Bredouille
Intermedium – Tag 907
„Wie weit würden Sie für ihn gehen?"
„Ich glaube, die Antwort würde Ihnen nicht gefallen."
Kapitel 47 – Bredouille
Sie hatten fast den Außenbezirk Shiganshina umrundet und die eigentlich Mauer Maria erreicht, als Levi auf einmal von dort roten Rauch aufsteigen sah. Das war das Zeichen, die Mission zu pausieren. Die anderen bemerkten es ebenfalls und kamen zum Halt.
„An alle", brüllte Hanji. „Versammelt euch auf der Mauer!"
„Verstanden!", kam es zurück.
Levi ließ sich nach oben ziehen. Was hatte das zu bedeuten? Oder war etwas geschehen? Er wusste es nicht. Er konnte nur zusammen mit seiner Einheit beobachten.
„Armin, hast du etwas herausgefunden?", hörte er Eren neben sich murmeln.
Der Punkt, an dem die Mauer von Shiganshina auf Mauer Maria traf, war nicht weit von ihnen entfernt. Deswegen konnten sie sehen, wie der Suchtrupp sich an den Mauern entlang herabgleiten ließ, langsam. Alle paar Meter stoppten sie und klopften mit ihren Klingen die Mauern ab, nur um dann wieder etwas tiefer zu rutschen und dort die Prozedur zu wiederholen. Offensichtlich suchten sie etwas in den Mauern.
Levi brauchte nicht lange, um Motte zu entdecken. Anders als die Soldaten besaß sie den Vorteil, tatsächlich in den Mauern zu sein. Er sah sie an einem Punkt durch den Stein hineingleiten, nur um kurze Zeit später an einer anderen Stelle wieder herauszukommen. Danach schien sie etwas mit erhobener Stimme zu verkünden und verschwand wieder in der Mauer.
Es war insgesamt ein seltsames Schauspiel.
Nach wenigen Minuten sah Levi Motte wieder aus der Mauer hervorschießen, aber etwas war anders. Er hatte schnell das Muster erkannt, in dem sie die Mauer über dem inneren Tor absuchte, nun brach sie es allerdings. Außerdem erkannte er trotz der Distanz, dass sie aufgewühlt war.
Sie rief so laut, dass ihre Stimme sogar zu ihnen herübergetragen wurde, jedoch waren die Worte nicht auszumachen. Allerdings bewirkte es, dass die Soldaten innehielten und sich ihr zuwandten und der, der ihr am nächsten war, sich sogar zu ihr hinzog. Kurz pochte er an der Mauer, dann schoss er sofort ein Tonsignal ab. Nun hatte es wirklich jeder mitbekommen.
Es geschah rasch.
Kaum hatte der Soldat geschossen, tat sich ein kleines Loch in der Mauer auf genau dort, wo er zuvor geklopft hatte. Innerhalb eines Wimpernschlags lehnte sich der blonde, junge Mann, der dahinter zum Vorschein kam, nach vorne und stach seine Klinge in das, was er vor sich hatte.
Levi sah das scharfe Metall, das sich durch Motte und den Soldaten bohrte, und Levi sah Blut und seine Reflexe waren schneller als seine Gedanken.
Der leblose Körper des Soldaten fiel zu Boden und der blonde Mann – er wusste dank der Beschreibung der anderen, dass es sich um Reiner handeln musste – hockte sich an den Rand der kleinen Höhle, in der er sich bis gerade versteckt hatte.
Levi ließ ihm keine Zeit zu handeln. In Sekundenschnelle hatte er die Meter überwunden. Ohne zu zögern, raste er auf Reiner zu und rammte ihm seine Klinge in den Nacken, wobei ihm das Bild von Motte mit der Schneide in der Brust und dem spritzenden Blut nicht aus dem Kopf gehen wollte.
Er wusste, dass ihr nichts geschehen war, dass sie geschwebt und dementsprechend körperlos gewesen war, dass das Blut nicht ihres gewesen war, und trotzdem sah Levi rot.
Die Schwerkraft zog sie beide zu Boden, aber er hatte keine Bedenken. Im Gegenteil, er setzte noch eins drauf und durchbohrte mit seiner zweiten Klinge Reiners Rumpf. So wie er ihren durchbohrt hatte.
