Das Gericht
Kapitel 8 – Das Gericht
Der Gerichtssaal war bereits gefüllt. Es war ein großer Raum. Der Thron des Richters befand sich auf der gegenüberliegenden Seite der Wand mit der Eingangstür. Wenn man diese passiert hatte, schritt man durch einen Gang, links und rechts davon befanden sich die Bänke der Zuschauer. Dann, ungefähr in der Mitte, teilte sich der Weg. Die Militärpolizei und die Vertreter der Kirche und der Handelsgeschäfte hatten nach rechts zu gehen. Auf dieser Seite befanden sich die Personen, die für die Exekution des Jungen plädierten. Auch die Stadtwache war dort, denn wenngleich Kommandant Pixis dem Jungen vertraute, so taten das die meisten der Rosenträger nicht. Die Aufklärungslegion und die Zeugen, sprich Erens Befürworter, standen auf der linken Seite. Allesamt blickten sie ins Innere des Raumes. Dort, wo Platz gelassen worden war. Später sollte der Angeklagte dort knien.
Noch herrschte lautes Treiben. Sowohl der Junge als auch der heutige Richter, Dallis Zacklay, der Oberbefehlshaber des gesamten Militärs, fehlten. Und noch jemand. Levi musste sich wohl oder übel eingestehen, dass er sich ein wenig Sorgen um die Nervensäge machte. Gestern hatte sie ihm noch ausdrücklich gesagt, dass sie auf jeden Fall kommen werde, den heutigen Tag wolle sie auf keinen Fall verpassen. Aber die Sorgen waren wirklich minimalst. Jetzt musste er sich auf den gestern ausgetüftelten Plan konzentrieren. Doch er musste zugeben, dass es ungewohnt war, dass sie nicht bei ihm war, und das, obwohl sie sich erst seit drei Tagen kannten.
„Ist alles in Ordnung?", fragte Erwin, der neben ihm stand. „Du wirkst ein wenig angespannt." Levi war von dieser Frage nicht begeistert. Er verfügte über ein verdammt gutes Pokerface und doch besaß der Blonde so gute Menschenkenntnisse, dass er ihn durchschaute. „Es ist nichts", antwortete der Schwarzhaarige schlicht. „Ich hoffe bloß, dass unser Plan aufgeht." Er stand in der gleichen Haltung wie zuvor da, seine Augen aber musterten die gegenüberliegende Seite. Die Militärpolizei. Nichts als ein Haufen Feiglinge, wie er dachte.
„Es ist riskant", stimmte Erwin ihm zu, „aber wir müssen es wagen. Was Anderes bleibt uns gar nicht übrig." Sein Nebenmann ließ ein Geräusch der missmutigen Zustimmung von sich hören.
Allmählich wurde er ungeduldig. Hanji und Mike sollten den Jungen holen. Sie brauchten ziemlich lange. Aber vielleicht bildete er es sich bloß ein.
Auf einmal erschien Motte neben ihm. „Da bist du ja!", meinte Levi leiser, auch wenn Erwin sich bereits wieder abgewandt hatte. „Der Prozess beginnt jeden Moment."
„Hm...", kam es bloß von ihr. Es klang so, als wäre sie neben der Spur. Er linste zu ihr hoch und war überrascht. „Was ist passiert?"
Ihre Augen waren rot und verquollen, als hätte sie geweint. Ein wenig Rotze hing aus ihrer Nase. „Wie?" Sie wischte sich über die Augen. „G...Gar nichts ist...!" Er schaute sie weiter eindringlich an. Irgendwann mal gab sie nach. „Na gut. Ich glaub, ich hab irgendwann mal schon erzählt, dass wir auf Klassenfahrt sind. Heute haben die gesamten Mädchen aus unserer Klasse beschlossen, in unserem Zimmer die Nacht durchzumachen. Einige haben sogar Alkohol mitgeschmuggelt, den sie jetzt dann so trinken wollen. Ich aber hab halt gemeint, dass ich nicht will, ich sei müde und wolle schnell schlafen gehen. Ich meine, das hier..." Sie machte mit ihrem Arm eine Bewegung und deutete so auf die Szene um sie herum. „... ist doch wohl weitaus spannender als ein Haufen besoffener Mädchen!" Es bildeten sich wieder Tränen in ihren Augen. „Sie haben mit Spielverderberin angefangen, Langweiler ist ja auch noch harmlos... aber beschissener Manga-Freak wurde mir zu viel... Aber bis ich schlafen gehen konnte, hat es ganz schön gedauert. Ich lieg jetzt im Zimmer von 'nem anderen Mädchen. Sie wollte bei dieser dämlichen Aktion auch nicht mitmachen und war so nett, mich bei ihr schlafen zu lassen."
