Das perfekte Spiel
Intermedium – Tag 869
„Hm, macht Sinn... Aber ich schätze, dass Sie das missverstanden haben. Er ist verdammt gefährlich, aber der beste Mensch, den ich je getroffen habe."
Kapitel 48 – Das perfekte Spiel
„Scheiße!", fluchte Levi ungeniert. Durch die Wolken, die aufgrund ihrer teils blutroten Farbe nicht nur aus Staub zu bestehen schienen, konnte er nicht allzu viel erkennen, aber es genügte: Einige Häuser sahen so aus als hätten Kanonen eingeschlagen, Holz und Stein lag wild verstreut.
Aber es war unmöglich, dass es nur das war; Levi sah noch bildlich vor sich, wie auch seine Kameraden durch die Luft flogen. Oder zumindest Teile von ihnen. Wie ein Echo hatte er ihre Schreie im Ohr. Aus dem Augenwinkel sah er, Motte zittrig neben ihn schweben. Ihr hatte es anscheinend die Sprache verschlagen. Sie schien immer noch unter Schock.
„Scheiße!!", fluchte er erneut, dieses Mal lauter. Die Wut brannte in seinen Gliedern und er handelte, ehe er darüber nachdenken konnte. Die Haken seiner Ausrüstung schossen in das nächste Haus und er ließ sich nach vorne ziehen. An die Front, wo die Einheiten gegen die Riesen gekämpft hatten. Zu denen, die es am meisten erwischt hatte. Je näher er kam, desto mehr Ächzen und Stöhnen drang an seine Ohren. Es gibt noch Überlebende!
„Zeke!", warnte Motte, die nur einen Moment später hinter ihm herflog.
Levis Aufmerksamkeit richtete sich zum Affen, der aussah als würde er ausholen. Anschließend vollzog er eine werfende Bewegung und Levi handelte schnell. „Da runter!", schrie er Motte zu und ließ sich in eine kleine Gasse zwischen zwei Häusern fallen. Das Mädchen flitzte ihm hinterher.
Nicht einmal eine Sekunde später schlugen um sie herum abermals Steine und kleine Felsen ein. Noch mehr Häuser wurden durchlöchert, gar zerstört. Diese Gasse lag näher am Tiertitan als der kleine Turm vorhin, weswegen die Durchschlagkraft heftiger zu sehen war. Aber es waren nicht nur Stein und Holz, dieses Mal spritzte auch Blut über ihre Köpfe hinweg.
Levi konnte es nicht fassen. Als würden sie mit hunderten Kanonen gleichzeitig bombardiert werden.
Das schlimmste waren die Geräusche; nicht der Krach von Zerstörung, sondern die Schreie der anderen, die nun viel lauter waren als vorhin. Voller Entsetzen schlug sich Motte die Hände vor dem Mund, als ihr klarzuwerden schien, dass die Körper der Soldaten das gleiche Schicksal erlitten wie die Wände dieser Gebäude. Levi bemerkte, wie eine stille Träne über ihre Wange rollte.
Sobald die Salve vorbei war, wollte er weiter vorpreschen, doch Motte hielt ihm am Ärmel fest. „Nicht!", wollte sie. „Das ist zu gefährlich!"
Mit geweiteten Augen starrte er auf die Hand, die ihn festhielt. Energisch riss er sich von ihr los. „Hast du sie noch alle?!", herrschte er sie an. „Manifestier dich nicht! Nicht mal deinen Fingernagel! Vor allem nicht in so einer Lage!!" Seine Stimme war so laut, er schrie beinahe schon, doch er konnte nicht anders. Seine Anspannung war so groß, er hatte das Gefühl, er könnte jeden Moment platzen.
Augenblicklich zog sie ihren Arm zurück, er wirkte auf ihn entmanifestiert, doch ihr flehender Blick schwand nicht. „Levi...", bat sie.