Levi sah, wie sich Reiners Augen rollten und ihn direkt anblickten. Er war noch am Leben.
Verdammt! Augenblicklich ließ er von ihm ab und zog sie wieder ein Stück die Mauer hoch. Reiner indessen krachte auf den Boden. In der Nähe von Armin und dem kleinen Loch kam Levi zum Halt. „Scheiße!", fluchte er laut.
„Kapitän?", kam es erschrocken von Armin.
„So knapp! Ich hab ihn nicht richtig erwischt!" Er ließ seiner Wut freien Lauf und versuchte nicht einmal, sie zu verstecken. Sein Herzschlag dröhnte in seinen Ohren.
„Levi?", hörte er eine vertraute Stimme. Sofort wandte er sich zu Motte, die langsam auf ihn zugeschwebt kam. Sie war fahl im Gesicht, die Augen groß; ihr Schock war nicht zu übersehen, aber sie schien unverletzt.
„Geht's dir gut?", sprudelte es aus ihm heraus. Er war immer noch aufgebracht.
Eilig nickte sie. „Hab mich nur erschrocken."
Gleichzeitig blickten sie nach unten, wo Reiner lag und sich wand. Er glühte und im nächsten Moment schlug ein gelber Blitz ein. Er verwandelte sich. Der warme Dampf lichtete sich schnell, sodass jeder sehen konnte, wie der Gepanzerte Titan auf dem Rücken lag.
„Scheiße!", entwich es Levi erneut. Aus dem Augenwinkel linste er kurz zu Motte. Am liebsten hätte er sie von jetzt an bei sich, aber vermutlich wollte Erwin, dass sie so lange suchte, bis sie wussten, wo sich ihre anderen Gegner aufhielten.
„Alle Mann bereithalten!", brüllte der Kommandant, der immer noch auf der Mauer stand, bereits. „Der Gepanzerte Riese ist aufgetaucht, aber unsere Suche ist noch nicht abgeschlossen. Bis wir die Standorte all unserer Feinde ausgemacht haben..."
Ein lautes Donnern fuhr ihm ins Wort. Überrascht schnellte Levis Blick zum Rand der Mauer. Der Himmel war in grelles, gelbes Licht getaucht. Als ob sich noch ein Mensch in einen Riesen verwandeln würde. Allerdings war das mehr als nur ein Blitz, es waren mehrere Dutzende. „Was zur Hölle?!", entfuhr es ihm.
Neben ihm sauste Motte nach oben, um nachzuschauen, was los war. Sobald sie über die Mauer blickte, wich sie unbewusst zurück. „Was ist passiert?!", rief er zu ihr hoch.
„Zeke ist aufgetaucht", teilte sie ihm ebenfalls mit lauter Stimme mit. „Als Tiertitan. Und..." Sie zögerte kurz. „Er hat eine ganze Horde Riesen mitgebracht. Sie haben uns umstellt!"
„Fels kommt!!", brüllte Erwin aus vollem Halse, während Levi und die anderen Soldaten, die bis jetzt an der Mauer gehangen waren, sich auf diese hochzogen. Sie hatten keine Zeit, sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen, da rumste es bereits gewaltig und die Mauer bebte leicht. Im nächsten Moment versperrte ihnen eine dichte Staubwolke die Sicht.
„Was war das denn?!", entwich es Motte, ihre Stimme schrill vor Schreck.
„Der angekündigte Fels", vermutete Levi und unterdrückte den Reflex zu husten, da der trockene Staub in seinen Atemwegen kratzte. Am liebsten würde er mit den Armen wedeln, um die Wolke zu vertreiben, aber er wusste, dass es nichts bringen würde. Deswegen wartete er wie seine Kameraden einige Augenblicke, bis sich die Sicht von selbst klärte.
Neben ihm stand Erwin, der äußerlich ruhig wirkte, doch in Levis Augen war er aufgewühlter denn je. Seine konzentrierten Augen waren auf einen Punkt am Fuß der Mauer gerichtet.
Levi folgte seinem Blick und erkannte, was Erwin so scharf nachdenken ließ. Der Fels, der geworfen worden war, war im Loch gelandet, das einst das innere Tor gewesen war.
