Die Schatten werden länger

Die Schatten werden länger

Sherlock PoV

Die Finsternis erstreckte sich über Italien, als Sherlock durch die Straßen von Venedig eilte. Die italienische Stadt war mittlerweile der dritte Ort, den er nach Evelyn absuchte oder zumindest durchforstete, um Hinweise auf ihren Aufenthaltsort zu finden.
Hongkong war seine erste Station gewesen, aber als er dort keinen Erfolg gehabt hatte, war sein nächster Halt die deutsche Stadt Berlin gewesen, wo Evelyn jedoch ebenfalls nicht mehr gewesen war. Und nun hatte Mycroft ihm Venedig als nächsten Hinweis geliefert, was sich bis jetzt aber ebenfalls nicht bewährt hatte.

Zwar arbeitete Mycroft auf Hochtouren daran, alle möglichen Ziele für Sherlock ausfindig zu machen, aber es war nicht leicht, den ganzen Globus nach einer Person abzusuchen, die nicht gefunden werden wollte. Mycroft hatte zwar noch die Nummer von dem Prepaid Handy, welches er Evelyn vor ihrer Abreise aus London mitgegeben hatte, aber seit er ein einziges Mal mit Evelyn telefoniert hatte, was das Handy nicht mehr zu orten und somit eine Sackgasse.

Sherlock zerbrach sich den Kopf darüber, wo er als Nächstes suchen sollte und versuchte, so zu denken wie Evelyn. Er versuchte sich in sie hineinzuversetzen und sich vorzustellen, wie sie wohl handeln würde. Zwar hatte Sherlock die Ereignisse nicht selbst erlebt, welche Evelyn in ihrer Vergangenheit verfolgt hatten, aber er konnte dennoch förmlich am eigenen Leib spüren, dass sie furchtbare Angst haben musste. Und sich nun dieser Angst stellen zu müssen, indem sie sich selbst auf die Jagd nach Vincent begab...das musste sie doch ziemlich schwer belasten.

Die Suche nach Evelyn erinnerte Sherlock zunehmend an die Zeit, wo er selbst für tot gehalten worden war und das Netzwerk von Moriarty zerstört hatte. Das half ihm zwar, die Handlung von Evelyn nachzuvollziehen, aber er konnte nicht leugnen, dass ihn die ganze Sache mehr mitnahm, als er zugeben wollte.

Als Alicia die Todesakte von Evelyn und auch den entscheidenden Hinweis präsentiert hatte, hatte sie dem Lügenspiel ein Ende bereitet und Mycroft die Wahrheit abgerungen. Und die Wahrheit war für Sherlock wie ein Schlag ins Gesicht gewesen.
1 Jahr lang hatte er in dem Glauben leben müssen, dass Evelyn für sie alle gestorben wäre und er sie nie wiedersehen würde. Und das ganze Jahr über hatte er seinen eigenen Bruder verachtet, weil dieser abgedrückt und Evelyn in seinen und den Augen aller erschossen hatte.

Aber Evelyn war nicht tot...sie lebte und sie war irgendwo auf dem Planeten auf der Jagd nach ihrem Bruder, der wie besessen von ihr war. Zwar zweifelte Sherlock nicht an der Entschlossenheit von Evelyn, aber er hatte dennoch Angst um sie. Er wollte um keinen Preis der Welt zulassen, dass Evelyn Vincent alleine gegenübertrat und wenn es sich nur irgendwie verhindern ließ, würde er sie davon abhalten.
Doch dazu musste er sie erstmal finden und das gestaltete sich schwieriger, als Sherlock gedacht hatte, denn sie war ihm einen großen Schritt voraus. Zwar war Evelyn nicht so intelligent wie er oder Mycroft, aber sie war scharfsinnig genug, um völlig von der Bildfläche zu verschwinden und ihre Spuren zu verwischen. Sie wollte ohne Zweifel nicht gefunden, aber das bestärkte Sherlock nur in dem Entschluss, sie endlich aufzuspüren und zurück nach England zu bringen.
Als sein Handy vibrierte, zog er es aus der Tasche und er erkannte die Nummer von Mycroft auf dem Display, woraufhin er abnahm.

