Sünder und Heilige
Sünder und Heilige
Nachdem die Todesnachricht von Irene Adler offiziell war, hatten John und ich bemerkt, wie Sherlock sich mehr und mehr isoliert hatte. Er sprach kaum, spielte unentwegt Geige und schien den Tod von Irene somit auf seine ganz eigene Weise zu verarbeiten.
Noch nie zuvor hatte ich Sherlock Holmes in irgendeiner Art und Weise trauern sehen, aber der Tod von Irene Adler hatte ihn ganz offenbar aus der Bahn geworfen und ich hatte deshalb in den vergangenen Tagen oft nach ihm gesehen. Doch weder John noch ich, kamen an ihn heran und schließlich hatten wir es aufgegeben, ihn zu irgendwas bewegen zu wollen, denn Sherlock sprach ja nicht einmal mehr mit uns.
Heute hatte John mir dann geschrieben, dass er einen Spaziergang machen wollte und da ich ohnehin frei hatte, wollte ich ihn begleiten. Es würde uns gut tun, mal vor die Tür zu gehen und auf andere Gedanken zu kommen.
Als ich die Baker Street schließlich erreichte, kam John gerade aus dem Haus und schloss die Tür. Sein Blick fiel auf mich und er winkte mir zu.
,,Hey, Evelyn! Schön, dass du Zeit hast."
,,Ja, ich freue mich auch. Das Wetter spielt ja auch mit.", erwiderte ich, ehe ich nach oben deutete. ,,Wie siehts aus?"
,,Naja, er isst nicht, spricht kaum und spielt weiter unentwegt Geige. Ich sage dir, bald kann ich seine Kompositionen auswendig.", meinte er und ich klopfte ihm auf die Schulter.
,,Das wird schon, John. Er braucht nur noch etwas Zeit."
,,Ich hoffe, du hast Recht.", sagte John und ich nickte.
,,Bestimmt!"
John und ich wollten gerade zu unserem Spaziergang aufbrechen, als hinter uns mit einem Mal eine weibliche Stimme ertönte.
,,John! Evelyn!"
Wir drehten uns überrascht um und entdeckten eine Frau, die auf uns zukam und ich musterte sie sofort. Sie trug ein schwarzes Kleid mit einem schwarzen Cardigan und schwarze Pumps. Ihre haselnussbraunen Haare waren offen und sie schenkte John und mir ein höfliches Lächeln.
,,Wer sind Sie?", fragte ich irritiert, doch die Frau ging gar nicht auf meine Frage ein.
,,Haben sie beide schon was vor heute? Es ist Silvester."
Ungläubig starrte ich die Frau an, doch John konnte den Blick kaum von ihr wenden und ich fühlte mich irgendwie augenblicklich überflüssig
,,Nichts...Festes...", sagte John und warf einen genaueren Blick auf die Frau, ehe er den Reißverschluss seiner Jacke zuzog. ,,Nichts, was ich nicht eiskalt absagen könnte. Haben Sie irgendwelche Ideen?"
Perplex sah ich John an, der ungehalten mit der Frau flirtete und schüttelte den Kopf. Himmel, ich gönnte es John ja, denn er hatte es verdient die Richtige zu finden und glücklich zu werden, aber mussten diese Flirteskapaden in meinem Beisein stattfinden?
Die Frau sah sich um, als wolle sie sich vergewissern, dass uns niemand beobachtete, ehe sie sich an mich wandte.
,,Was ist mit Ihnen, Evelyn?"
,,Tja, so gerne ich mich dem auch anschließen würde...ich stehe nicht auf Frauen und schon gar nicht auf Dreier. Also, insofern Sie keinen anderen Vorschlag haben...", erwiderte ich und sie schmunzelte.
,,Nur Einen!"
Verwirrt folgten John und ich ihrem Blick, als sie neben sich deutete. Und dort fuhr, und wie sollte es auch anders sein, ein pechschwarzer Wagen vor und ich verdrehte die Augen, als John auch schon unsere Gedanken aussprach.
,,Wissen Sie, Mycroft...könnte uns beide auch einfach anrufen.", sagte er und ich seufzte.
,,Ja, John...das könnte er. Wenn er nicht diesen blöden lächerlichen Machtkomplex hätte."
Wir stiegen ins Auto und ich fragte mich, wo Mycroft uns wohl heute hin zitieren würde. Ob er mal so nett war und uns zu sich nach Hause einlud? Oder würden wir wieder mit einer schaurigen verlassenen Fabrik vorlieb nehmen müssen?
Die Antwort eröffnete sich uns, als wir tatsächlich wieder vor einer leer stehenden Fabrik Halt machten und ich fuhr mir durch die langen Haare.
