Das wahre Gesicht

Das wahre Gesicht

Mein Instinkt war richtig, denn in der Pathologie wurde ich tatsächlich fündig. Molly saß auf einem Stuhl und als ich den Raum betrat, wischte sie sich hektisch die Tränen von den Wangen und rang um Fassung.

,,Evelyn...bitte entschuldigen Sie.", sagte Molly, doch ich winkte ab.

,,Schon okay, Molly. Ich kann Sie verstehen und es tut mir leid, wie sich Sherlock eben verhalten hat. Das war nicht richtig."

,,Naja...eigentlich sollte ich es ja mittlerweile gewohnt sein.", meinte Molly und ich stellte mich vor sie.

,,Molly, ich weiß ja, wie Sie zu Sherlock stehen und es tut mir wirklich sehr leid, dass er Sie so behandelt. Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen."

Obwohl ich nicht besonders gut darin war, versuchte ich Molly möglichst viel Mitgefühl entgegen zu bringen. Sie schenkte mir einen dankbaren Blick, bevor sie nachdenklich wurde und mich dann bittend ansah.

,,Ehrlich gesagt...das können Sie.", sagte sie und ich hob eine Augenbraue.

,,Ach, ja? Und wie?"

,,Können Sie nicht mal mit Sherlock reden? Ich meine, irgendjemand muss ihm mal klar machen, dass er sich so nicht verhalten kann. Mich würde er gar nicht ernst nehmen, aber ich glaube...auf Sie würde er hören."

Ungläubig sah ich Molly an, denn ich hatte nun wirklich nicht mit dieser Bitte gerechnet. Und, dass Molly offenbar dachte, ich hätte so etwas wie Einfluss bei Sherlock, irritierte mich noch mehr, denn das war ja nun wirklich nicht der Fall.

,,Tja, ich danke Ihnen ja für Ihr Vertrauen, Molly...aber da bin ich wirklich die falsche Ansprechpartnerin. Da hätte eher John Erfolg, aber nicht ich.", erwiderte ich, woraufhin ihr Blick fast schon flehentlich wurde.

,,Bitte versuchen Sie es trotzdem, Evelyn. Es geht ja nicht nur um mich, sondern vor allem um Sherlock selbst. Ich will einfach nur, dass ihm bewusst wird, was er eigentlich an John und Ihnen hat. Sie sind doch die einzigen Freunde, die er im Grunde hat."

Nun war ich wirklich sprachlos. So etwas hätte ich von Molly überhaupt nicht erwartet. Natürlich war mir schon aufgefallen, dass sie ein unglaublich selbstloser Mensch war, der nie für etwas eine Gegenleistung verlangte. Und nun nahm sie Sherlock auch noch in Schutz und wollte ihm helfen, obwohl er sie gerade eben im Grunde wieder zutiefst gedemütigt hatte. Das musste Liebe sein! Denn, obwohl sie ja offenbar mit diesem Jim eine Beziehung hatte...ihre Gefühle für Sherlock waren nach wie vor präsent.

,,In Ordnung, Molly! Ich werde mit Sherlock reden, aber versprechen kann ich Ihnen nichts. Wie gesagt, ich habe keinerlei Einfluss auf ihn und so etwas war noch nie meine Stärke.", sagte ich und da sprang sie auf, ehe sie mir regelrecht um den Hals fiel.

,,Danke, Evelyn! Ich wusste, dass ich auf Sie zählen kann."

Sie umarmte mich und ich erwiderte die Umarmung, auch wenn ich ziemlich überrumpelt war. Molly war ein unendlich herzensguter Mensch und Sherlock sollte sich schämen, dass er sie so behandelte.
Als sie mich wieder freigab, sah sie mich dankbar an und ihre Trauer schien schon verflogen zu sein. Und, dass ich Molly hatte aufmuntern können, das war ja schon mal die halbe Miete, denn das war ja auch mein Ziel gewesen.

,,Dann stürze ich mich mal in den Kampf!", sagte ich und Molly nickte eifrig.

,,Sie schaffen das, Evelyn. Ich glaube an sie."

Ich nickte und wandte mich dann zum Gehen. Doch bevor ich die Pathologie verließ, drehte ich mich nochmal zu Molly um und sah sie skeptisch an.

,,Molly, eine Frage noch...Sie und Jim...ist das etwas Ernstes?"

,,Ja, ich hab ihn wirklich gern. Warum fragen Sie?", wollte sie wissen, doch ich winkte ab.

,,Schon gut! War nur neugierig. Einen schönen Abend noch."

Ich verließ die Pathologie und machte mich wieder auf dem Weg zum Labor. Und während meines Weges kreisten meine Gedanken sowohl um Sherlock, als auch um Jim. Irgendwas hatte dieser Typ an sich, was mich beunruhigte und ich musste unbedingt rausfinden, was das war.

                             ***

Weil Sherlock und John während meines Gesprächs mit Molly ganz offenbar bereits den Heimweg angetreten hatten, bestellte ich mir ein Taxi und machte mich auf den Weg zur Baker Street. Zuerst hatte ich ja überlegt, ob ich mir Sherlock nicht besser morgen vorknüpfen sollte, aber ich wollte es lieber schnell hinter mich bringen.