„Hat er verfehlt?", fragte sich Motte laut und blickte sich um, ob irgendjemand erwischt worden war.
„Nein", erwiderte Levi ruhig. „Er hat genau getroffen."
„Was?", kam es nicht sehr geistreich zurück. Die Nervensäge schien zu bemerken, dass sich zu ihren Füßen der Ort der Interesse befand, und tat es ihm gleich. „Oh!", meinte sie, nachdem sie das verschlossene Tor erblickte. „Warte! Das ist doch gut, oder nicht? Wir wollten doch sowieso, dass das Loch versiegelt wird."
Levi seufzte entnervt. „Schon", erklärte er ungeduldig, „aber nicht, wenn ein Teil unserer Leute und Pferde noch in Shiganshina sind. Sie werden nicht mehr rauskommen."
„So ist es", meldete sich Erwin, auch wenn ihm bewusst sein sollte, dass nicht mit ihm gesprochen worden war. „Und mit denen vor uns, werden wir nicht so schnell von hier wegkommen." Inzwischen schaute er geradeaus vor sich, sein Blick schien eine Spur härter.
Levi hob seinen Kopf wieder an, sah zum ersten Mal das Schauspiel vor ihnen und musste feststellen, dass Motte vorhin nicht gelogen hatte: Wo vor einer knappen halben Stunde noch nichts und niemand gewesen war, waren nun zig Gestalten auszumachen. Um sie herum waren Riesen erschienen, von drei bis fünfzehn Meter war alles dabei, die in einem Halbkreis standen und abzuwarten schienen. Den Bereich, den sie dabei abgrenzten, war vielleicht halb so groß wie Shiganshina. Ihnen direkt gegenüber, also am Punkt, der am weitesten von der Mauer entfernt war, hockte der Tiertitan.
Er stach aus den anderen hervor, zum einen durch seine Größe, die die der anderen überstimmte. Levi schätzte ihn auf siebzehn oder achtzehn Meter. Was einem aber sofort ins Auge fiel, war das Fell, das den Großteil seines Körpers bedeckte. Aus der Entfernung konnte Levi sein Gesicht nicht erkennen, aber er wettete, dass es hässlich war. Er sah dieses Viech heute zum ersten Mal und er konnte jetzt schon sagen, dass er auf diesen Anblick hätte verzichten können.
Die Haltung des Riesen ließ erkennen, dass er soeben den Felsen geworfen hatte.
Levi entdeckte einen weiteren Titanen, der anders aussah als die anderen: Der Vierbeinige, von dem Motte erzählt hatte, lauerte direkt neben dem Biest. Auf seinem Rücken waren Kisten und Fässer geschnallt.
Ein weiteres Rumsen ließ die Mauer abermals erzittern. Überrascht wandten sie sich um. Auf der Seite von Shiganshina hatte der Gepanzerte Titan begonnen, die Mauern zu erklimmen. Nicht lange und er würde sie erreicht haben.
Auf einmal brüllte der Tiertitan und lenkte so die Aufmerksamkeit aller wieder zu sich. Er donnerte mit seiner Faust auf den Boden. Einen Moment lang passierte nichts und Levi ertappte sich dabei, wie er vor Anspannung den Atem anhielt. Dann stürmten Riesen aus dem Halbkreis los. Nicht alle, nur die der Drei-Meter- und Vier-Meter-Klassen, während die größeren alle in Formation blieben. Zielstrebig torkelten sie auf sie zu. Was war die Absicht dahinter? Levis Augen suchten den Boden ab und er fand schnell seine Antwort: Die Pferde, die nicht in Shiganshina gefangen waren. Ihre Feinde wollten ihnen jegliche Fluchtmöglichkeiten nehmen.
„Die Lage ist ja richtig beschissen", murmelte Motte erschlagen vor sich hin. Levi stimmte ihr gedanklich zu. Sie waren komplett eingekesselt. Innerhalb weniger Minuten hatte sich das Blatt schlagartig gewendet. Was sollten sie jetzt tun? Angespannt beobachtete er Erwin, der immer noch angestrengt nachdachte.