Levi – er war über die Bedeutung hinter dem Wort Manga aufgeklärt – hatte sich alles mitangehört und war zu einem Schluss gekommen: „Offensichtlich ist es egal, in welcher Welt man ist, Arschlöcher gibt's immer und überall."
Motte schniefte einmal: „Ja, da hast du Recht."
„Lass dich von denen nicht fertig machen", ergänzte er noch in seiner üblichen emotionslosen Stimme.
Sie wischte sich noch einmal übers Gesicht und schien sich zusammenzureißen. „Pah!", machte sie nun um einiges selbstbewusster. „Wenn die wüssten! Tagsüber mag ich ein harmloses Mädchen sein, aber nachts...! Ha! Nachts kämpfe ich an der Seite des stärksten Kriegers der Menschheit gegen die Riesen, die den Menschen ihre Würde genommen haben!" Sie stemmte ihre Fäuste in die Hüften und hob stolz die Brust.
Gekämpft hast du ja noch nicht viel..., dachte Levi, doch er behielt den Gedanken für sich. Er besaß genug Mitgefühl, um der Nervensäge ihren Stolz zu lassen.
Auf einmal hörte man, wie die Tür quietschend aufgedrückt wurde. Mit einem Mal verstummte der Saal und blickte erwartungsvoll in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Alle standen stramm da, nur Levi hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Ehrfürchtig schwebte Motte ein Stückchen tiefer, sodass sie nur noch eine Handbreit über dem Boden schwebte. „Ui, es geht los!", meinte sie aufgeregt.
„Du weißt doch sowieso, was passiert!", erwiderte er so leise wie möglich und ohne großartig den Mund zu bewegen, aber noch laut genug, damit sie es verstand.
„Trotzdem!", widersprach sie. Sie hatte mit einem Mal eine so gute Laune, das war unglaublich. „Das ist saucool! Richtig schön dramatisch und so...!" Sie seufzte in Träumen schwelgend. Allerdings waren die Träume hier.
Die Tür wurde wieder geschlossen und Eren Jäger stand am Anfang des Ganges aus Zuschauerbänken. Hinter ihm waren zwei mit Gewehren bewaffnete Soldaten der Militärpolizei. Der Junge schaute sich um. Er wirkte erstaunt und eingeschüchtert, ja sogar ein wenig ängstlich. Seine Hände waren hinten am Rücken mit Handschellen gefesselt. Jeder im Raum betrachtete gespannt den Braunhaarigen, der nun von einem der beiden Soldaten hinter ihm grob in den Rücken gestoßen wurde, weil er stehengeblieben war. „Geh weiter!", befahl er barsch.
Der Junge stolperte nach vorne, die zwei Soldaten folgten ihm. Sie kamen an der Stelle an, an der sich der Weg teilte, doch anstatt nach links oder rechts zu laufen, musste der Junge ein Stück weit in die Mitte, dorthin, wo Platz gelassen worden war. „Stopp!", meinte der gleiche Soldat wieder laut, als der Junge auf einer Erhebung im Boden stand. „Knie dich hin!", befahl er. Missmutig blickte Eren ihn an. Man merkte, dass ihm der Ton nicht gefiel. Dennoch gehorchte er. Der zweite Soldat hatte eine dicke Metallstange geholt, die er nun in eine Vorrichtung im Boden steckte. Die Stange war so präpariert worden, dass die Kette der Handschellen nun zwischen Stange und Boden klemmte. Eren war dazu gezwungen zu knien.
Er bewegte ein wenig seine Hände hin und her, um zu prüfen, wie fest die Vorrichtung war. Als er merkte, dass er nicht rauskam, blickte er sich um. Er schien keine Ahnung zu haben, was vor sich ging. Unruhig wanderte sein Blick durch die Reihen.
Auf einmal öffnete sich eine weitere Tür, eine andere als die, durch die jeder gekommen war. Die Tür war kleiner und befand sich neben dem Richterthron. Jeder merkte auf und blickte dorthin. Ein älterer Mann schritt zu dem Platz des Richters und setzte sich hin. Seinen Mantel legte er neben sich auf den Tisch ab und er setzte sich. Vor ihm lagen die nötigen Unterlagen für den Prozess. Eine runde Brille ruhte auf seiner Nase.
Das war Dallis Zacklay.