Als ich die Baker Street erreichte und klingelte, öffnete mir dieses Mal nicht Mrs. Hudson, sondern John die Tür. Und sein Blick wirkte mehr als reumütig.

,,Evelyn, tut mir leid, dass wir einfach ohne dich weg sind. Aber Sherlock wollte nicht warten.", sagte er, als ich eintrat und ich tätschelte ihm die Schulter.

,,Mach dir keinen Kopf, John! Sag mir lieber, wo ich unseren gefühlskalten Einstein finde."

John staunte offenbar nicht schlecht über meine Wortwahl, doch er deutete nur auf die Wohnung und das war mir Antwort genug. Ich ging die Treppe hoch und John folgte mir natürlich. Als ich kurzer Hand das Wohnzimmer betrat, spielte Sherlock gerade an seiner Geige, doch er legte sie beiseite, als er meine Anwesenheit bemerkte.

,,Da sind Sie ja endlich!", sagte er und ich sah ich vielsagend an.

,,Tja, Geduld scheint nicht gerade Ihre Stärke zu sein, sonst wären Sie kaum ohne mich gefahren. Aber keine Sorge...diesbezüglich bin ich nicht nachtragend."

Ich verschränkte meine Arme vor der Brust und sah Sherlock ernst an. Zwar wusste ich überhaupt nicht, wie ich dieses Thema angehen sollte, aber irgendwas würde mir schon einfallen. John sah unsicher zwischen uns her und griff kurzer Hand zu seiner Jacke.

,,Ähm...ich gehe mal lieber. Das klärt ihr besser allein."

Ohne eine Antwort abzuwarten verschwand er und kaum, dass die Tür unten ins Schloss gefallen war, brach Sherlock sein Schweigen.

,,Sie sind sauer!", stellte er fest und ich verzog keine Miene.

,,Was Sie nicht sagen!"

Sherlock wandte seinen Blick von mir ab und mir war klar, dass er diesem Gespräch ausweichen wollte. Ich hatte auch kein Bedarf, diejenige zu sein, die ihm ins Gewissen redete, aber mir blieb jetzt keine Wahl.

,,Sherlock, es geht mich gar nichts an, wie Sie Ihr Leben führen und welche Ansichten Sie haben. Wenn Sie der Meinung sind, dass Gefühle ein chemischer Defekt sind, dann ist das ganz allein Ihre Entscheidung. Aber dann mischen Sie sich auch nicht in die Leben anderer Menschen ein.", setzte ich an und dann fuhr er zu mir herum.

,,Dieser Kerl war schwul! Selbst ein Blinder hätte das erkannt, so offensichtlich war das."

,,Mag ja sein, aber es liegt dennoch nicht bei Ihnen, Molly diesbezüglich zu konfrontieren. Ihr liegt offenbar was an diesem Jim und wenn es sie glücklich macht, dann haben Sie sich da rauszuhalten."

Ich wurde langsam lauter und ich spürte, wie ich wütend wurde. Dabei wollte ich das Ganze eigentlich ruhig und sachlich regeln, aber irgendwie brachte mich dieses Gespräch mit Sherlock außer Fassung. Ich wusste auch nicht warum, nur, dass es so war.

,,Sie sehen nicht richtig hin, Evelyn. Ich weiß nicht wieso, aber dieser Kerl hat etwas zu verbergen. Und wenn ich erstmal weiß, was...", setzte er an, doch ich unterbrach ihn.

,,Nein! Sie sind derjenige, der nicht hinsieht, Sherlock! Im Fälle ermitteln, Verbrechen aufklären und Bösewichte überführen mögen Sie ja ein brillantes Genie sein, aber von Menschlichkeit haben Sie nicht die geringste Ahnung! Und wenn Sie sich das nur eine Sekunde lang eingestehen würden, dann würden wir jetzt nicht diese Konversation führen. Tun Sie sich selbst den Gefallen und lassen Sie wenigstens ein paar Gefühle zu.", platzte es aus mir heraus und er sah mich ausdruckslos an.

,,Etwa so wie Sie?"

Seine Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht, denn der Sarkasmus in seiner Stimme war nicht zu überhören. Fassungslos stand ich da und sah Sherlock erschüttert an.

Wie konnte er das nur sagen? Seine Meinung war mir ja eigentlich noch nie wichtig gewesen, aber dieser Satz verletzte mich dennoch zutiefst. Ich brachte nicht einmal eine schlagfertige Antwort zustande, denn zu getroffen war ich von den Worten, die er mir an den Kopf geworfen hatte.

,,Schön, wie Sie wollen!", setzte ich nach einem Moment der Erschütterung an. ,,Wenn das Ihre Einstellung ist, bitte. Aber lassen Sie mich Ihnen eins sagen, Sherlock: alleine, kann man niemals glücklich sein!"

Mit diesen Worten wandte ich mich ab. Ich wollte augenblicklich die Wohnung verlassen und ging schon in Richtung Tür, als ich mich nochmal zu ihm umdrehte.