,,Mycroft! Ich hoffe, du hast einen neuen Hinweis für mich, denn in Venedig scheint Evelyn jedenfalls nicht mehr zu sein.", brachte er hervor und sein Bruder klang etwas missmutig.

,,Ich hoffe, dir ist klar, was du mir abverlangst. Denn für eine Polizistin ist Evelyn erstaunlich gut darin, sich zu tarnen und so gut wie keine Spuren zu hinterlassen. Sie ist ziemlich gerissen!"

,,Natürlich ist sie das. Sonst hätte sie wohl kaum so lange überlebt. Also, hast du etwas finden können?", drängte Sherlock weiter und Mycroft seufzte in den Hörer.

,,Ohne mich wärst du eindeutig verloren. Also, wir haben zwei mögliche Zielorte für dich, aber ich kann dir nicht genau sagen, welcher eher zutreffend ist. Einmal Barcelona und das Nächste wäre dann noch Bukarest in Rumänien."

,,Kannst du nicht ein bisschen genauer werden, Mycroft? Uns läuft die Zeit davon. Mit jedem Tag, den ich weiter erfolglos suche, kommt Evelyn Vincent näher oder er könnte die Wahrheit rausfinden. Wir müssen endlich herausfinden, wo sie ist.", zischte Sherlock, doch Mycroft ließ sich davon nicht beeindrucken.

,,Was glaubst du eigentlich, was ich hier mache? Ich suche Tag und Nacht die ganze Welt nach ihr ab, aber es ist nicht so leicht, jemanden zu finden, der nicht gefunden will und der noch dazu offiziell tot ist."

,,Mich hast du damals doch auch gefunden, als du was wolltest. Nur war mein Gegner zu dem Zeitpunkt bereits tot und somit keine Bedrohung mehr für mich. Vincent ist leider noch am Leben und könnte daher jederzeit für Evelyn wieder zur Bedrohung werden, deshalb: finde sie endlich, Mycroft!"

Mit diesen Worten beendete Sherlock das Telefonat und steckte das Handy zurück in seinen Mantel. Obwohl er versuchte, vollkommen rational zu denken und sich durch seine Emotionen nicht ablenken zu lassen, so lagen seine Nerven langsam blank.
Die Chance, Evelyn noch rechtzeitig und somit lebend zu finden, schwand mit jeder Sekunde und das belastete Sherlock mehr, als er zugeben wollte. Aber allein die Vorstellung, dass Evelyn diese Mission wirklich noch mit ihrem Leben bezahlen musste, war für ihn geradezu unerträglich. Denn dann würde er sie ein zweites Mal verlieren und er zweifelte selbst daran, ob er das verkraften konnte.

Der scheinbare Tod von Evelyn hatte ihn damals alles aus einem anderen Blickwinkel betrachten lassen. An jenem Tag war die Zeit für Sherlock förmlich stehen geblieben und sie war erst wieder weitergegangen, als Mycroft mit der Wahrheit herausgerückt war. Aber Sherlock hatte sich in diesem Jahr etwas eingestehen müssen, was er nicht mehr leugnen konnte: Evelyn hatte es geschafft, dass er Gefühle entwickelte! Doch keineswegs alltägliche Gefühle wie Freude oder dergleichen, sondern romantischer Natur. Sie war ihm wichtiger als irgendjemand sonst und diese Tatsache machte ihm Angst.
Noch nie hatte er für jemanden so empfunden und er wusste nicht einmal, an welchem Punkt genau er sich in Evelyn verliebt hatte. Aber als er glaubte, er hatte sie für immer verloren, war ihm dies mit jedem Tag klarer geworden und es hatte ihn davon abgehalten, einfach sein Leben so wie bisher weiterzuführen.

Sherlock erinnerte sich, wie er sich nach dem Tod von Evelyn von allen isoliert hatte. Er hatte sich in die Baker Street zurückgezogen und nicht einen einzigen Fall seit dem Tag bearbeitet, an dem Evelyn sich für sie alle scheinbar geopfert hatte. Warum er so gehandelt hatte? Er konnte es nicht genau sagen, aber es war einfach nicht mehr dasselbe gewesen, als Evelyn fort gewesen war. Sie hatte gewissermaßen das Leben aus London verschwinden lassen und ohne das, war die große Stadt nur wie eine kahle Einöde, die jegliche Lebenskraft verloren hatte.