Wütend biss er die Zähne zusammen und dachte schnell nach. Sie hatte recht, es war sehr gefährlich sich jetzt noch weiter in die Schussbahn zu begeben. Die Soldaten an der Front... waren höchstwahrscheinlich nicht mehr am Leben. Ihre Aufgabe war es nach wie vor, die Pferde zu beschützen, und die waren bei den Rekruten. Er musste zu ihnen.
Vorsichtig linste er hinter der Mauer hervor. Das Drecksviech bückte sich gerade nach etwas, er würde also etwas Zeit haben, bis der nächste Angriff kam. „Bleib bei mir!", wollte er und machte sich in die entgegengesetzte Richtung auf, wieder zur Mauer.
In der Luft hatte sich ein roter Nebel gebildet und er schmeckte Eisen auf seiner Zunge, während er hindurchflog. Levi verspürte nur noch mehr Abscheu gegenüber dem Biest. Motte flog fast auf seiner Höhe. Ihr entwich kein Mucks, aber sie sah aus als wäre ihr schlecht. Auch wenn sie die Luft nicht riechen und schmecken dürfte, war ihr wohl bewusst, woher der ungewöhnliche Dunst kam.
Levi schaffte es bei den Rekruten mit den Pferden zu landen, bevor die nächste Welle kam. Sie waren so nah an der Mauer, dass sie nichts von den Geschossen selbst mitbekommen hatten, wohl aber vom Lärm. Bereits aus der Ferne merkte er, dass sie ängstlich und verwirrt waren. „Der Tiertitan wirft mit Felsen!", teilte er ihnen rufend mit, wodurch sie ihn erst bemerkten.
„Kapitän Levi!", kam es von Marlo, dem ehemaligen Militärpolizisten, den einst Levi und seine Einheit festgenommen und verhört hatten.
Sobald er festen Boden unter den Füßen hatte, zog er reflexartig eine Klinge. „Ihr alle zieht euch mit den Pferden zur Mauer zurück!", verlangte er mit erhobener Stimme.
Abermals krachten Steine und Felsen ein, sogar in einige von den Häusern, bei denen sie gerade standen. Die Rekruten zuckten erschrocken zusammen und Levi wurde deutlich, dass ihnen nicht viel Zeit blieb. „Beeilt euch!", setzte er deswegen hinzu. „Und bleibt aus der Schussbahn!"
„Verstanden!", gehorchten sie und hechteten los.
Die Steine schlugen eher weiter oben ein, auf Höhe der Dächer und sogar in die Mauer, anstatt direkt am Boden, über den sie gerade rannten, dennoch stellte es eine Gefahr dar. Gerade als Levi mit Motte den Glockenturm passierte, hinter dem sie sich vorhin versteckt hatten, schlug dort ein besonders großer Fels ein und das Bauwerk stürzte ein. „Scheiße!", zischte er heute schon zum zigsten Mal.
Kurz vor der Mauer brach direkt vor ihm ein Rekrut zusammen. Er fiel auf die Knie, presste sich die Hände auf die Ohren und schrie nur noch. „Hey, steh auf!", fuhr Levi ihn an und zerrte an dessen Umhang. „Willst du etwa sterben?!"
„Kommandant!", hörte er Marlo rufen und blickte auf. Weiter konnten sie sich nicht zurückziehen, hier war Endstation. Erwin war zu ihnen heruntergekommen.
Levi ließ vom Rekruten ab und schritt auf den Kommandanten zu. „Wie sieht's aus?"
„Schrecklich", antwortete Erwin unverblümt, der das Ganze von oben hatte überblicken können. „Seine Würfe haben die vordersten Hausreihen zerstört. Wenn er so weitermacht, ebnet er das ganze Areal und dann haben wir keine Möglichkeiten mehr, uns zu verstecken."
Motte schnappte entsetzt nach Luft und Levi warf einen vernichtenden Blick über seine Schulter in Richtung des Affen. „Können wir uns nicht auf die andere Seite der Mauer zurückziehen?", wollte er wissen.
„Nein", erwiderte der Blonde. „Der Kolossale Riese ist bereits auf den Weg hierher und verbreitet dabei ein Feuer. Würden wir auf die Mauer fliehen, müssten wir die Pferde zurücklassen. Ziehen wir uns jetzt zurück, bleibt keine Chance mehr auf den Sieg."
