Vergiss mein nicht

Vergiss mein nicht

Ich starrte vor mich hin und wusste nicht, was ich denken oder fühlen sollte. Es waren nun schon einige Tage seit den Ereignissen verstrichen, aber ich war immer noch erschüttert über das, was geschehen war.
Sherlock hatte Magnussen getötet! Er hatte ihn erschossen und mit dieser Tat wahrscheinlich sein eigenes Schicksal besiegelt. Und obwohl ich sogar verstehen konnte, warum er es getan hatte...so wünschte ich mir trotzdem vergeblich, dass er es nicht getan hätte.

Ein Polizist riss mich aus meinen Gedanken, als er mich zu sich winkte und ich folgte ihm. Nachdem Sherlock Magnussen getötet hatte, war er vorerst eingesperrt worden und man hatte uns alle nicht zu ihm gelassen. Allerdings hatte Greg seine Beziehungen spielen lassen und so hatte man mir die Erlaubnis für einen einzigen Besuch erteilt. Und dieser Besuch war heute!
Schweigend folgte ich dem Polizisten und nahm nur am Rande die kalten bleichen Wände wahr, die uns umgaben. Natürlich war ich nicht zum ersten Mal im Gefängnis, aber die Gewissheit, dass Sherlock nun wegen Mordes möglicherweise für den Rest seines Lebens in eins gebracht werden könnte, brachte mich an den Rand der Verzweiflung.

Wir erreichten schließlich eine verschlossene schwere Eisentür, wo ein Polizist als Wächter stand. Er trat zur Seite, damit sein Kollege die Tür aufschließen konnte und als er dies tat, sah er mich ernst und ohne jegliche Reaktion an.

,,Fassen Sie sich kurz, Sergeant Headley! Eigentlich darf niemand zu ihm."

Er zog die Tür auf und ich ging schließlich in die Zelle, woraufhin gleich wieder die Tür hinter mir geschlossen wurde. Ich zuckte daraufhin ein wenig zusammen, ehe mein Blick zu Sherlock wanderte. Er lag auf dem Einzelbett der Zelle und hatte die Augen geschlossen, aber natürlich hatte er gehört, dass jemand reingekommen war.

,,Evelyn!", brachte er hervor und ich sah überrascht zu ihm, als er die Augen öffnete und mich schmunzelnd ansah. ,,Ich wusste, dass du kommen würdest."

,,Was machte dich da so sicher?"

,,Naja,", er setzte sich auf und erhob sich vom Bett, während er mit den Schultern zuckte. ,,die Wahrscheinlichkeit, dass du mir bezüglich meines Mordes an Magnussen noch persönlich einen Vortrag halten würdest, war sehr hoch. Außerdem hat Mycroft mich informiert."

Er stand so gelassen da, als wäre nichts gewesen und das machte mich eigentlich ein wenig wütend. Immerhin hatte er wahrscheinlich sein ganzes Leben durch sein Vorgehen ruiniert und er schien das einfach hinzunehmen. Aber ich wollte meinen Besucht nicht mit einer heftigen Auseinandersetzung beginnen, weshalb ich die Arme vor der Brust verschränkte und Sherlock vielsagend ansah.

,,Tja, was soll ich sagen, Sherlock...du machst keine halben Sachen. Anstatt Magnussen einfach festzunageln, legst du ihn gleich um. Respekt! Für ein grenzenloses Genie warst du diesmal ein absoluter Vollidiot!"

Ich sagte die Worte ohne eine Miene zu verziehen und das brachte schon genug zum Ausdruck, wie sauer ich war. Sherlock schwieg einen Moment, ehe er mich nachdenklich betrachtete und seine Schlussfolgerung zog.

,,Du bist wütend, weil ich dich außer Gefecht gesetzt habe.", meinte er, aber mein Blick verfinsterte sich.

,,Nein! Ich bin wütend, weil du mich nicht in deinen idiotischen Plan eingeweiht hast. Aber das hast du mit Sicherheit nicht getan, weil du genau wusstest, dass es falsch war, was du vorhattest. Verdammt, Sherlock...für jede Kleinigkeit holst du mich ins Boot oder zitierst mich in die Baker Street. Aber bei solchen Dingen musst du ja unbedingt einen Alleingang starten und versuchst gar nicht erst, eine andere Lösung zu finden.", fuhr ich ihn an, doch er blieb ruhig.