Nun schüttelte Sherlock den Kopf, denn es ärgerte ihn, dass er mit einem Mal so emotional wurde und darüber hinaus ganz seine Vorsätze vergaß. Er durfte sich nicht ablenken lassen, denn dann würde er Evelyn niemals finden. Und er musste sie finden, bevor es zu spät war.
Außerdem war es nicht von Belang, was er empfand, denn Evelyn kannte seine wahren Gefühle nicht und es war ungewiss, ob sie es jemals erfahren würde. Ein Teil von ihm hatte es ihr damals sagen wollen, als John sie beide dazu zwingen wollte, über ihre Schatten zu springen, aber er hatte es einfach nicht über sich gebracht und er hatte gefürchtet, dass Evelyn wieder auf Abstand gehen würde, sollte sie die Wahrheit erfahren. Doch an dem Tag, an dem Mycroft sie auf dem Dach erschossen hatte, hatte Sherlock diese Entscheidung bereut. Es hatte ihm bewusst werden lassen, dass John vollkommen Recht gehabt hatte: dass die Zeit nur begrenzt war und sie schneller vorbei sein konnte, als man ahnte.

Sherlock ging gerade durch die Fußgängerzone, als er einen beiläufigen Blick auf die kleinen Läden warf. Und mit einem Mal fing sein Blick etwas auf, was ihn innehalten ließ und er steuerte auf einen kleinen Kiosk zu, wo Zeitungen aushängten und er warf einen Blick auf das Titelblatt.

Es war zwar auf Italienisch, aber dennoch verstand Sherlock den Inhalt und er las heraus, dass es in ganz Europa immer wieder zu mysteriösen Angriffen auf kriminelle Clans gegeben hatte. Und in all den Namen der Städte erkannte er nun regelrecht eine Reflektion des Netzes, welches Vincent um die gesamte Welt gesponnen hatte. Ihm kam ein Gedanke und er zog sein Handy aus der Tasche, ehe er die Nummer von Mycroft wählte und dieser augenblicklich abnahm.

,,Sherlock, ich habe immer noch nichts Neues, falls du das wissen willst. Ich bin noch dabei...", setzte er an, aber Sherlock unterbrach seinen Bruder harsch.

,,Ich glaube, ich kann die Spuren von Evelyn zurückverfolgen, Mycroft. Sie hat Stadt für Stadt abgearbeitet...nur in einer anderen Reihenfolge, als ich sie nach ihr absuche. Überall, wo sie schon gewesen ist, da ist das Netzwerk von Vincent schon zusammengebrochen. Die ganzen großen internationalen Städte hat sie schon von dem Netzwerk befreit, aber es muss einen zentralen Mittelpunkt geben und ich glaube, das ist Europa."

,,Meinst du nicht, dass der zentrale Punkt sich dort befindet, wo auch Vincent ist? Dann müssten wir theoretisch nur ihn finden, um so auch automatisch Evelyn aufzuspüren. Immerhin will sie ihn ja irgendwie unschädlich machen.", pflichtete Mycroft bei, aber Sherlock zerschlug diese Theorie sofort.

,,Nein! Evelyn würde Vincent nicht frontal angreifen. Zumindest nicht, solange er noch Einfluss hat. Sie wird zuerst sein gesamtes Netzwerk zusammenbrechen lassen und Vincent erst ausschalten, wenn er keine Mittel zur Verteidigung hat. Wir müssen also den zentralen Mittelpunkt des Netzwerkes finden und dann wissen wir auch, wo Evelyn als Nächstes hingehen wird."

Sherlock vernahm, wie Mycroft irgendwas mit seinen Leuten beredete und er spürte, wie der Optimismus zu ihm zurückkehrte. Er war so kurz davor, endlich den entscheidenden Hinweis zu finden und dann würde er auch endlich Evelyn aufspüren können.
Es dauerte ein paar Minuten, bis Mycroft anscheinend mehr wusste, doch die fühlten sich für Sherlock wie eine Ewigkeit an. Endlich meldete sich sein Bruder wieder am Hörer und hatte zur Abwechslung ziemlich gute Nachrichten.