„Was ist mit Hanjis Gruppe passiert?", fragte Levi nach. „Geht's Eren gut?"
„Ich weiß es nicht", war die ehrliche Antwort. „Aber der Großteil wurde von der Explosion mitgerissen. Wir haben einen schweren Schlag abbekommen. Der Tiertitan hat die Kurzen gelenkt, damit sich unsere Soldaten in einer Gruppe versammeln. Während sie sich mit ihnen befasst haben, wurden Dirk, Marlen und Klaus zusammen mit ihren Einheiten ausgelöscht." Nun wandte er sich an die Rekruten, die halbherzig die Pferde im Zaum hielten, während sie eigentlich voller Schrecken seinen Worten lauschten. „In anderen Worten: Die Übriggebliebenen auf dieser Seite des Tores seid ihr, Rekruten..." Sein Kopf drehte sich zum Schwarzhaarigen. „... Kapitän Levi und Motte..." Nach einer kurzen Pause schloss er: „... und ich."
Eine weitere Welle an Steinen krachte in die Häuser und in die Mauer. Durch ihre Geschwindigkeit wurde die Luft aufgewirbelt, die nun ihre Umhänge und Haare aufbauschen ließ. Der Lärm war schrecklich und die Rekruten schrien. Durch ihre Position waren sie noch einigermaßen geschützt, doch es war nur eine Frage der Zeit, bis es auch sie erwischte. „Wir sind verloren!", kreischte einer der Rekruten.
Levi stand Erwin gegenüber und blickte ihn wortlos an. Diese Lage war in seinen Augen aussichtslos. „Erwin. Hast du irgendeinen Plan?" Der Kommandant war seine letzte Hoffnung. Wenn jemand einen Ausweg finden würde, dann er.
Anstatt sofort eine Antwort zu geben, schwieg er und wich seinem Blick aus. Das sah Levi überhaupt nicht gerne. Ihre Aufmerksamkeit wurde jedoch durch ein weiteres Poltern abgelenkt. Es kam von der Mauer, zu der sich Levi, Motte und Erwin nun drehten. Oben war eine Gestalt zu sehen, die anscheinend soeben dort gelandet war. Sie kam ihnen bekannt vor.
„Ist das Eren?", kam es stutzig von Motte, die bis jetzt noch fast gar nichts gesagt hatte. Die Überraschung schien ihre Bestürzung für einen Moment vertrieben zu haben.
Tatsächlich handelte es sich um Erens Riesengestalt, die rücklings auf der Mauer lag. „Hat er es geschafft, sich auf die Mauer schleudern zu lassen?", setzte Levi seufzend hinzu.
Eine weitere Salve von Geröll prasselte über sie hinweg und erinnerte sie an ihre aktuelle Situation. Aus dem Augenwinkel sah Levi, wie Motte zusammenzuckte. Die Schreie der Rekruten hatten sich inzwischen zu einem Wimmern reduziert. Nachdem der Lärm vorüber war, wandte sich der Kapitän abermals an Erwin: „Nicht mehr lange und der Ort schaut aus wie eine Bienenwabe. Wenn du sagst, dass wir keine Chance zum Gegenangriff haben, sollten wir uns bereit machen zu fliehen. Wach Eren auf..." Mit dem Finger deutete er auf den Riesen auf der Mauer, der sich seit seiner Landung nicht mehr gerührt hatte. „... reite auf ihn und flieh mit so vielen Leuten wie möglich. Dann haben wir zumindest ein paar Überlebende."
„Und was ist mit dir?", warf Motte argwöhnisch ein, was Levi ignorierte. Er blickte Erwin abwartend an, der nur stumm zurückstarrte.
„Hey! Das Pferd ist abgehauen! Das war deine Aufgabe!" Einige Meter neben ihnen pfiff gerade Marlo einen anderen Rekruten zusammen, der hoffnungslos auf dem Boden hockte und wimmerte. Es war derselbe, den Levi vorhin angeschnauzt hatte. Seine roten Haare waren ganz durcheinander.
