Tribute des Lebens

Tribute des Lebens

Die Mittagssonne schien, als ich im Taxi saß und aus dem Fenster sah. Abwesend strich ich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und mein Blick verlor sich in der Ferne, als mit einem Mal die Erinnerungen an die Geschehnisse des Aquariums zurückkehrten und ich zusammenzuckte.

6 Monate! 6 Monate waren vergangen, seit es zwischen uns allen und Vivian Norbury zur Abrechnung gekommen war und Mary sich geopfert hatte, um Sherlock das Leben zu retten. Seitdem hatte sich Einiges verändert und nichts war mehr, wie es einmal war.
Zwar hatte ich den Tod von Mary mittlerweile einigermaßen verkraftet, aber nachts suchten mich die Albträume der schrecklichen Ereignisse heim und manchmal ertappte ich mich dabei, wie ich glaubte, Mary stünde für einen Moment wahrhaftig vor mir. Doch dann holte mich meistens Ezra zurück in die Realität und ich musste jedes Mal aufs Neue schmerzlich realisieren, dass Mary tot war.

Und ihr Tod hatte bei uns allen seine Spuren hinterlassen. Sherlock und John gingen seit jenem Tag getrennte Wege und beide hatte ich seitdem auch nicht mehr zu Gesicht bekommen. Auch Mrs. Hudson hatte ich nicht mehr gesehen, seit ich der Baker Street den Rücken gekehrt hatte und obwohl es mir immer noch schwer fiel, so war es dennoch das Beste gewesen.

Sherlock hatte sich, laut Molly und meinem Partner Greg, in seiner Wohnung verbarrikadiert und setzte keinen Fuß mehr vor die Tür. Mir war klar, dass er unter dem Bruch mit John litt, aber ich vermutete, dass seine Schuldgefühle die Hauptursache waren.
Als Mary sich vor ihn geworfen hatte, um ihn vor der tödlichen Kugel zu bewahren, hatte Sherlock unter Schock gestanden und sein Schwur sie zu beschützen, war in einer einzigen Sekunde gebrochen worden. Und ich befürchtete, dass er mit dieser Schuld nur schmerzhaft leben konnte. Denn, ganz gleich wie oft man Sherlock auch sagte, dass es nicht seine Schuld gewesen war...so sah der Detektiv das vollkommen anders.

Und auch John sah das offenbar so. Denn obwohl ich ihn nicht mehr gesehen hatte, seit wir Mary beerdigt hatten, manchmal schrieb ich mit ihm und sobald ich das Thema Sherlock ansprach, blockte er ab und dann herrschte für mehrere Tage Funkstille. Und ich hatte es auch aufgegeben vermitteln zu wollen, denn diese Angelegenheit konnten nur die beiden unter sich regeln.

Das Taxi hielt schließlich bei der Adresse und ich gab dem Fahrer das Geld, ehe ich ausstieg und er davon rauschte. Mein Blick fiel auf das Haus und ich war ziemlich verwundert, was es mit dieser Adresse auf sich hatte.
Vor zwei Wochen hatte ich von John eine Nachricht mit dieser Adresse bekommen und seiner Bitte, dass ich heute herkommen sollte. Wieso und worum es bei dieser Verabredung ging, das hatte er nicht erwähnt und außer dieser Nachricht hatte ich auch nichts von ihm gehört.

Ich holte tief Luft, denn ich war irgendwie ein bisschen nervös. Es war ein komisches Gefühl, nach so langer Zeit John wiederzusehen und ich fragte mich, ob er sich verändert hatte. Und da es nur eine Möglichkeit gab das herauszufinden, klingelte ich schließlich.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich die Tür öffnete und eine fremde Frau sah mich überrascht an. Sie hatte schulterlange gräuliche Haare, braune Augen und trug eine Brille, während sie mich neugierig musterte und den Kopf schräg legte.

,,Kann ich Ihnen helfen?"

,,Ähm, ja...ich...ich wollte eigentlich zu John Watson. Ich bin mit ihm verabredet.", erwiderte ich und sie schenkte mir ein höfliches Lächeln.

,,Ach, tatsächlich? Dann kommen Sie doch bitte rein. Er ist im Wohnzimmer."

Die Frau gewährte mir Zutritt und ich betrat das Haus, welches offenbar ihr zu gehören schien. Mit Skepsis betrachtete ich die Frau, die nun an mir vorbei ging und ins Wohnzimmer marschierte, wohin ich ihr kurzer Hand folgte. Wer war sie nur und was hatte John mit ihr zu schaffen?