,,Also, wir haben die Nachrichten der letzten Monate analysiert und du hast Recht, Sherlock. Die großen internationalen Städte liegen, abgesehen von Hongkong, mit den Vorfällen schon weiter zurück. In den letzten Monaten war hauptsächlich Europa betroffen und es gibt nur noch zwei Städte, die als zentraler Mittelpunkt in Frage kommen.", sagte er und Sherlock rollte mit den Augen, weil sich sein Bruder alles aus der Nase ziehen ließ.

,,Und welche?"

,,Sofia in Bulgarien oder Paris. Es käme zwar noch Budapest in Frage, aber dort gibt es so gut wie keine kriminellen Vorfälle, welche die Handschrift von Vincent tragen.", erklärte Mycroft und Sherlock überlegte.

Bulgarien oder Frankreich! Er hatte nun die Qual der Wahl, wenn man es so bezeichnen wollte und beide Länder schienen sich hervorragend als Mittelpunkt eines kriminellen Netzwerkes anzubieten, aber nur in Einem von beiden würde er Evelyn finden.
Und zum ersten Mal tat Sherlock etwas, was er vorher nicht getan hatte: er verließ sich diesmal nicht ausschließlich auf seinen ausgeprägten Verstand, sondern auch auf sein Gefühl und dies signalisierte ihm bereits, welchen Ort er als Nächstes nach Evelyn absuchen würde.

,,Sherlock?", raunte ihm Mycroft ins Ohr, als wollte er sich vergewissern, dass er noch dran war. ,,Sherlock, wenn du nicht mit mir redest, dann kann ich wenig behilflich sein."

,,Ich weiß jetzt, wo ich nach ihr suchen werde. Sobald ich mehr weiß, kontaktiere ich dich."

,,Wie? Du sagst mir nicht, wo du hingehst?", entgegnete Mycroft und klang etwas verärgert, aber Sherlock ignorierte es.

,,Zuerst muss ich sicher sein, dass sie dort ist. Unternimm nichts, bevor ich mich nicht bei dir melde, Mycroft. Und kein Wort...zu niemandem!"

Er beendete das Telefonat und steckte das Handy zurück, ehe er sich abwandte und schnellen Schrittes zu der Pension zurückkehrte, wo sich seine Sachen befanden.

Sherlock spürte, wie er innerlich erleichtert war, sich aber dennoch ein wenig anspannte. Seine Suche könnte an seinem nächsten Ziel endlich ein Ende finden und es könnte ihn direkt zu Evelyn führen.
Doch er fragte sich nun, wie sie wohl reagieren würde, sollte er sie tatsächlich finden. Zwar gab er seinem Bruder nur ungern Recht, aber er könnte mit einer Aussage gar nicht mal so falsch liegen. Denn Evelyn würde sicher wirklich nicht begeistert sein, wenn er bei ihr aufkreuzte und damit offenbarte, dass er und die anderen Bescheid wussten. Vielleicht würde sie sogar versuchen vor ihm zu fliehen, aber das würde er zu verhindern wissen. Sherlock war klar, dass er sehr überzeugend sein musste, wenn er Evelyn dazu bewegen wollte, mit ihm nach London zurückzukehren, aber er musste es wenigstens versuchen. Auch wenn die Chance noch so klein war.

Und er wollte sie ja nicht nur finden, um sie zurückzubringen. Er wollte endlich von ihr persönlich wissen, warum sie diesen Weg gegangen war. Warum sie ihn und alle anderen in dem Glauben ließ, sie wäre tot, ehe sie England verlassen und sich auf ein Selbstmordkommando begeben hatte.
Sherlock wollte Antworten! Aber die würde er nur an einem einzigen Ort finden: bei Evelyn. Auch, wenn er keineswegs wusste, wie er sich verhalten würde, wenn er ihr erstmal gegenüber stand, so wollte er sie um jeden Preis finden.

Und er vertraute darauf, dass sein nächstes Ziel das Richtige sein würde, denn er wusste, dass Evelyn nicht ewig vor ihm davonlaufen konnte. Seit knapp 2 Wochen suchte er nun schon nach ihr und schon morgen könnte seine Suche endlich ein Ende haben.

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