Nach gefühlten Minuten – Reiner hatte schon fast den Rand der Mauer erreicht – holte er Luft, sein Blick wirkte entschlossener. Anscheinend hatte er einen Entschluss gefasst. „Bist du endlich bereit, etwas zu sagen?", kommentierte Levi leicht gehässig. „Ich hätte in der Zwischenzeit frühstücken können."
Neben ihm lachte die Nervensäge auf. „Was sollte das denn gerade?" Ihre Augen funkelten amüsiert, während sie gluckste: „Und du sagst immer, dass ich meine unnötigen Bemerkungen sein lassen soll. Was genau haben deine Worte jetzt zur Situation beigetragen, Herr Emotionslos?"
„Ach, halt den Mund", murmelte er, was sie nur noch mehr zu erfreuen schien. Levi musste zugeben, dass sie recht hatte, aber er musste irgendwie seinen Frust rauslassen.
„Aber jetzt, wo du's sagst..." Sie hielt sich den Bauch und sah auf einmal sehr leidend aus. „Essen wäre schon ganz schön."
Erwin schenkte Levi nur einen kurzen Blick und ignorierte sonst seinen Kommentar. „Motte", begann er stattdessen, woraufhin sie sich meldete zum Zeichen, dass sie da war und hörte. „Ich möchte, dass du diesen Abschnitt von Mauer Maria nach Bertholdt absuchst. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass er sich wie Reiner hier drin versteckt, aber ich will sicher gehen."
„Verstanden!", gehorchte sie mit ernster Stimme und machte bereits Anstalten, in den Stein einzutauchen, doch dann zögerte sie: „Ähm, Sir? Was soll ich tun, wenn ich ihn nicht finde?"
„Dann kommst du wieder zu mir, um weitere Befehle zu erhalten."
Sie nickte, was er nicht sehen konnte, und wiederholte: „Verstanden!" Sie verschwand in der Mauer.
Dann wandte sich Erwin an seine übrigen Soldaten und verkündete mit lauter Stimme, damit ihn auch ja jeder hörte: „Die Einheiten von Dirk, Marlen und Klaus beschützen die Pferde unten am Tor! Die Einheiten von Levi und Hanji kümmern sich um den Gepanzerten Riesen!" Während des Redens wandte er sich an die genannten Leute. „Benutzt die Donnerspeere nach eurem eigenen Ermessen! Erledigt eure Aufgaben, was auch immer es kostet! Das Überleben der Menschheit hängt hiervon ab! Von diesem Moment...! Von diesem Kampf...! Ich bitte euch noch einmal: Opfert eure Herzen!"
„Verstanden!", gehorchten die Soldaten und schwärmten augenblicklich aus.
Levi wollte sich Richtung Shiganshina aufmachen, hatte noch eine Bitte auf dem Herzen, doch Erwin stoppte ihn: „Warte, Levi!" Überrascht hielt er inne und wandte sich zum Kommandanten. „Ich sagte Levis Einheit, aber ich brauche dich woanders."
„Um die Pferde zu beschützen und nicht Eren?", wollte er verwundert wissen. Das machte wenig Sinn für ihn. Bis jetzt war es schon immer seine Aufgabe gewesen, auf den Riesenjungen aufzupassen.
„Genau." Mit seinem gesunden Arm wies Erwin auf den Tiertitan, der in der Ferne hockte wie die lauernde Gefahr, die er darstellte. „Und um ihn zu erschlagen, wenn die Zeit gekommen ist. Du bist der Einzige, dem ich diese Aufgabe anvertrauen kann."
„Verstanden", meinte Levi deutlich ruhiger als es die Soldaten sonst taten. „Da ich es vorhin nicht geschafft habe, diesen gepanzerten Bastard zu töten, werde ich das mit dem Kopf von diesem Biest wieder wettmachen." Zum Schluss sprach er noch seine Bitte aus: „Wenn die Nervensäge zurück ist, schick sie zu mir. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du in diesem Durcheinander Verwendung für sie findest." Bevor Erwin weder Zustimmung noch Widerworte geben konnte, schwang er sich von der anderen Seite der Mauer, um seinem Befehl zu gehorchen.