,,Es war die einzige Möglichkeit, damit Mary in Sicherheit ist."

,,Dafür hätten wir sicher einen anderen Ausweg gefunden. Hast du auch nur eine Minute darüber nachgedacht, was dein Handeln für Folgen haben könnte? Du hast keine Ahnung, wie wir uns alle deshalb fühlen. John, Mary, deine Eltern, ich...selbst Mycroft", ich machte eine Pause und seufzte. ,,Wir hätten zusammen eine Lösung finden können. Aber du musstest ja unbedingt auf James Bond machen und eine Kugel abfeuern."

Ich redete mich in Rage und Sherlock schwieg. Es machte mich fast wahnsinnig, dass er so wenig sagte. Denn ich wusste dadurch nicht, ob es ihm egal war oder ob er einfach selbst nicht wusste, was er zu seiner Verteidigung vorbringen sollte. Langsam erlangte ich meine Fassung wieder und sah Sherlock nun niedergeschlagen an.

,,Sherlock, du hast einen Menschen getötet. Dafür können sie dich für den Rest deines Lebens einsperren. Ich hoffe, das ist dir klar."

,,Ja, das könnten sie...aber das werden sie nicht.", erwiderte Sherlock und ich warf ihm nur einen sarkastischen Blick zu.

,,Warum nicht? Weil du Sherlock Holmes bist? Das wird dich dieses Mal auch nicht retten können."

,,Sie werden mich nicht einsperren, weil sie eine andere Bestrafung über mich verhängt haben.", erklärte Sherlock und sah mich nun ausdruckslos an. ,,Sie schicken mich ins Exil."

Ich stand einen Moment lang da und wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Wie kam die Polizei denn bitte auf so einen Gedanken? Verwirrung machte sich in mir breit und ich verstand nun gar nichts mehr.

,,Ins Exil? Wie kamen sie denn auf den Trichter?"

,,Was soll ich sagen..." Sherlock zuckte lässig mit den Schultern. ,,Mein Bruder kann sehr überzeugend sein."

Perplex starrte ich ihn an, aber das hielt nicht lange an. Daher wehte also der Wind. Natürlich war mir klar gewesen, dass Mycroft sämtliche Hebel in Bewegung setzen würde, um ein mildes Urteil für seinen Bruder auszuhandeln. Aber dass als Ergebnis dafür das Exil heraussprang, das überraschte mich.

,,Das hätte ich mir ja denken können. Tja, Queen Mycroft als Bruder in der Regierung zu haben...das scheint wirklich von Vorteil zu sein.", meinte ich und schwieg für einen kurzen Moment, bis ich Sherlock wieder ansah. ,,Wie lange schicken sie dich fort?"

,,Für 6 Monate!", antwortete Sherlock knapp und ich sah ihn erschüttert an.

,,Ein halbes Jahr?"

Er nickte nur stumm und ich spürte, wie sich alles in mir verkrampfte. Die Zeit mochte ja schnell vergehen, aber 6 Monate waren trotzdem eine lange Zeit. Und ich wusste schon jetzt, dass wir alle Sherlock schrecklich vermissen würden, aber ich durfte mich davon nicht überwältigen lassen. Deshalb riss ich mich zusammen und versuchte, zuversichtlich zu sein.

,,Nun...ist immerhin besser, als dich für den Rest deines Lebens im Gefängnis besuchen zu müssen. Dann können wir wohl nur hoffen, dass die Zeit schnell vergeht und nicht zu viele Katastrophen London bis zu deiner Rückkehr heimsuchen.", meinte ich, doch Sherlock wirkte nun selbst etwas mitgenommen, denn er sah nun betreten zu Boden.

,,Ich werde nicht zurückkehren, Evelyn."

Verwirrt sah ich ihn an und wusste nicht, was das bedeuten sollte. Wollte Sherlock etwa gleich auswandern? Natürlich hatte ich nicht erwartet, dass die ganze Sache spurlos an ihm vorbeiging, aber für so sentimental hatte ich ihn dann doch nicht gehalten.

,,Was soll das heißen?", hakte ich nach, aber Sherlock senkte nur weiter den Blick, was für mich Antwort genug war. ,,Dieses Exil...das ist keine Strafe...es ist ein Selbstmordkommando...hab ich Recht?", brachte ich erstickt hervor und Sherlock wagte immer noch nicht, mich anzusehen.