„Klappe! Als ob das was ausmacht!", rief er zurück.
„Was sagst du da?!", kam es wütend von Marlo.
„Die Aufklärungssoldaten waren verdammt stark", heulte der Rothaarige mit wässrigen Augen, „und sie sind sofort gestorben! Das weißt du genauso gut wie ich! Was für einen Sinn hat es die Pferde zu beschützen, wenn es niemand mehr gibt, der mit ihnen nach Hause reitet?!" Das ließ die anderen Rekruten stutzten und der Rothaarige vergrub seine Hände in den Haaren. „Es hat seinen Sinn gehabt. Wenn die Menschheit sich einfach nur hinter den Mauern versteckt hätte, wäre sie eines Tages einfach von Titanen überrannt worden. Irgendjemand muss ins saure Gras beißen und das Risiko auf sich nehmen zu handeln. Damit andere keine Opfer werden, brauchen wir Menschen, die sich selbst zum Opfer machen. Wer sollen diese tapferen Soldaten sein? Als ich das gefragt worden bin, habe ich wirklich gedacht, dass ich so jemand sein könnte." Nun liefen ihm Tränen über die Wangen und tropften ins Gras. „Aber ich hätte nie gedacht, dass mein Tod letztendlich so bedeutungslos wird! Jetzt, wo ich so darüber nachdenke, wette ich, dass jeder mal diese Worte gesagt hat. Wieso hab ich jemals gedacht, dass ich anders wäre?"
Levi beobachtete die Szene und musste zugeben, dass er es sehr bedauerte. Zu oft hatte er mitbekommen, wie Soldaten eifrig ihre Herzen geopfert hatten, nur um am Ende voller Angst zu sterben. Er war es leid. „Was ist, wenn die Rekruten, die übrig sind, und Hanjis Gruppe sich auf die Pferde aufteilen und versuchen zurückzukehren? Sie könnten als Lockvogel dienen und euch mehr Zeit verschaffen, während ihr auf Eren flieht."
„Und was ist mit dir?!", wiederholte Motte, dieses Mal energischer. Doch nun war sie nicht die Einzige, die gesprochen hatte. Erwin hatte dieselbe Frage gestellt.
Levis Blick flackerte kurz zum Mädchen, die ihn nun nicht nur argwöhnisch, sondern ängstlich anstarrte, ehe er wieder mit dem Kommandanten sprach: „Ich werde mich dem Tiertitan stellen. Ich werde ihn weglocken und..."
„Was? Nein...!", setzte Motte bereits an, wurde aber von Erwin, der sie ja nicht hören konnte, unterbrochen.
„Unmöglich", meinte er schlicht. „Du würdest nicht einmal in seine Nähe kommen."
„Hör auf deinen Vorgesetzen!"
„Vermutlich nicht", stimmte Levi zu und ignorierte das Mädchen erneut. „Aber solange du und Eren überlebt, gibt es noch Hoffnung..."
„Halt, nein!", fuhr Motte abermals dazwischen. „Willst du sagen, dass du dich opfern willst, damit die anderen fliehen können?!"
Levi zögerte, ehe er reagierte. Er hatte geahnt, dass ihr das nicht gefallen würde, und vermied es, sie anzugucken. „Es wäre nur ein Opfer, wenn ich dabei sterben würde."
„Ach? Und dann gehst du also davon aus zu überleben?!", hakte sie vehement nach, wohlwissend, wie seine Antwort lautete.
Er schwieg, was sie nur noch mehr reizte: „Nein, das kann nicht dein Ernst sein!" Er wurde kräftig an seiner Schulter geschubst, was ihn dazu verleitete, sie direkt anzuschauen. Motte war blass, wirkte ausgelaugt von dem emotionalen Stress, der durch Zekes Angriffe vervielfältigt worden war, doch ihre Augen funkelten geradezu vor Zorn zu ihm hoch. Sie hatte sich komplett manifestiert.
„Lös dich sofort wieder auf!", verlangte er nachdrücklich und packte sie am Unterarm.