Levi hatte in den letzten Minuten nichts anderes getan als das, was er schon immer getan hatte: Titanen töten und mitbekommen, wie sich seine Mitstreiter abmühen. Die Rekruten, die aus einem anderen Regiment zu der Aufklärungslegion gewechselt waren, hatten es besonders schwer und zu jedermanns Unglück bestanden fast alle Soldaten auf dieser Seite der Mauer aus solchen. Ihre Aufgabe war es, die übrig gebliebenen Pferde so weit verstreut wie möglich zu positionieren, während die schon Kampferprobteren – darunter auch Levi – sich um die Riesen kümmerten. Zwar gehörten sie zu den kleinsten Größenklassen, doch es waren mehr als es zunächst den Anschein gehabt hatte.
Diese Menge an Titanen in Schach zu halten und dabei die Rekruten mit den Pferden nicht aus den Augen zu verlieren zehrte ganz schön an Levis Ausdauer. Am Rande nahm er die Geräusche wahr, die von Shiganshina zu ihnen herübergetragen wurden, und er konnte sich nur vorstellen, wie es dort gerade aussah. Vor einigen Minuten hatte ein weiterer Blitz dort eingeschlagen, höchstwahrscheinlich Eren. Seitdem war ab und zu das Brüllen von Titanen zu vernehmen; Levi vermutete, dass sich der Riesenjunge Reiner entgegengestellt hatte.
Levis Aufmerksamkeit wurde in Anspruch genommen, als er sah wie zwei Riesen auf eine kleine Gruppe Rekruten zu schwankten, die Pferde an den Zügeln führten. Blitzschnell schoss er an ihnen vorbei und schlitzte dabei ihre Nacken auf. Anschließend landete er auf einem Dach und musste noch ein paar Schritte machen, um den Schwung abzufangen. Das Blut der Riesen, das auf seine Kleidung und sein Gesicht gespritzt war, verdampfte schnell. Er vergewisserte sich, dass die Rekruten wohlauf waren und ihre Aufgabe ausführten. „Beeilt euch damit, die Kurzen beiseitezuräumen!", rief er einigen vorbeifliegenden Soldaten zu. „Bevor der Tiertitan seinen nächsten Zug tut!" Seine nächsten Worte richtete er mehr an die Rekruten, die am Boden wuselten. „Und keine Verluste! Wagt es ja nicht, zu sterben!"
„Verstanden!", kam es aus mehreren Richtungen zurück.
Keuchend blieb Levi für einen Moment stehen und blickte sich um. Von seiner erhöhten Position aus konnte er sehen, wie seine Mitstreiter über die Dächer hinwegflogen und wie die Titanen, kaum höher als die Häuser selbst, durch die Straßen stapften. Ein vertrauter Anblick doch die Situation war neu. Mit dem Tiertitan im Nacken lastete auf allen ein noch größerer Druck.
Er hörte, wie jemand seinen Namen rief, und sah Motte auf sich zu fliegen. „Erwin hat mich zu dir geschickt", erklärte sie und klang angespannt und doch... munter.
„Hast du Bertholdt gefunden?", fragte er, woraufhin sie den Kopf schüttelte. Levi hob verwundert die Augenbrauen. „Und Erwin will dich nicht weitersuchen lassen?"
Sie zuckte bloß mit den Schultern. „Anscheinend nicht. Er hat gemeint, dass er mich momentan nicht braucht und es besser wäre, wenn ich bei dir bin."
„Ach, wirklich?", erwiderte er nur leise. Was für ein Schwachsinn, natürlich war es wichtig, Bertholdts Position zu kennen, und Motte war momentan die Einzige, die in dieser Hinsicht Erfolg haben könnte. Ob Erwin inzwischen bezweifelte, dass sie ihn noch rechtzeitig finden konnten? Um ehrlich zu sein, wollte Levi sich nicht beschweren. Ihm war es viel lieber, das Mädchen bei sich zu wissen.
„Wie sieht's hier aus?", erkundigte Motte sich und blickte sich um.
Levi schnaubte: „Ein beschissenes Trauerspiel. Die Schwachen sterben so schnell. Sie hätten da oben bleiben sollen." Mit einer knappen Kopfbewegung wies er zur Mauer, auf der nur noch Erwin stand, der das Geschehen beobachtete.
Sie erwiderte nichts, aber er sah die Betroffenheit in ihrem Gesicht. „Was kann ich tun?", bot sie sich schließlich an.