,,Sie können mich nicht einsperren, also..."

,,Schicken sie dich in den sicheren Tod? Das dürfen sie nicht.", platzte es aus mir heraus, aber Sherlock sah mich nun eindringlich an.

,,Sie müssen, Evelyn und ich habe dem zugestimmt."

,,Du hast..."

Ich konnte den Satz nicht einmal beenden, denn ich war so erschüttert über seine Worte, dass es mir für einen Moment die Sprache verschlagen hatte. Aber dann versuchte ich, Sherlock ins Gewissen zu reden.

,,Sherlock, bist du noch zu retten? Die wollen dich umbringen und du hast nicht einmal vor, sie daran zu hindern? Warum hast du dir denn nicht von mir helfen lassen? Oder mir wenigstens gesagt, was du vorhast? Ich hätte dich davon abgehalten!"

,,Weil sie dich sonst mit zur Verantwortung gezogen hätten und das konnte ich nicht zulassen. Du hast schon einmal alles riskiert, um John und mir damals die Flucht zu ermöglichen, als mich jeder für einen Verbrecher hielt. Noch einmal konnte ich das nicht von dir verlangen."

Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, denn ich konnte mich nicht erinnern, dass Sherlock mir gegenüber je zuvor so selbstlos gewesen war. Es trieb mir fast schon Tränen in die Augen, doch ich riss mich zusammen.
Warum hatte er das nur getan? Ich hätte doch alles getan, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen und dann müsste er jetzt nicht ins Exil gehen, was seinen sicheren Tod bedeutete. Schon damals, als wir Sherlock zwei Jahre für tot gehalten hatten, war London nicht mehr das gewesen, was es vorher war und jetzt würde Sherlock wirklich nie wieder zurückkehren. Wie sollten wir alle nur ohne ihn weitermachen können?

,,Was ist mit...John...und Mrs Hudson...mit deinen Eltern?", sagte ich niedergeschlagen und Sherlock wirkte nun selbst etwas angeschlagen.

,,John sage ich es, bevor ich fliege. Mycroft wird es unseren Eltern auf seine Weise schonend beibringen und Mrs. Hudson wird es sicher auch bald erfahren. Sie werden es verstehen."

,,Wie sollen sie das verstehen können, Sherlock?", widersprach ich ihm. ,,Du gehst fort und kommst nie wieder."

,,Ich weiß! Aber eine andere Wahl werdet ihr alle nicht haben. Es ist der einzige Weg und das müsst ihr akzeptieren. Das muss ich auch. Und dieses Mal...hab ich immerhin die Gelegenheit, mich von euch zu verabschieden!"

Sherlock lächelte kaum merklich, aber ich war am Boden zerstört. Ich spürte erneut, dass ich den Tränen nahe war und ich konnte nicht glauben, dass ich Sherlock ein weiteres Mal verlieren würde. Als mir die Tränen schließlich über die Wangen liefen, hielt ich sie nicht zurück und ließ sie zu. Das kleine Lächeln von Sherlock verschwand und bevor ich noch etwas sagen konnte, ergriff er mit einem Mal die Initiative und umarmte mich zögerlich. Ich schloss meine Arme ebenfalls um ihn und hätte ihn am liebsten nie wieder losgelassen.

,,Bitte pass auf John auf. Wir wissen beide, dass er sich nur zu gerne in die Gefahren stürzt.", sagte Sherlock leise und ich nickte kaum merklich.

,,Das werde ich."

Ich konnte spüren, wie Sherlock sich ein wenig entspannte. Für einen Moment verblieben wir noch so, bis Sherlock sich langsam aus der Umarmung zurückzog und mich plötzlich unsicher ansah.

,,Kannst du mir noch einen Gefallen tun?", fragte er und ich hatte Mühe, von meinen Gefühlen nicht völlig überwältigt zu werden.

,,Falls du mich jetzt wieder darum bittest, dir zu verzeihen, wie du es damals am Telefon getan hast...dann vergiss es. Diesmal mache ich es dir nicht so leicht."

Obwohl die Situation ja keine Schöne war, konnte sich Sherlock ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen. Aber er schüttelte den Kopf und warf mir einen zuversichtlichen Blick zu.

,,Nein, keine Sorge...darum bitte ich dich nicht. Nur darum, mich nicht vollkommen zu vergessen, wenn ich weg bin."