„Erst, wenn du mit diesem Scheiß aufhörst!", entgegnete sie wütend. „Du kannst dich nicht alleine dem Tiertitan stellen!"
„Hast du denn 'ne bessere Idee?!", giftete er zurück. „Wenn ja, dann los, ich bin offen für Vorschläge!"
Nun war sie diejenige, die zögerte. Unsicherheit mengte sich in ihren flammenden Blick. Ihre freie Hand zupfte an dem Ärmel seines Armes, der sie festhielt, aber nicht um ihn wegzuzerren. „Kann das nicht jemand anderes machen? Sich Zeke stellen, meine ich. Und du fliehst mit den anderen auf Eren?"
„Wer denn? Die Rekruten? Erwin?" Kurz schenkte er dem Kommandanten einen Blick, der die beiden schon die ganze Zeit über stumm beobachtete. „Du?!", setzte er an Motte gewandt fort. „Ganz bestimmt nicht! Du weißt, dass ich am besten dafür geeignet bin."
Sie senkte ihren Blick. „Du darfst nicht sterben", meinte sie leise.
Er musterte sie und ließ sie los. Sie klammerte sich dafür umso fester an seinen Ärmel. Die nächsten Worte, die er wieder an den Kommandanten richtete, rollten ihm nicht leicht über die Zunge: „Wie gesagt, das Wichtigste ist, dass Eren und du, Erwin, überlebt. Ist das nicht das Beste, was wir uns an diesem Punkt erwünschen können? Was für ein Rückschlag..." Auf einmal überkam ihm eine Welle der Niedergeschlagenheit. „Um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass es nur einer lebendig zurückschafft."
„Levi...", flehte das Mädchen sachte.
„Du hast recht", meinte Erwin und seine Stimme klang ungewöhnlich dumpf, fast schon resigniert. „Angenommen wir hätten keine Möglichkeit für einen Gegenangriff."
Mit geweiteten Augen fuhren Levis und Mottes Blicke zum Kommandanten. „Es gibt einen Weg?", fragte er erstaunt.
„Ja", meinte Erwin nur.
„Einer, in der Levi nicht stirbt?", rutschte es Motte raus. Auf ihren Wangen waren Tränenspuren zu erkennen.
Die blauen Augen wirkten leer, richteten sich auf das Mädchen. „Das hängt von seinen Fähigkeiten ab. Aber nicht unbedingt, nein."
Das machte Levi wütend. Sie hätten sich locker die letzten Minuten sparen können und es war ja nicht gerade so, als ob sie zu viel Zeit übrighätten. „Und wieso hast du das nicht schon früher gesagt?!", wollte er mit erhobener Stimme wissen. „Warum hast du deine beschissene Klappe gehalten?!"
„Wenn der Plan funktioniert, könntest du den Tiertitan ausschalten", erklärte Erwin nüchtern. „Aber die Rekruten und ich werden unser Leben lassen müssen."
In diesem Moment traf die nächste Salve ein. Ganze Brocken krachten in die Mauer und die umgebenen Häuser, sie wurden mit Mal zu Mal größer. Vor Schreck ließ Motte Levis Ärmel los und schoss zwanzig Zentimeter in die Höhe, sie hatte sich wohl entmanifestiert. Die Rekruten schrien panisch auf.
Während Levi beobachtete, wie sie sich nur wenige Meter von ihnen entfernt zusammenkauerten und verzweifelt die Arme über die Köpfe schlugen, schenkte Erwin ihnen nur einen kurzen Blick. „Es ist, wie du es gesagt hast", setzte er fort und schritt an Levi vorbei. „Egal, wie, die meisten von uns werden sterben. Nein, ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass wir alle ausgemerzt werden. In diesem Fall können wir immerhin unseren Heldentod für die kleine Chance auf den Sieg, die wir haben, aufs Spiel setzen."
Levi und Motte folgten ihm, während er sich auf eines der Häuser zubewegte. „Damit es funktioniert und diese jungen Soldaten bereit sind zu sterben, braucht es einen exzellenten Hochstapler und eine Menge Lügen. Wenn ich diese Vorhut nicht leite, wird niemand folgen. Und ich werde sterben, ohne jemals erfahren zu haben, was in diesem Keller ist."