,,Wissen Sie, ich hatte eigentlich gehofft, dass Sie tief in sich doch noch einen Funken Menschlichkeit besitzen. Aber Sie haben mir eben das Gegenteil bewiesen. Manchmal frage ich mich, ob Sie überhaupt ein Herz haben."

Damit ließ ich ihn stehen und rannte die Treppe runter. Ich wollte nur noch weg! Weg von Sherlock und weg von der Baker Street. Nur mit Mühe konnte ich die Fassung wahren und die Tränen unterdrücken, die sich durchkämpfen wollten. Ich schloss die Haustür hinter mir und atmete tief durch, als plötzlich eine Stimme ertönte.

,,Hallo, Evelyn!"

Ich erschrak mich fast zu Tode und drehte mich um. Dort stand Jim und hob eine Hand zur Begrüßung. Für einen Moment sah ich ihn perplex an, ehe ich meine Stimme wiederfand.

,,Jim! Sie haben mich erschreckt!", brachte ich hervor, während er mir einen entschuldigenden Blick zuwarf.

,,Tut mir leid! Das war nicht meine Absicht!"

,,Schon gut...halb so wild.", erwiderte ich und brachte ihm ein Lächeln entgegen.

Jim hatte die Hände in die Hosentaschen geschoben und jetzt hatte sich der Freund von Molly ziemlich raus geputzt. Er trug einen schwarzen Anzug, edle schwarze Schuhe und seine Haare waren ordentlich zurückgekämmt. Man erkannte ihn fast nicht wieder.

,,Und, gleich gehts zur Verabredung mit Molly?", meinte ich und er zog eine Augenbraue hoch.

,,Warum?"

,,Naja, weil Sie sich so in Schale geworfen haben.", gab ich zurück und deutete vielsagend auf seinen Anzug.

Jim sah an sich herunter und dann lächelte er leicht, als wäre ihm wieder eingefallen, dass er so elegant gekleidet war.

,,Ach, das...nun ja, um ehrlich zu sein ist es für einen anderen besonderen Anlass. Aber er hat nichts mit Molly zu tun."

,,Ach so! Na, dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Abend und viel Erfolg bei was auch immer.", entgegnete ich und wollte mich abwenden, als Jim mich nochmal zurückhielt.

,,Das hier ist doch die Wohnung von Sherlock Holmes und Dr. Watson, oder?"

Ich sah Jim an und folgte seinem Blick, als er auf die Haustür deutete, ehe ich nickte.

,,Ja, das ist sie. Wenn Sie zu Sherlock wollen, dann empfehle ich Ihnen aber besser, an einem anderen Tag wiederzukommen. Er dürfte jetzt ziemlich schlechte Laune haben."

Jim sah mich nachdenklich an, doch dann schüttelte er den Kopf und winkte ab.

,,Oh, nein! Sherlock und ich werden noch früh genug aufeinander treffen. Um ehrlich zu sein, wollte ich zu Ihnen, Evelyn."

Nun war ich gänzlich irritiert, denn irgendwas kam mit an der ganzen Sache komisch vor. Warum suchte Jim mich ausgerechnet vor der Wohnung von Sherlock und John auf und woher wusste er überhaupt, dass ich hier war?

Verwirrt sah ich Jim an und fragte mich, was das alles zu bedeuten hatte. Denn mein Gefühl sagte mir, dass etwas faul war und mein Gefühl hatte sich bisher noch nie getäuscht. Aber ich wahrte die Fassung und spielte weiter mit.

,,Wirklich? Weswegen denn?", fragte ich nun und Jim ging ein wenig auf und ab, während er mich geheimnisvoll ansah.

,,Naja, weil Sie zu Sherlock Holmes gehören. Selbst ein Blinder würde sehen, dass Sie ihm wichtig sind und Sie zu seinen Freunden zählen. Und das macht Sie so wichtig und zu einer entscheidenden Rolle, Evelyn. Eine Rolle von dem großen Spiel, welches ich für Sherlock Holmes geplant habe."

Ich konnte nicht anders, als ihn jetzt fassungslos anzusehen. Es ging hier also um Sherlock und ganz offensichtlich führte Jim etwas im Schilde, was Sherlock direkt betraf und mein Blick verfinsterte sich nun.

,,Wer sind Sie wirklich?"

,,Das werden Sie noch früh genug erfahren. Und ich entschuldige mich schon mal im Voraus.", sagte Jim, weshalb ich ihn irritiert ansah.

,,Wofür?"

Ehe er mir eine Antwort geben konnte, wurde ich von hinten gepackt und jemand drückte mir ein Tuch auf die Nase, welches in Chloroform getaucht worden war. Meine Umgebung begann sich zu drehen und langsam gab mein Kreislauf auf, woraufhin ich zu Boden ging. Ich hörte noch wie Jim siegessicher zu mir sprach, ehe ich das Bewusstsein verlor.

,,Keine Sorge, Evelyn...das Spiel hat gerade erst begonnen!"

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