,,So langsam könnte sich Mycroft mal was Neues einfallen lassen.", meinte ich und John sah mich vielsagend an.
,,Er denkt wahrscheinlich, dass man Traditionen nicht brechen sollte."
Wir stiegen aus und die Frau führte uns über das Gelände in die Fabrik hinein. Ich sah mich wachsam um, während wir ihr folgten und wurde das komische Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmte.
Mycroft hatte mich schon seit Ewigkeiten nicht mehr auf diese Weise treffen wollen und es war eigenartig, dass er jetzt wieder damit anfing. Ob es wohl daran lag, dass Sherlock momentan etwas neben der Spur war?
Ich hatte keine Ahnung und hoffte, dass das Ganze schnell über die Bühne gehen würde, bevor es mir den Tag restlos ruinierte.
,,Wir könnten doch auch in ein Café gehen.", schlug John vor, wahrscheinlich um die Stimmung zu lockern. ,,Sherlock folgt uns schließlich nicht überall hin."
,,Ich glaube, momentan folgt er uns nirgendwo hin, John. So, wie er zurzeit drauf ist.", meinte ich und John seufzte.
,,Ja, das hast du wohl Recht."
Plötzlich machte die Frau Halt und deutete auf einen schmalen Gang, während sie kurz etwas auf ihrem Handy eintippte.
,,Da durch!", wies sie uns an und ich ging voraus, ehe John mir folgte.
Wir gingen durch eine Tür und gelangten in den hinteren Teil der Fabrik. Zwar fragte ich mich, warum Mycroft wieder so ein Geheimnis aus dem Treffpunkt machte, aber er war immerhin ein Holmes. Und die brauchten ja bekanntlich den ganz großen Auftritt.
,,Er schreibt traurige Musik!", rief John auf einmal, als wir um die Ecke bogen und wollte Mycroft offenbar schon vor einer Frage über den Zustand von Sherlock in Kenntnis setzen. ,,Er isst nicht...spricht kaum...höchstens, um das Fernsehen zu korrigieren."
,,Alles in Einem ist es deprimierend. Es geht ihm miserabel.", fasste ich zusammen, doch Mycroft war nirgends zu sehen.
War das jetzt seine neueste Methode? Sich vor uns zu verstecken und erst rauszukommen, wenn er es für angemessen hielt? Man konnte es aber auch wirklich übertreiben.
,,Ich würde sagen, sein Herz ist gebrochen, aber naja...es ist Sherlock und so ist er eigentlich..."
John brach ab und ich folgte irritiert seinem Blick, denn der war mehr als erschüttert. Und als ich sah, WER da auf uns zukam, drohte ich in Ohnmacht zu fallen. Denn es war niemand anders, als Irene Adler, die für eine Tote aber überaus lebendig aussah.
,,Sie...Sie sind tot!", brachte ich hervor und Irene sah mich vielsagend an.
,,Nicht ganz, Miss Headley! Schön, dass Sie es einrichten konnten. Hallo, Dr. Watson!"
,,Sagen Sie ihm, dass Sie leben.", war alles, was John zustande brachte, doch Irene schüttelte den Kopf.
,,Er würde mich aufspüren!"
,,Wenn Sie es nicht tun, spüre ich Sie auf.", entgegnete John.
,,Das glaube ich Ihnen.", erwiderte Irene und ich starrte sie weiterhin fassungslos an, während John seinem Ärger Luft machte.
,,SIE waren tot! Sie lagen auf einem Seziertisch...das waren eindeutig Sie."
,,DNS Tests sind nur so gut, wie die Akten, die darüber geführt werden.", korrigierte Irene ihn, doch John wurde laut.
,,Und ich wette, Sie kennen den, der sie führt."
,,Ich weiß, worauf er steht.", erwiderte sie und ich lachte auf.
,,Grundgüter!"
,,Stimmt etwas nicht, Evelyn?", fragte Irene und ich sah sie sarkastisch amüsiert an.
,,Sie haben echt Nerven, Miss Adler. Zuerst führen Sie uns alle in die Irre...täuschen Ihren Tod vor, um verschwinden zu können und jetzt? Jetzt zitieren Sie John und mich hierher, um was? Einen großen Auftritt hinzulegen? Haben Sie überhaupt eine Ahnung, was Sie mit ihrem vorgetäuschten Tod angerichtet haben? Wegen Ihnen ist Sherlock doch vollkommen neben der Spur."
,,Naww...eifersüchtig?", entgegnete sie trocken, woraufhin ich schnaubte.
,,Auf Sie und Sherlock? Garantiert nicht! Ich würde es nur angemessen finden, wenn Sie wenigstens ihm verraten, dass Sie nicht tot unter der Erde liegen. Dann würde Sherlock vielleicht wieder zur Besinnung kommen."
