
Leise lachte Hanji auf. „Es ist, als wolle er gerade, dass man sich denkt, hier ist nichts Auffälliges."
Levi gab auf und klappte das Buch wieder zu. „Ja", stimmte er zu. „Wenn man etwas vor der Zentralbrigade versteckt, will man das nicht zeigen."
Also begannen sie zu suchen. Sie schüttelten Bücher aus, suchten in und zwischen den Fläschchen, öffneten jede Schublade, die sie fanden. Motte war durch die Wände und den Boden getaucht in der Hoffnung, womöglich einen zweiten, geheimen Raum zu finden, doch vergebens. Erst als Mikasa etwas vom Boden aufhob, was ihr zuvor heruntergefallen war, entdeckte sie ein Schlüsselloch im Schreibtisch.
Eren benutzte den Schlüssel und dieses Mal passte er. Eine versteckte Schublade, allerdings war sie leer. „Was?!", entwich es Eren entsetzt und wütend.
„Schau genauer hin", meinte Levi, der ihm über die Schulter gelinst hatte. „Da ist ein falscher Boden drin." Mit geschickten Fingern hob er eben diesen heraus.
Drei kleine Bücher kamen zum Vorschein.
Das musste es sein, was sie gesucht hatten.
Sie legten die Bücher auf den Schreibtisch. Eren wollte das erste öffnen, doch seine Finger zitterten. Mikasa legte ihre Hand über seine, nickte ihm ermutigend zu.
In der ersten Seite lag ein Bild. Drei Personen waren darauf zu erkennen: Eine Frau in einem Kleid saß auf einem großen Sessel. Auf ihrem Schoß hielt sie einen Jungen, kaum älter als vier oder fünf. Hinter den beiden stand ein dunkelhaariger Mann im Anzug. Ist das Erens Vater? Levi verglich sie gedanklich miteinander und kam zum Schluss, dass der Junge sein Aussehen hauptsächlich von seiner Mutter geerbt haben musste.
„Ein Porträt?", wollte der Junge erstaunt wissen, klang aber verunsichert. Levi konnte das verstehen, er hatte noch nie ein derart realitätsnahes Bild gesehen.
Hanji ließ es sich reichen. „Nein, das ist viel zu detailreich. Das kann kein Mensch gemalt haben."
Motte – seit sie die Bücher hatten, war sie manifestiert – lugte ihr über die Schulter. „Das ist ein Foto!", stieß sie überrascht aus. Dafür wurde sie von vier verwirrten Augenpaaren angeblickt. „Ein Foto", wiederholte sie und schaute in die Runde, als wäre es das Verständlichste der Welt. Ihr Blick blieb an Levi hingen. „Ich hab dir davon erzählt, erinnerst du dich? Um ein Foto zu machen, braucht man eine Kamera. Sie kann einen Moment einfangen und es schaut aus, wie in echt. Wie dieser Moment eben ausgeschaut hat."
Die verwirrten Augen reduzierten sich um zwei. „Ja, ich erinnere mich", erwiderte er nüchtern. „Ich hab's nicht verstanden und tu's immer noch nicht."
Frustriert schüttelte sie den Kopf. „Das... ist auch schwer zu erklären. Ich weiß nicht, wie genau es funktioniert."
„Das ist die Handschrift von Dr. Jäger", fiel Mikasa auf, die nun die Rückseite dieses Bildes sehen konnte.
Hanji drehte es um und begann vorzulesen: „Dies ist keine Illustration. Stattdessen wird hier Licht benutzt, das sich von einem Gegenstand oder einer Person reflektiert und das Bild auf spezielles Papier brennt. Man nennt es Fotografie. Ich komme von einem Ort außerhalb der Mauern, wo die Menschheit im Wohlhaben lebt. Die Menschheit ist nicht ausgelöscht worden. Ich bete darum, dass die Person, die dieses Buch findet, ein Gleichgesinnter ist."
Dann lasen die Bücher und erfuhren es. Alles.
Die Wahrheit. Die beschissene Wahrheit über diese beschissene Welt.
Die beschissene Wahrheit über sich.
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