Augenblicklich verfinsterte sich sein Blick. „Gar nichts", knurrte er streng. „Bleib in meiner Nähe und manifestiere dich auf gar keinen Fall!"
Mit einem Seufzen verdrehte sie die Augen und meinte: „Aye, aye, Käpt'n!" Als er sich vom Dach schwang, flog sie ihm hinterher.
Wenige Minuten später war abermals Krach jenseits der Mauern zu vernehmen. Es klang wie Gewitter. „Die Donnerspeere?", vermutete Motte, kurz nachdem Levi einen weiteren Riesen niedergestreckt hatte. „Heißt das, sie haben Reiner erledigt?"
„Hoffentlich", brummte Levi zwischen zusammengebissenen Zähnen. Er hatte noch einen Gegner entdeckt und ließ sich zu diesem ziehen. „Aber bei unserem Glück ist die Hoffnung oft vergeblich." Eine Sekunde später war ein weiterer Riese tot.
„Schön, dass du deinen Pessimismus noch nicht verloren hast", kommentierte Motte sarkastisch.
„Hey!", meinte er scharf, machte auf einem Dach Halt und drehte sich so plötzlich zu ihr um, dass sie beinahe in ihn hineinflog. „Ich seh die Dinge realistisch. Hat man keine Erwartungen, kann man auch nicht enttäuscht werden." Der letzte Satz war ihm einfach rausgerutscht und er bemerkte, wie weinerlich er klang, noch bevor er geendet hatte. Schnell versuchte er sich zu retten und setzte hinzu: „Du bist das beste Beispiel dafür."
Sofort plusterte sie sich auf. „Hallo?! Woher kommt das denn auf einmal?! Hab ich dir heute schon einen Anlass gegeben, sauer auf mich zu sein?! Gut, ich hab Bertholdt nicht gefunden, aber anscheinend ist das ja auch nicht mehr mein Job!" Wütend stemmte sie ihre Hände in die Hüften und sie erhob sich unbewusst in die Luft, sodass noch weiter auf Levi herabblickte.
Der schnalzte verärgert mit der Zunge. Er stellte fest, dass sie recht hatte. Die Nervensäge verhielt sich heute erstaunlich gehorsam und er hatte keinen Anlass, sich bei ihr zu beschweren. Wieder mal war es sein Frust gewesen, der seine Zunge kontrolliert hatte.
Levi war in ein Fettnäpfchen getreten. Lieber starb er als das ihr gegenüber zuzugeben. „Ich hab keine Zeit für solche Diskussionen", murmelte er bloß und wandte sich ab.
„Ey, du hast damit angefangen!", erinnerte sie ihn und flog ihm zornig hinterher, während er sich zum Rand des Daches begab. „Glaub ja nicht, dass ich das später nicht mehr ansprechen werde!", drohte sie.
Gerade als er beschloss, nichts zu erwidern und seine Aufgabe fortzusetzen, ertönte ein tiefes, lautes Brüllen von jenseits der Mauer. Es ließ ihre streitsüchtige Stimmung augenblicklich verschwinden, stattdessen machte sich Entsetzen in Levi breit.
Anscheinend hatte Motte ebenfalls den Ernst der Lage begriffen, denn sie hauchte mit weit aufgerissenen Augen: „Das war nicht Eren, oder? Das klang nicht nach Eren."
Auch wenn sich Levi sicher war, dass sie nicht wirklich eine Antwort erwartete, erwiderte er leise: „Nein, war es nicht." Dieses Brüllen war ein Zeichen.
„Schau mal!", rief sie plötzlich aus und deutete auf den Tiertitan. Dieser griff soeben eines der Fässer, die der vierbeinige Karrentitan auf seinem Rücken trug, und warf es in einem hohen Bogen. Levi konnte nur mit den Augen verfolgen, wie es über sie hinwegflog und hinter der Mauer in Shiganshina verschwand. Angespannt wartete er einige Momente ab, aber die Explosion blieb aus.
„Was ist da drin gewesen?", fragte sich Motte.
„Vermutlich Bertholdt", schätzte er. „Aber ich habe erwartet, dass er sich inzwischen verwandelt hat."
„Hat er aber nicht", meinte sie bloß. „Wieso nicht?"