,,Sie haben Besuch, John!"

Es war hell und offen und ich entdeckte John, der in einem stuhlartigen Sessel saß und seinen Kopf in meine Richtung wandte. Als er mich sah, war sein Blick von Überraschung und ziemlicher Verwirrung erfüllt.

,,Evelyn?", brachte er hervor und ich hob meine rechte Hand zur Begrüßung.

,,Hey, John! Lange nicht gesehen."

,,Ja...in der Tat. Was machst du hier?", fragte er und nun sah ich ihn irritiert an.

,,Ähm...ich dachte, du sagst es mir. Immerhin hast du mich ja herbestellt."

Ich sah John erwartungsvoll an, doch dieser war eindeutig verblüfft über meine Aussage. Was sollte dieses Theater eigentlich? Hatte er etwa schon vergessen, dass er mir eine Nachricht geschickt hatte? Dann stand es schlimmer um ihn, als ich dachte.

,,Sie sind Evelyn Headley...John hat mir von Ihnen erzählt.", äußerte die Frau, die einen Akzent hatte, den ich nicht ganz einordnen kann und ich sah sie etwas überfordert an.

,,Verzeihung...wer sind Sie noch gleich?"

,,Sie ist meine Therapeutin.", entgegnete John und erhob sich aus dem Sessel, während ich vielsagend nickte.

,,Aha...verstehe."

,,Möchten Sie vielleicht auch reden, Miss Headley? Die vergangenen Ereignisse sind für Sie doch sicher auch nicht einfach.", meinte sie, aber ich winkte ab.

,,Nein, danke! Ich habe noch nie gerne über die Vergangenheit gesprochen und ich breche ungern mit meinen alten Traditionen. Zum letzten Mal, John...was mache ich hier?"

,,Ich könnte dich genauso gut fragen. Wir haben uns seit 6 Monaten nicht gesehen und auf einmal stehst du im Haus meiner Therapeutin, wo du von mir wissen willst, warum du hier bist. Ziemlich verwirrend, findest du nicht?", raunte er mir entgegen und ich zog mein Handy aus der Tasche, ehe ich ihm die Nachricht präsentierte.

John warf einen Blick darauf und als er seinen Namen als Schlussbild sah, schüttelte er ungläubig den Kopf und deutete anklagend auf mein Smartphone.

,,Die Nachricht ist nicht von mir."

,,Oh, wirklich? Von wem soll sie denn sonst sein?", widersprach ich und John breitete einladend die Arme aus.

,,Keine Ahnung! Vielleicht war es ein Scherz oder die SMS ist von jemand anderem namens John. Ich bin sicher nicht der einzige englische Bürger, der so heißt."

Ich sah John irritiert an, denn er schien wirklich nichts von dieser Nachricht zu wissen. Verwundert sah ich auf mein Handy und fragte mich, wer mir dann diese merkwürdige SMS geschickte hatte. Aber bevor ich weitere Äußerungen von mir geben konnte, meldete sich Johns Therapeutin wieder zu Wort.

,,Vielleicht hat Sherlock Holmes versucht, auf diese Weise Kontakt mit Ihnen aufzunehmen.", meinte sie, aber ich schnaubte verächtlich.

,,Das ist vollkommen ausgeschlossen!"

,,Was macht Sie da so sicher?", hakte sie nach und ich suchte nach den richtigen Worten.

,,Naja, weil..."

Ich suchte nach der richtigen Antwort, aber ich fand keine. Aber ihre Theorie war ja auch absoluter Schwachsinn. Sherlock würde niemals auf so eine Weise Kontakt aufnehmen, denn das wäre viel zu dezent für ihn. Und das brachte die Erklärung von John so ziemlich genau auf den Punkt.

,,Evelyn hat Recht! Er kann es nicht gewesen sein. Denn, wenn Sherlock Holmes Kontakt aufnimmt...kann einem das nicht entgehen."

Kaum, dass John die Worte ausgesprochen hatte, ertönte von draußen ohrenbetäubender Lärm und ich sah nur noch, ein rasendes Auto am Fenster vorbei rauschen, als die Reifen quietschend durchdrehten und der Wagen die Mülltonne im hohen Bogen durch die Luft beförderte.