Da stutzte Motte. „Was?" Sie und Levi tauschten einen verwirrten Blick aus.
Mit einem Seufzen ließ sich Erwin auf einer Kiste nieder. „Ich... Ich will in den Keller", gestand er. In seiner Stimme schwang ein Hauch Traurigkeit. „Alles, was ich bis jetzt getan habe, tat ich, weil ich dachte, dass dieser Tag kommen wird. Dass ich eines Tages wissen würde, ob ich recht hatte. So oft habe ich mir gedacht, dass der Tod einfacher wäre. Doch jedes Mal habe ich mich an den Traum erinnert, den ich mit meinem Vater geteilt habe. Und jetzt..." Er blickte auf seine offene Handfläche. „... bin nah genug an den Antworten dran, um sie einfach zu greifen. Sie sind genau hier." Seine Finger zuckten, als wolle er sie zu einer Faust schließen. Doch dann erschlafften sie wieder und er ließ seine Hand hängen. „Aber, Levi", begann er und klang so erschöpft wie er gerade aussah. „Kannst du sie sehen? Unsere Kameraden? Sie schauen uns zu. Sie wollen wissen, was aus den Herzen geworden ist, die sie geopfert haben. Denn der Kampf ist noch nicht vorbei."
Wieder ließ ein Angriff des Tiertitans die Rekruten aufschreien. Motte, die neben Levi schwebte und wie er auf den Kommandanten herabblickte, zuckte nur kurz zusammen.
„Ist das alles nur in meinem Kopf?", redete Erwin ungerührt weiter und schaute zum ersten Mal auf, direkt in Levis Augen. „Nichts weiter als ein kindischer Irrglaube?"
Er erinnerte sich an das Gespräch, das sie vor zwei Tagen geführt hatten. Erwins Traum... Die Wahrheit... Das war es, was den Blonden all die Jahre angetrieben hatte. Nichts Heroisches wie das Wohl der Menschheit, sondern etwas Egoistisches, ein persönlicher Wunsch. Denn Erwin Smith war ein Mensch wie jeder andere auch.
Levi fiel vor seinem Kommandanten auf die Knie. „Du hast gut gekämpft", sprach er. „Nur dank dir sind wir so weit gekommen. Ich werde die Entscheidung treffen." Fest blickte er nach oben in seine blauen Iriden. „Gib deinen Traum auf und stirb. Führe diese Rekruten direkt in die Hölle. Ich werde den Tiertitan niederschlagen."
Bei seinen Worten weiteten sich Erwins Augen überrascht.
„Sir...!", meldete sich Motte und hatte offensichtlich ihre Stimme manifestiert, denn der Kopf des Blonden drehte sich zu ihr. Langsam schwebte sie zu Boden, bis sie sich endgültig manifestiert hatte. Ihr Mund öffnete und schloss sich mehrmals, unentschlossen, welche Worte sie benutzen sollte. Levi war sich nicht sicher, ob die komplett die Situation verstand, aber sie schien eine gute Ahnung zu haben. Zu seinem Erstaunen musste er feststellen, dass er Schwierigkeiten hatte, ihren Blick zu deuten. Er meinte weiterhin Angst und Unsicherheit zu erkennen, eine Spur Trauer und Mitleid, aber da war noch etwas, was er bei ihr noch nicht oft gesehen hatte. Und vor allem nicht gegenüber Erwin.
Hochachtung.
„Kommandant!", war schließlich das einzige Wort, das sie sagte. Dabei salutierte sie energisch, die rechte Faust auf dem Herzen. Es war nicht das erste Mal, dass sie es tat, doch Levi war sich nicht sicher, ob sie dabei schon jemals so authentisch ausgesehen hatte. Wie eine Soldatin, die ihrem Vorgesetzten ihren Respekt zollte.
Erwins Blick wurde weicher, bis er sie beide letztendlich anlächelte. „Danke."
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