„Nun dann, lasst uns beginnen", eröffnete er den Prozess. Levi hörte, wie die Nervensäge neben ihm aufgeregt kicherte. Was ist denn mit der los?! Er wollte sie schon mit einem Blick zum Schweigen bringen, doch er hielt inne. Er sah, dass sie wirklich aufgedreht aussah, doch aus ihrem Augenwinkel stahl sich eine kleine Träne heraus. Der Vorfall mit ihren Klassenkameradinnen musste sie schwerer mitgenommen haben als angenommen. Mit einem Mal wurde Levi sauer.
„Du", sprach Zacklay, „bist Eren Jäger, richtig? Du bist ein Soldat, der sich geschworen hat, sein Leben dem König zu opfern. Ist das korrekt?"
Eren blickte zu ihm hoch. Die Sitzhaltung sah nicht sehr bequem aus. „Ja, Sir", antwortete er mit immer noch leicht unsicherer Stimme.
„Dies ist ein Ausnahmefall", erklärte der heutige Richter. „Dieser Fall liegt außerhalb der normalen Gesetze, deshalb haben wir diese Versammlung einberufen. Die finale Entscheidung wird von mir getroffen. Wir werden entscheiden, ob du leben oder sterben sollst. Hast du irgendwelche Einwände?"
Kurz schaute der Junge ihn noch geschockt an. Dann, als er sich der Bedeutung der letzten Worte bewusst worden war, senkte er seinen Blick und antwortete: „Nein, Sir."
Zacklay lächelte leicht. „Ich bin froh, dass du so kooperativ bist. Lass mich dir eins direkt sagen: Deine Existenz zu verbergen hat sich als unmöglich erwiesen. Wenn wir deine Existenz nicht irgendwie veröffentlichen, müssen wir uns einer weiteren Bedrohung neben den Riesen stellen. Die Versammlung wird darüber entscheiden, welche Streitkraft dich aufnehmen wird, die Militärpolizei oder die Aufklärungslegion. Lasst uns zuerst die Aussage der Polizei anhören."
Ein Mann auf der rechten Seite, ein Soldat der Militärpolizei, fing zu sprechen an: „Ich bin Nile Dawk, Kommandant der Militärpolizei. Unsere Aussage lautet wie folgt: Wir werden Erens Körper gründlich untersuchen und ihn dann so schnell es geht entsorgen." Entgeistert starrte Eren ihn an. „Es ist", fuhr Nile fort, „eine Tatsache, dass seine Riesenkräfte den letzten Angriff abgewehrt haben. Allerdings hat er Charakterzüge, die zu einer Rebellion führen könnten. Deshalb soll er uns so viel Wissen wie möglich bereitstellen, dann wird er ein Märtyrer für die Menschheit werden."
„Das ist nicht wichtig!", rief der Mann neben dem Kommandanten der Militärpolizei dazwischen. Es war ein Vertreter der Kirche, dass sah man an der schwarzen Kutte und den drei schweren Ketten, die um seinen Hals lagen und die die drei Mauern symbolisierten.
„Priester Nick", presste Motte zwischen ihren Zähnen hervor.
Anklagend zeigte der Priester mit dem Finger auf Eren. „Er ist Ungeziefer, welches die heiligen Mauern Gottes zerstört und infiltriert hat. Er sollte hier und jetzt getötet werden!"
„Der Blödmann soll sich nicht so aufspielen!", schnaubte Motte aufgebracht und verschränkte die Arme vor der Brust. „Der und seine verfluchten Goldkettchen! Dieser Scheißkerl labert von Gott und dabei..." Auf einmal klappte ihr Mund zu und sie sagte gar nichts mehr. Offensichtlich hätte sie beinahe zu viel gesagt. Ganz leicht amüsiert hörte Levi ihr zu.
Zacklay bat Nick höflich um Ruhe und tatsächlich verstummte dieser wenn auch widerwillig. „Als nächstes, lasst uns die Aussage der Aufklärungslegion anhören."
„Ja, Sir", kam es von Erwin. „Ich bin Kommandant Erwin Smith, Anführer des 13. Bataillons der Aufklärungslegion. Unsere Forderung lautet wie folgt..." Im Gegensatz zu Nile Dawk trug er den gesamten Text auswendig vor. „Wir werden Eren als Mitglied der Aufklärungslegion akzeptieren und mit Hilfe seiner Riesenkräfte Mauer Maria zurückerobern. Das ist alles."
Ein Raunen ging durch die Menge. Auch Dallis Zacklay war erstaunt. „Ist es das?"
„Ja", antwortete der Blonde. „Mit seinen Fähigkeiten können wir es schaffen, die verlorene Mauer zurückzuerobern. Ich glaube, die Prioritäten sind eindeutig."