John und ich sahen uns perplex an, ehe wir, von seiner Therapeutin gefolgt, nach draußen eilten und aus dem Haus eilten. Und dort bot sich uns ein Anblick, den ich mein Leben lang nicht wieder vergessen würde.
Eine Kavallerie von Polizeiwagen stand kreuz und quer auf der Straße, über uns kreiste ein Helikopter und direkt vor der Haustür parkte der sportliche Flitzer, der in einem knalligen Rot nicht gerade unauffällig war.

,,Was zum Teufel...", setzte ich an, aber ich brachte den Satz einfach nicht fertig.

John war genauso sprachlos wie ich und wir starrten beide auf dieses skurrile Schauspiel, das sich uns darbot. Die Therapeutin von John schien das alles jedoch völlig gelassen zu nehmen, denn sie zuckte nur mit den Schultern und sah uns vielsagend an.

,,Nun ja, also...wollen Sie mich nicht vorstellen?"

Doch weder John und ich waren dazu gerade in der Lage und als sich auf einmal die Fahrertür des Sportwagens öffnete und der Fahrer ausstieg, fiel mir förmlich die Kinnlade runter.

,,Mrs. Hudson?"

,,John! Evelyn!"

Mrs. Hudson schien unglaublich erleichtert zu sein, uns zu sehen und wollte schon auf uns zueilen. Doch da kam schon ein Polizist auf sie zu und warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu.

,,Hey, warten Sie! Bleiben Sie da stehen!"

,,Oh, John...", setzte sie an und der Polizist warf ihr einen kritischen Blick zu.

,,Wissen Sie eigentlich, wie schnell Sie gefahren sind, Lady?"

,,Nein! Natürlich nicht.", raunte Mrs. Hudson ihm mit einer Spur von Empörung entgegen. ,,Ich hab telefoniert! Oh, ist übrigens für Sie.", sagte sie und drückte dem Polizisten ihr Handy in die Hand.

,,Für mich?"

,,Es ist die Regierung!", war Mrs. Hudsons einzige Erklärung, ehe sie den Beamten stehen ließ und auf John und mich zukam. ,,Evelyn, Sie sind ja auch hier...Gott sei Dank!"

,,Mrs. Hudson...was soll...das alles hier?", brachte ich hervor und auch John sah seine ehemalige Vermieterin besorgt an.

,,Was ist passiert?"

,,Es geht um Sherlock! Ihr Zwei...ihr habt ja keine Ahnung, was ich durchgemacht habe."

Mrs. Hudson schlang die Arme um John und überforderte ihn mit einer verzweifelten Umarmung. Die Ärmste schien vollkommen durch den Wind zu sein und da Mrs, Hudson eigentlich hart im Nehmen war, musste schon etwas sehr Schwerwiegendes vorgefallen sein, wenn sie mit einer Polizeiverfolgung bei uns aufkreuzte.

,,Mrs. Hudson, was meinen Sie damit? Was ist denn los?", wollte ich wissen und sie ließ von John ab, nur um sich jetzt in meine Arme zu werfen.

,,Oh, Evelyn...ich bin ja so froh, Sie zu sehen."

Etwas hilflos legte ich die Arme um sie und versuchte, sie zu trösten. Ich warf einen überforderten Blick zu John, aber auch der schien keine Antwort darauf zu haben.

Nachdem sich Mrs. Hudson einigermaßen beruhigt und wir uns von dem ersten Schrecken erholt hatten, gingen wir mit ihr ins Haus und während ich immer noch sprachlos von ihrem glanzvollen Auftritt war, schien John ganz und gar nicht begeistert von dem Überraschungsbesuch zu sein.

,,Haben Sie die Polizei angerufen?", fragte er, doch Mrs. Hudson sah ihn an, als wäre er verrückt geworden.

,,Nein, natürlich nicht. Ich bin doch keine Zivilistin. Er hat diese ganzen Bilder überall hängen, John."

,,Was für Bilder?", brachte ich perplex hervor und Mrs. Hudson wandte sich an mich.

,,Oh, von diesem Mann aus dem Fernsehen. Wie hieß er noch gleich...Smith...irgendwas mit Smith."

,,Culverton Smith?", schlussfolgerte die Therapeutin und Mrs. Hudson nickte eifrig.

,,Ja, genau der."

,,Was zum Geier hat Sherlock mit Culverton Smith zu schaffen?", brachte ich hervor und die Therapeutin hatte die Antwort bereits parat.

,,Diese Nachricht von heute Morgen dürfte relevant sein. Er hat Culverton Smith in aller Öffentlichkeit beschuldigt, ein Serienmörder zu sein."