,,Ich hatte keine Wahl! Ich musste verschwinden."
Diese Frau war echt unglaublich. Die dachte doch ernsthaft, dass diese Erklärung ausreichte, um ihr Handeln zu rechtfertigen. Schlimm genug, dass sie Sherlock mit ihrem Tod vollkommen aus der Bahn geworfen hatte...sie hielt es ja nicht einmal für nötig, ihn darüber in Kenntnis zu setzen, dass das Ganze nur Theater gewesen war.
,,Und warum dürfen wir Sie sehen? Wo wir es doch nicht mal wollen.", raunte John ihr entgegen und sprach mir förmlich aus der Seele.
,,Ich habe einen Fehler begangen.", setzte Irene an. ,,Ich habe Sherlock etwas geschickt, das ich zurückhaben muss und dazu brauche ich eure Hilfe."
,,Nein!", widersprach John.
,,Ist zu seiner eigenen Sicherheit."
,,Genau wie das. Sagen Sie ihm, dass Sie am Leben sind.", forderte John sie erneut auf, doch Irene weigerte sich immer noch.
,,Das kann ich nicht."
,,Gut! Ich sags ihm. Und helfe Ihnen trotzdem nicht.", platzte es aus John heraus, ehe er sich zum Gehen wandte.
,,Er hat Recht, Miss Adler und das wissen Sie auch. Sagen Sie Sherlock, das Sie leben oder Sie werden es bereuten.", fügte ich hinzu und wollte ebenfalls gehen, als sie uns zurückhielt.
,,Was soll ich ihm schreiben?"
,,Was schreiben Sie normalerweise? Sie haben ihn doch geradezu zugetextet.", fuhr John sie an und drehte sich wutentbrannt zu ihr um.
Er war so wütend, dass selbst ich mich ein paar Schritte von ihm entfernte. Offenbar war ich nicht die Einzige, die eine Abneigung gegen Irene Adler hatte und John schien mit den Nerven am Ende zu sein. Kein Wunder! Er machte sich Sorgen um Sherlock, genau wie ich.
,,Nur das übliche Zeug!", sagte Irene und John seufzte.
,,Das Übliche gibts in diesem Fall nicht."
Irene holte ihr Handy heraus und tippte darauf herum, ehe sie uns Nachrichten vorlas, die sie offenbar an Sherlock verschickt hatte.
,,Guten Morgen! Ihr komischer Hut gefällt mir. Ich bin heute traurig...gehen wir essen?"
Das und noch einige SMS mehr, bei denen ich aber nicht mehr zuhörte, las sie uns vor und ich fragte mich, was mit Irene eigentlich los war. Wenn sie Sherlock mochte, und das tat sie ja offensichtlich, dann sollte ihr doch was daran liegen, dass es ihm gut ging. Warum offenbarte sie ihm dann nicht einfach, dass sie noch unter den Lebenden weilte?
,,Sie haben mit Sherlock geflirtet!", schlussfolgerte John und Irene zuckte mit den Schultern.
,,Unerwidert! Er antwortet nicht."
,,Sherlock antwortet IMMER auf alles. Er ist die Schlagfertigkeit in Person. Er wird Gott überleben...nur, damit er das letzte Wort haben kann.", brachte John hervor und die Mundwinkel von Irene zuckten.
,,Macht mich das zu etwas Besonderem?"
,,Ich weiß nichtja, vielleicht!", erwiderte John und Irene präsentierte uns die Nachricht, die sie an Sherlock widmete.
,,Hier! Ich bin nicht tot! Gehen wir essen?, las sie vor und zeigte uns, wie sie die Nachricht abschickte.
Obwohl ich froh war, dass Sherlock jetzt die Wahrheit erfahren würde, machte ich mir auch Sorgen um ihn. Wie würde er das Ganze auffassen? Und vor allem, wie würde er damit umgehen?
Die Frage erübrigte sich, als auf einmal ein paar Meter von uns entfernt ein echohaftes Stöhnen ertönte, welches nur von Sherlocks Handy kommen konnte. Die Nachricht von Irene war also eingegangen und mehr noch...Sherlock war in der Nähe...er war hier!
,,Was zum...", setzte John an und ich sah ihn vielsagend an.
,,Er muss uns doch gefolgt sein, John!"
John und ich dachten das Gleiche und wollten Sherlock schon nachsetzen, als Irene Adler uns abhielt und eindringlich ansah.
,,Ist, glaube ich, nicht nötig."
Tja, ich gab es nicht gerne zu, aber sie hatte Recht. Sherlock wusste nun, dass Irene am Leben war und es gab nichts, das John oder ich tun konnten, was diese Sache einfacher für ihn machte.
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