„Ich verstehe", meinte der Richter. „Von wo soll die Operation ausgeführt werden? Pixis." Er wandte an sich den Kommandanten der Stadtwache „Ich glaube, das Tor in Trost wurde erfolgreich versiegelt."
„Ja. Es wird wahrscheinlich nie wieder geöffnet", stimmte der Alte zu.
„Wir wollen von Calanes im Osten starten", informierte Erwin den Oberbefehlshaber. Wir werden uns Shiganshina von einer neuen Route nähern."
„Warte!", unterbrach ein Vertreter der Handelsgesellschaft. „Sollten wir nicht alle Tore versiegeln? Der Kolossale Riese kann nur die Tore zerstören!" Er hob seine Hände, um seine Worte zu unterstreichen. „Wenn wir diese Bereiche verstärken, werden sie nicht in der Lage sein, uns anzugreifen!"
„Sei still, du Marionette von der Händlergilde!", rief jemand der Aufklärungslegion. „Mit Hilfe der Riesenkraft, können wir die Mauer Maria zurückerobern!"
„Uuuu-...", fing die Nervensäge an, doch der Schwarzhaarige hatte keine Ahnung, was das sollte. War ihm momentan auch ziemlich egal, er war von diesem Mann der Handelsindustrie gereizt.
„Wir haben euch Helden..." Der Händler legte so viel Spott in dieses Wort, wie es nur möglich war. „... die ganze Zeit gefüttert!"
„...uuuund...", endete das Mädchen und zeigte nun mit beiden Händen und einem Strahlen im Gesicht auf ihren Nebenmann, der ihr gar nicht zuhörte, sondern den Mann gegenüber fokussierte. „Dein Einsatz, Levi!"
„Du redest viel, Schwein", stellte er fast zeitgleich klar. Der Händler und Eren blickten überrascht, dass er sich zu Wort meldete, zu ihm. „Wer sagt, dass die Riesen warten werden, bis alle Tore verschlossen sind?" Er redete wie immer mit seiner ruhigen Stimme, doch sie war auf ihre ganz eigene Art und Weise eindrucksvoll. „Wenn du wir sagst, meinst du dann deine kleinen Freunde, mit denen du planst, fett zu werden? Versteht ihr nicht, dass Menschen sterben, weil wir nicht genug Land haben?"
„Wir weisen", verteidigte der Mann sich, „nur darauf hin, dass wenn wir die Tore verschließen, wir sicher..."
„Genug jetzt!", hallte Priester Nicks Stimme durch den Raum. „Wie könnt ihr es nur wagen, so etwas den heiligen Mauern anzutun?!" Man ließ ihn ausreden. Keiner mochte den Mauerkult dieser Menschen. „Du schaust auf die Größe der Mauer, welche über unser Verständnis hinausgehen und kannst es immer noch nicht verstehen?! Du sprichst von Blasphemie!"
Innerlich schnaubte Levi verächtlich auf. Wegen dieser Leute hatte es so lange gedauert, bis die Abwehrkräfte an den Mauern verbessert worden waren. Sie waren es, die Macht und Geld besaßen.
„Dies ist kein Ort für ein Priester!", machte der Händler knurrend seine Meinung kund.
Zacklay klopfte mehrmals auf den Tisch, um für Ruhe zu sorgen. „Ruhe! Argumentiert über eure Meinungen woanders." Er wandte sich wieder an Eren, der alles mit angehört hatte: „Jäger, lass mich dich etwas fragen: Kannst du weiterhin als Soldat für die Menschheit kämpfen und auch deine Riesenkräfte für dieses Ziel verwenden?" Er blickte den Jungen durch seine runde Brille an.
„Ja! Ich kann", antwortete Eren sofort. Zacklay war erstaunt. „Oh? Aber im Bericht von Trost steht: Er schlug mit der Faust nach Mikasa Ackermann, direkt nachdem er zum Riesen wurde!" Daraufhin schaute Eren geschockt zu seiner Ziehschwester.
„Er kann sich nicht mehr dran erinnern", murmelte Motte leise.
„Ist Mikasa Ackermann hier?", fragte der Richter.
„Ja", antwortete die Schwarzhaarige. „Bin ich."
„Ist es wahr, dass er dich nach seiner Transformation angegriffen hat?", fragte Zacklay das schwarzhaarige Mädchen. Sie war hin und her gerissen und brauchte ein paar Momente, um zu antworten. Letztendlich öffnete sie doch den Mund: „Ja, es ist wahr."
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