„Ich weiß es nicht", gab er zu. „Aber jede Minute ohne den Kolossalen ist ein Gewinn, denke ich." Er wandte sich von der Mauer ab und überblickte die Situation hier. „Wir können dort nichts tun. Unsere Aufgabe ist auf dieser Seite und ihre auf den anderen." Mit diesen Worten schoss er auf den nächsten Titanen zu, während Motte ihm folgte.
Innerlich war Levi unaufhörlich am Fluchen. Mit jeder Minute, die verstrich, sah ihre Lage schlechter aus. Die Rekruten starben im Kampf gegen Drei- und Vier-Meter-Riesen und der Feind schien ihnen immer ein Stückchen voraus zu sein. Doch dann kam Levi ein Gedanke, den er laut aussprach: „Wenn Reiner nach Bertholdt gerufen hat, bedeutet das vielleicht, dass er in einer schwierigen Situation war und Hilfe braucht."
„Dann haben die Donnerspeere funktioniert?", schloss Motte.
„Kann sein. Offensichtlich haben sie ihn nicht getötet, aber womöglich ausreichend beschädigt."
„Hm", meinte sie nur und schien gar nicht zu bemerken, dass Levi ganz entgegen seiner Natur mal ein positiver Gedanke gekommen war. „Mich macht es wahnsinnig, dass Bertholdt sich noch nicht verwandelt hat", setzte sie noch hinzu. „Wie bei einem Horrorfilm: Man weiß, dass gleich etwas kommt, das einen erschrecken wird, aber man weiß nicht, wann. Das macht mich kirre!"
Levi verstand, was sie meinte – auch wenn er natürlich noch nie einen Film gesehen hatte. Es war wie bei einer Expedition: Man konnte nie wissen, ob hinter der nächsten Ecke ein Wesen lauerte, das einen bei lebendigem Leibe fressen wollte.
Seine Gedanken wurden schlagartig unterbrochen, als die Explosion kam. Sie war größer als alle anderen, die Levi bis jetzt gesehen hatte, reichte scheinbar bis zu den Wolken hinauf. Das grelle Licht blendete ihn selbst hier und er wettete, dass er nur dank der Mauern die Hitzewelle nicht zu spüren bekam. Die Detonation war gewaltig und er konnte nur hoffen, dass drüben niemandem etwas geschehen war. Jedoch glaubte er selbst nicht wirklich daran. „Ach, du Scheiße!", kam es entsetzt von Motte. Sie konnte ihre Augen nicht von der riesigen Wolke lösen, die hinter der Mauer hervorragte, bis der Wind sie davontrug.
Der Kolossale war nicht zu sehen, vermutlich war er zu weit von der Mauer entfernt, dafür konnte Levi lautes Krachen wahrnehmen. Ihm stellten sich die Nackenhaare auf. In seinen Ohren klang es als würde eine Stadt zerstört werden. Verbissen wandte er sich von der Mauer ab. „Scheiße!", knirschte er mit zusammengepressten Zähnen eher zu sich als zu ihr. Erschöpft wischte er sich mit dem Unterarm über die Stirn.
In diesem Moment landete Dirk, einer der Einheitsführer, auf dem Dach neben Levi. „Wir haben hier drüben aufgeräumt", berichtete er ihm. „Die einzigen Kurzen, die übriggeblieben sind, sind die ganz vorne." Er meinte die Riesen, die sich knapp vor den ersten Häusern tummelten. Für sie, die gerade recht nah an der Mauer standen, waren sie ziemlich weit weg und dennoch konnten sie die Soldaten ausmachen, die um die Titanen wie kleine, grüne Fliegen herumsausten. „Aber wie sollen wir den Tiertitanen erledigen?", setzte Dirk noch knurrend hinzu. „Er sitzt da ganz gemütlich und bewegt sich kein Stück."
„Ja", stimmte Levi zu und wurde durch den Wahrheitsgehalt in dieser Aussage nur noch wütender. „Scheint als wäre er ein Feigling", spottete er in seinem nüchternen Tonfall. „Es ist ja nicht so, als ob er jemals Eier gehabt hätte." Neben ihm prustete Motte schon wieder los, aber er ignorierte es gekonnt.
