Der Glanz der Finsternis
Sebastian und Jim hatten sich gestritten. Das taten sie ständig und es war okay. Sie führten keine normale Beziehung. Natürlich nicht - Sebastian war ein Scharfschütze, ein Auftragskiller, jemand der sich seine Brötchen verdiente, indem er Menschen tötete und von Jims Beruf musste er garnicht erst anfangen nur, dass es bei ihm schon lange nicht mehr um Brötchen ging. Wenn Jim einen Streit provozierte - und es war immer Jim - verschwand Sebastian einfach für ein paar Stunden. Täte er das nicht, würde die ganze Sache in einem Blutbad enden: Im wahrsten Sinne des Wortes. Mittlerweile kannte er sich weil er auf der Flucht vor Jims Wutausbrüchen war in fast allen teuren Stadtbezirken aus. Eben jene, die Jim was die Wahl seiner Hotels anging bevorzugte. Sebastian waren sie zu wider: Die glänzenden Oberflächen, die strahlenden Fassaden und die geleckten Straßen. Aber er war bereits zufrieden damit, der Enge des Hotelzimmers entkommen zu sein. Sie übten einen undefinierbaren Druck auf Sebastian aus - auch wenn er immer mit Jim allein war. Daran, dass dieser nie etwas anderes als luxuriöse Anzüge trug hatte er sich gewöhnt und daran, dass dies kein Dress -Code, sondern sein persönlicher Geschmack war. Was er jedoch nicht ablegen konnte, war das Gefühl der Beklommenheit, dass ihn in der sterilen Helligkeit der Räumlichkeiten überkam.
Als er den Bezirk hinter sich gelassen hatte und in die dunkleren Gegenden Londons eintauchte, atmete er auf. Sie gehörten zu der Stadt genauso wie alles andere. Jim sagte immer, dass es auf der ganzen Welt keine Stadt gab, die dieser gleich kam. Sie hätte so viel Dunkelheit und Schatten von einer Tiefe, wie man sie nirgendwo anders auf der Welt fand. Sein Boss hatte ein Gespür für die Verdorbenheit - in Städten wie in Menschen.
Er und Jim waren schon viel gereist. Sie waren zusammen in Paris gewesen, in Berlin, Washington und Rom. Die meisten Menschen hatten einen Ort, an dem sie sich zuhause fühlten - einen Ort an dem sie tun und lassen konnten, was sie wollten; den sie in und auswendig kannten und der ihnen gehörte. Vielleicht das Haus der Eltern oder bei der Familie. Für Jim war dieser Ort London geworden. Sebastian bezweifelte, dass der Consulting Criminal ein Mensch war, der jemals sein wahres Gesicht zeigte, wenn er nicht allein war. Aber dennoch war Sebastian vermutlich der Mensch, der Jim am allerbesten einschätzen konnte und tatsächlich war diese endlose Vitalität; der Tatendrang; die Euphorie, die er bei ihm wahrnahm außerhalb von London verschwunden.
Auch für Sebastian war die Hauptstadt zur Heimat geworden. In Irland hatte er sich nie zuhause gefühlt. Nicht in Cork, wo er aufgewachsen war und auch nicht während seiner Zeit an der irischen Militärschule. Das war auch der Grund, aus dem Sebastian nach dem Tod seiner Armee Karriere nicht dorthin zurück gekehrt war. Warum er sich jedoch gerade für London entschieden hatte, wusste er selbst nicht so genau, aber er war froh darüber. Die Metropole war jetzt sein Zuhause, mit ihren hellen, genauso wie mit ihren dunklen Seiten. Jim und er selbst gehörten ohne Frage auf die Schattenseite. Sie waren in gewisser Weise fehl am Platz in den prächtigen Hotels und Restaurants, aber Jim war ja nicht irgendwer. Er war James Moriarty und auch wenn die meisten Menschen mit denen er korrespondierte nur seine Initialen kannten, war er doch der wohl gefährlichste Mann in den Straßen Londons und Sebastian war sein Schatten. Für gewöhnlich sah man die beiden nicht zusammen. Sie operierten einfach in anderen Kreisen. Sebastian machte die Drecksarbeit, während Jim die Fäden zog und es war gut so, aber dennoch: Um jeden, der etwas mit Sebastian zu tun hatte sponn sich Jims Netz weiter - um Sherlock Holmes Metapher einer Spinne zu gebrauchen. Und es war immer Sebastian, der sein Gewehr auf denjenigen richtete, der mit seinem Boss verhandelte. Die wichtigsten Aufträge kamen immer ihm zu und dabei schickte ihn Jim überallhin. Er hatte schon Aufträge auf der ganzen Welt ausgeführt und auch wenn er so etwas wie Zuneigung für diesen kleinen, anzügetragenden und vielleicht ein wenig sadistisch veranlagten Mann empfand, so war er doch immer wieder froh, wenn er für ein paar Stunden oder Tage in eine andere Stadt, in ein anderes Land fliehen konnte. Und jedesmal war er wieder froh, wenn sein Taxi ihn vor Jims derzeitigem Hotel absetzte. Einerseits wegen der Stadt, andererseits aber auch wegen dem Consulting Criminal selbst. Und das, obwohl Jim niemals auch nur ein "schön, dass du wieder da bist.", für ihn übrig hatte. Meistens war er nicht einmal da, kam erst spät in das Hotelzimmer und arbeitete von dort weiter. Jim arbeitete eigentlich rund um die Uhr und so hatte sich auch ihre Beziehung, nie ganz von der kühlen Beruflichkeit ihres Verhältnisses abgelöst. Jim war sein Boss und, dass sie gelegentlich miteinander schliefen, änderte nichts daran. Keinem von ihnen machte das etwas aus. Jim ohnehin nicht und Sebastian versuchte, nicht mehr als das zu erwarten. Eigentlich konnte er sich geehrt fühlen - allein der Tatsache wegen, dass er nach all seinen Konflikten mit Jim noch lebte. Das war alles andere als selbstverständlich aber er konnte einfach keine Dankbarkeit dafür aufbringen.
Sebastian schämte sich dafür, dass er so viel über Jim und sich nachdachte - der tat das vermutlich nie - aber ändern konnte er daran nichts. Er als professioneller Scharfschütze kannte Techniken, mit deren Hilfe sich Zweifel und störende Grübeleien abschalten ließen, aber bei Jim blieb jede von ihnen wirkungslos. Er war ihm in gewisser Weise ausgeliefert, aber an seiner Lage konnte und -wie er zugeben musste- wollte er nichts ändern.
Sebastian hatte noch nie jemanden getroffen, der wie Jim war. Niemanden der besser auf sich selbst aufpassen konnte und den Sebastian dennoch mit jeder Faser seines Körpers beschützen wollte. Niemanden der ihm mehr Schmerzen bereitet hatte und dem er jede Narbe und jede Träne verzieh. Und niemanden, der mit einer solchen Intensität lebte ohne zu lieben.
Jim war in jeder Hinsicht außergewöhnlich, er war bewundernswert und verabscheuenswürdig, er war hingebungsvoll und abgeklärt, er war sanft und brutal. Und Sebastian hatte jede dieser Facetten erlebt. Jenes tief schwarze und gleißend helle Individuum, das Jim war. Diese beiden Teile der selben Person, die in einer Harmonie miteinander lebten, die er noch bei keinem Menschen gesehen hatte. Am allerwenigsten bei sich selbst.
Und dieser Einklang von Licht und Schatten war es, der James Moriarty ausmachte. War es, der ihn erblühen ließ. Der Sebastian erblühen ließ.
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