Ich sah Sherlock an und für einen Moment konnte ich wieder einmal nichts sagen. Genau wie damals war ich ergriffen und unendlich verzweifelt zugleich, aber ich brachte trotzdem ein Nicken zustande.

,,Werde ich nicht. Das könnte ich gar nicht."

Sherlock lächelte kaum merklich und mir war klar, dass dies nun unser Abschied war. Ein lautes Hämmern an der Tür ließ mich zusammenzucken und ehe ich etwas sagen konnte, sah Sherlock mich vielsagend an.

,,Du solltest gehen. Bevor sie dich noch raus schleifen müssen.", meinte er, doch genau in diesem Moment kehrte meine Schlagfertigkeit zurück.

,,Das sollen sie mal versuchen. Vorher befördere ich sie ins Reich der Bewusstlosigkeit."

Sherlock musste sich ein Grinsen verkneifen und ich musste selbst etwas schmunzeln. Aber ich wusste auch, dass Sherlock Recht hatte, denn die Zeit des Besuchs war vorbei. Ich wusste sowieso nicht, was ich noch sagen könnte, denn es würde die Situation nicht einfacher machen. Und am Ende würde ich ohnehin wahrscheinlich nur einen Nervenzusammenbruch erleiden oder Sherlock eigenhändig entführen, um ihn so am Leben zu erhalten. Langsam wandte ich mich von Sherlock ab und war bereits drauf und dran, zur Tür zu gehen, als ich noch einmal innehielt.

Sherlock würde gehen! Er würde ins Exil verschwinden und nie wieder zurückkehren. Normalerweise wäre dies natürlich die beste Lösung, wodurch ich auch definitiv den nötigen Abstand zu ihm bekommen würde, aber diese Mission würde in seinem Tod enden und dieses Mal würde ich ihn wirklich nie wiedersehen. Und diese Gewissheit zerriss mir förmlich das Herz und ich hatte das Gefühl, dass ein Teil von mir gleich mit ihm sterben würde.

Ich wusste, dass ich nicht so denken durfte und ich wusste auch, dass ich nicht so empfinden durfte. Immerhin war ich mit Ezra verlobt und er war auch definitiv der Richtige für mich. Doch in dieser Sekunde, mit der Gewissheit Sherlock niemals wiedersehen zu können, siegte mein Herz schließlich über meinen Verstand. Und ehe ich selbst wusste, wie mir geschah, drehte ich mich um, ging auf Sherlock zu und küsste ihn.

Er schien zunächst überrumpelt zu sein, denn er wirkte in der ersten Sekunde wie erstarrt, doch dann erwiderte er den Kuss und ich spürte, wie er seine Hände zögerlich an meine Arme legte. Ich tat es ihm gleich und die Zeit schien stehen geblieben zu sein, bis wir unseren Kuss schließlich beendeten und einen kurzen Blick tauschten.
Mir war nicht einmal klar, warum ich das getan hatte, aber ich hatte es getan und bereute es nicht einmal. Es war meine Art gewesen, mich von Sherlock zu verabschieden und auch, wenn dies mit Sicherheit falsch gewesen war, so nahm ich es in Kauf, wenn ich dafür irgendwann in der Hölle schmoren würde.

Sherlock sah mich an und sagte nichts. Ich wusste nicht, was in diesem Augenblick in seinem Kopf vorging und ich war auch viel zu durcheinander, um mir darum Gedanken zu machen. Ich wusste nur, dass ich diesen Raum verlassen musste, bevor ich noch jegliche Vorsätze vergaß und möglicherweise weiterging, als ich es bis jetzt getan hatte.

,,Ich...ich muss gehen.", sagte ich mit erstickter Stimme und sah Sherlock ein letztes Mal an, ehe ich mich erneut von ihm abwandte und an die Tür klopfte.

Augenblicklich wurde sie geöffnet und ich verließ die Zelle, woraufhin man sie wieder schloss. Einen kurzen Augenblick blieb ich noch stehen und spürte, wie mein Herz regelrecht raste.
Es war wieder passiert! Nur dieses Mal hatte ich Sherlock geküsst und nicht umgekehrt. Und obwohl ich Schuldgefühle bezüglich Ezra hatte...ich bereute es nicht und das verunsicherte mich zutiefst. Nur einer Sache war ich mir absolut sicher: dies war der letzte Kuss gewesen!

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