„Du machst eine Pause", beschloss Dirk an Levi gewandt. „Wir werden uns um die übrigen Kurzen kümmern." Ehe Levi etwas erwidern konnte, gab er seiner Einheit den Befehl zum Aufbruch und sie schossen davon. Levi nahm sich diesen einen Moment Ruhe und ließ kurzzeitig seine Anspannung fallen.
„Denkst du, dass es Hanji und den anderen gut geht?", fragte Motte ihn. Er wandte sich ihr zu und bemerkte, dass sie immer noch zur Mauer blickte. Sie sprach von der Explosion.
„Das kann man nur hoffen", erwiderte er, woraufhin sie ihm einen missbilligenden Blick schenkte. Anscheinend hatte sie seine Worte von vorhin noch nicht vergessen.
„Wenn du das sagst, klingt selbst das noch pessimistischer als sowieso schon", grummelte sie. Allerdings merkte er, dass sie nicht sauer auf ihn war. Sie schien sich einfach tierische Sorgen zu machen.
„Ich werde mich hier beeilen", versprach er, „und gehe danach sofort rüber, um zu..."
Er brach erschrocken ab, als etwas Kleines blitzschnell durch Mottes Kopf flog; ein perfekter Kopfschuss, hätte sie einen Körper gehabt. War das ein Stein gewesen?
„Huch?", machte sie erschrocken und fasste sich an ihre Schläfen. „Was war das?"
Nicht nur einer; durch sein Blickfeld flogen noch mehr Steine, alle so schnell wie Pistolenkugeln. Um sie beide herum wurden Löcher in die Häuser gerissen. „Was zur...?!", entwich es ihm und er blickte in die Richtung, aus der die Geschosse geflogen kamen. Dort, wo der Tiertitan saß. Allerdings stand er nun.
Levis Augen weiteten sich vor Entsetzen, als er noch etwas bemerkte: Die vordersten Häuser wurden nicht nur durchlöchert, sondern regelrecht durch eine scheinbar unsichtbare Kraft in die Luft gerissen. Und mit ihnen die Soldaten, die sich dort befanden. Es schien, als würde eine Druckwelle auf sie zurasen, und Levi begriff, dass die paar Steine gerade nur die Vorhut gewesen waren und ihm keine Sekunde mehr blieb.
Er hatte nicht einmal mehr Zeit, der immer noch verdutzen Motte eine Warnung zuzurufen. Das letzte, was er sah, ehe er sich hinter einem kleinen Glockenturm rettete, waren blutrote Wolken, die sich zusammen mit den zerstörten Bauten und dem Kreischen und zerfetzten Körpern seiner Mitstreiter in die Luft erhoben.
Kaum einen Augenblick später krachten unzählige Steine um ihn herum ein wie eine Batterie mit Geschossen in allen Größen. An Levis Ohren drangen nicht nur die Schreie der anderen Soldaten, sondern nun auch Mottes, die nur einen Moment langsamer reagierte als er.
Auch sie flüchtete sich hinter den Glockenturm, presste sich instinktiv gegen dessen Mauer und kauerte sich so in Levi zusammen, wo sie verharrte. Ihrer Kälte so lange am Stück ausgesetzt zu sein, bereitete ihm Gänsehaut am ganzen Körper, aber er hatte momentan viel größere Probleme. „Bist du verletzt?!", brüllte er gegen den Lärm an.
Sie verneinte wimmernd und dennoch tobte Levi innerlich. Das war das zweite Mal heute, dass sie heute gestorben wäre, wenn sie wie jeder andere auch einen normalen Körper besessen hätte.
Er war stinksauer. Aus vielerlei Gründen.
Nach wenigen Sekunden beruhigte sich ihre Umgebung wieder und Levi hörte Motte heftig atmen. Während sie sich nicht bewegte, sprang er schnell hinter dem Turm hervor, um sich einen Überblick zu verschaffen. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen.
„Was war das gerade?", heulte Motte leise.
Levi spürte puren Hass in sich aufflammen, als er die haarige Gestalt in der Ferne wahrnahm. Das hässliche Gesicht, das er von der Mauer aus nicht hatte sehen können, grinste breit. „Der Tiertitan!", knurrte er zornig.
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