,,Nicht zu fassen.", entgegnete John und schüttelte den Kopf. ,,Sherlock twittert...es steht eindeutig nicht gut um ihn."

,,Wie können Sie es nur wagen, darüber zu scherzen, John?", entfuhr es Mrs. Hudson empört. ,,Ich hatte panische Angst!"

Mrs. Hudson erzählte uns eine Blitzversion der Kurzgeschichte, was sich in der Baker Street zugetragen hatte und mir wurde schon vom Zuhören schlecht. Sherlock schien wirklich den Verstand verloren zu haben und da war es kein Wunder, dass Mrs. Hudson mit den Nerven völlig am Ende war.

,,Sie müssen mit ihm reden, John. Sie und Evelyn."

,,Was, ich?", platzte es aus mir heraus und ich hob abwehrend die Hände. ,,Oh, nein. Das ist keine gute Idee."

,,Aber Sie und John sind die Einzigen, auf die er hört. Sie müssen ihm helfen...er braucht Sie."

,,Nein! Er braucht irgendjemanden. Nicht mich!", widersprach John, aber Mrs. Hudson ließ nicht locker.

,,Nur ein einziges Mal im Leben werden Sie auf mich hören. Ich weiß, Mary ist tot und Ihr ist Herz gebrochen, aber wenn Sherlock jetzt auch noch stirbt, wen haben Sie dann noch? Denn eins sage ich Ihnen, John Watson...ich werde nicht für Sie da sein!"

Mit diesen Worten rauschte Mrs. Hudson an uns vorbei und zur Tür hinaus. Zuerst waren John und ich beide wie angewurzelt, doch dann eilten wir ihr beide nach und fanden sie an ihrem Auto vor, wo sie den Kopf in ihre Arme versteckt hatte und schluchzte, während ihre Arme auf dem Dach ihres Autos verschränkt waren.

,,Mrs. Hudson...bitte weinen Sie nicht. Es gibt bestimmt eine andere Möglichkeit.", sagte ich, aber sie widersprach mir sofort.

,,Nein, die gibt es nicht."

,,Was ist mit Mycroft oder Molly?", schlug John vor, doch auch das war Mrs. Hudson nicht genug.

,,Sie und Evelyn sind die Einzigen, die zählen, John."

Sie drehte sich zu uns um und sah uns verzweifelt an. Ihr Anblick erweckte tiefes Mitgefühl in mir und sie wirkte so hilflos, dass ich fast selbst kurz vorm Weinen war. Inständig flehte sie John und mich verzweifelt um Hilfe an.

,,Ich bitte euch beide...redet mit Sherlock. Oder untersuchen Sie ihn einfach als Arzt, John. Ich bin sicher, dass Sie Ihre Meinung dann ändern."

John sah hilfesuchend zu mir und auch ich zögerte noch. Es war keine gute Idee, wieder Kontakt mit Sherlock aufzunehmen, denn das würde die vergangenen Wunden wieder aufreißen und alles erneut ins Chaos stürzen. Allerdings konnten wir Sherlock auch nicht einfach so im Stich lassen und ich seufzte schließlich ergebend.

,,Von mir aus. Dann werden wir mit ihm reden."

,,Wirklich?", hakte Mrs. Hudson nach und ich gab John einen kleinen Schubs, der sich daraufhin ebenfalls erbarmte.

,,Also, gut...wenn es sich ergibt, werde ich mal zu ihm fahren."

,,Versprechen Sie es?"

,,Ja, wenn ich mal in der Gegend bin.", erwiderte John und Mrs. Hudson sah ihn ganz aufgeregt an.

,,Sie versprechen es mir?"

,,Ich verspreche es!", gab John zurück und sofort sah Mrs. Hudson zu mir.

,,Und Sie, Evelyn? Versprechen Sie es mir auch?"

,,Ähm...natürlich. Ich verspreche es Ihnen!", versicherte ich ihr und ihre Tränen der Verzweiflung schienen wie weggeblasen zu sein.

,,Danke!"

Perplex sahen John und ich zu Mrs. Hudson, die nun zu ihren Kofferraum eilte und diesen öffnete. Wir traten näher und mir fiel die Kinnlade runter, als ich sah, welch kostbare Fracht Mrs. Hudson in ihrem Auto geladen hatte. Denn im Kofferraum lag, völlig verwahrlost, sichtlich erschüttert und zitternd am ganzen Körper niemand anderes als Sherlock Holmes persönlich.

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