Das verlorene Mädchen

Das verlorene Mädchen

Alicia PoV

Ich stand im Labor und machte gerade die letzten Angaben von dem Totenschein meiner neuen Leiche fertig. Seufzend klappte ich schließlich den Ordner zu und warf einen vielsagenden Blick auf den reglosen Körper, des Verstorbenen vor mir.

,,Tja, Ruhe in Frieden, Freddy Milton!"

Ich schob ihn zurück in die Leichenhalle, ehe ich den Ordner zur Seite legte, damit Greg ihn später abholen konnte. Denn seit Molly vor einem Jahr nach Australien gegangen war, hatte ich mich dazu entschlossen, ihren Posten zu übernehmen und da ich eh in England bleiben würde, war das auch keine allzu große Sache gewesen.

Ein Jahr! So viel Zeit war vergangen, seit ich nach London gekommen war, um meine beste Freundin Evelyn davor zu warnen, dass ihr mörderischer Bruder Vincent sich befreit hatte und nach ihr suchte. Dabei hatte dieser längst gewusst, wo sich Evelyn aufgehalten hatte und als er sie zum Spiel des Todes gezwungen hatte, war dies mit einer schicksalshaften Wendung zu Ende gegangen.

Evelyn war tot! Sie hatte Mycroft Holmes dazu gebracht, sie zu erschießen und somit das Leben von mir, John und Sherlock zu retten. Zwar hatte sie uns damit vor dem Tode bewahrt, aber seit dem Tod von Evelyn, standen wir alle mehr oder weniger vor einem emotionalen Scherbenhaufen.

Jeder von uns verarbeitete den Tod von Evelyn auf seine eigene Weise. Ihr ehemaliger Partner Greg, stürzte sich in die Arbeit und konzentrierte sich voll und ganz darauf, seine Fälle aufzuklären., womit er in letzter Zeit mehr denn je zu tun hatte und ich bekam ihn auch nur zu Gesicht, wenn er ein neues Opfer für mich hatte.
Ich selbst, litt unter Schuldgefühlen, weil ich Evelyn nicht früher vor Vincent gewarnt hatte. Wäre ich früher nach London gekommen, dann hätten wir sicher eine andere Lösung für das Problem gefunden, als den sicheren Tod meiner besten Freundin. Und hätte ich nicht John an meiner Seite, wäre ich unter all den vergangenen Ereignissen sicher zusammengebrochen.
John! Seitdem Evelyn sich für uns alle geopfert hatte, hatten er und ich fast jede freie Minute miteinander verbracht und wir waren uns dabei so nahe gekommen, dass wir mittlerweile unzertrennlich waren. Und ich liebte John! Mit jeder einzelnen Faser meines Körpers, denn er machte mich unendlich glücklich, was einzig und allein von der Tatsache überschattet wurde, dass Evelyn niemals zu uns zurückkehren würde.
John selbst, versuchte das Beste aus der Situation zu machen und verbrachte fast jede freie Minute damit, mir so gut er konnte zu helfen. Aber nicht nur ich bereitete ihm Sorgen, denn eine andere Person schien mit dem Tod von Evelyn so gut wie gar nicht fertig zu werden.

Sherlock Holmes hatte sich seit jenem Tag zurückgezogen und seit der Beerdigung von Evelyn, hatte ihn niemand mehr zu Gesicht bekommen. John war hin und wieder in der Baker Street gewesen, aber so sehr er auch versucht hatte, mit Sherlock zu reden...der Detektiv schwieg das Thema tot und auch sonst sprach er so gut wie kein einziges Wort. Irgendwann hatte er John dann sogar aus der Wohnung geworfen und seitdem hatte mein Freund nur noch selten bei Sherlock vorbeigesehen, weil er sonst befürchtete, die Situation noch schlimmer zu machen, als sie es ohnehin schon war.

Es war, als hätte der Tod von Evelyn eine riesige Lücke hinterlassen und diese vermochte nichts und niemand mehr füllen zu können. Ich spürte, wie mir eine einzelne Träne über die Wange lief und ich wischte sie weg. Die Zeit verging und dennoch wurde es einfach nicht leichter, mit dieser einzigen Tatsache fertigzuwerden: Evelyn war tot und sie würde es auch immer bleiben!
Mit einem Mal öffnete sich die Tür und ich dachte schon, dass es Greg wäre, aber zu meiner Überraschung erkannte ich John, der die Tür nun schloss und auf mich zukam.

,,Hey!", sagte er und gab mir einen kurzen Kuss, ehe ich ihn überrascht ansah.

,,Hey, was machst du denn hier?"

,,Ich wollte mal sehen, wie es dir geht. Euch beiden, meine ich.", erwiderte er und nun wanderten unsere Blicke zu meinem Bauch.

Er war mittlerweile zu einer leichten Wölbung herangewachsen, denn ich war im vierten Monat schwanger. Zwar war es keineswegs geplant gewesen, aber John war außer sich vor Freude gewesen, als ich es ihm gesagt hatte und mittlerweile hatte ich selbst das Gefühl, dass unser Baby genau das war, was uns endlich wieder glücklich machen könnte.

,,Oh, uns geht es gut.", versicherte ich ihm und schließlich warf ich ihm einen besorgten Blick zu. ,,Warst du bei ihm?"

,,Ja, das war ich."

,,Und?", hakte ich vorsichtig nach, ehe John seufzte und den Kopf schüttelte.

,,Unverändert! Er geht nicht raus, spricht nicht...nicht einmal seine Geige rührt er an. Und wenn Mrs. Hudson nicht dafür sorgen würde, dass er ab und an etwas isst, dann würde er das sicher auch nicht tun.", sagte John niedergeschlagen und ich spürte, wie ich selbst wieder unendlich traurig wurde.

,,Naja...er leidet...so, wie wir alle."

,,Ich weiß!", stimmte John mir zu, aber dann fuhr er sich durch seine Haare und wirkte ziemlich verzweifelt. ,,Es ist nur...es ist jetzt ein Jahr vergangen, seit...ich hatte einfach gehofft, dass die Zeit die Wunden heilen würde. Aber es kommt mir eher so vor, als wäre es erst gestern passiert."

John sah mich nicht an, aber ich wusste, wie er sich fühlte. Auch er vermisste Evelyn und ich bewunderte ihn dafür, dass er die Energie aufbrachte, sich um uns alle zu kümmern, obwohl er ja ebenfalls eine gute Freundin verloren hatte. Und neben Sherlock war er wohl der Einzige, der am meisten Zeit mit Evelyn verbracht hatte, seitdem sie einst hierher gezogen war. Ich ging auf ihn zu und legte ihm eine Hand an den rechten Arm.

,,Mir gehts genauso. Ich frage mich die ganze Zeit, was passiert wäre, wenn ich eher gehandelt hätte. Wenn ich Evelyn eher gewarnt hätte, dann hätten wir vielleicht was gegen Vincent unternehmen können und Evelyn wäre jetzt nicht...", brachte ich hervor und sofort sah er mich mitfühlend an.

,,Alicia...dich trifft keine Schuld! Du hast getan, was du konntest und mehr konnten wir alle nicht tun."

,,Aber wenn ich dir und Sherlock die Wahrheit gesagt hätte...dann wäre die Sache vielleicht anders ausgegangen.", widersprach ich, als John mein Gesicht umfasste und mir ernst in die Augen sah.

,,Mach dir bitte keine Vorwürfe mehr. Was geschehen ist, das ist geschehen. Und es bringt uns nichts darüber zu spekulieren, was gewesen wäre. Wir müssen jetzt damit leben. Etwas anderes bleibt uns nicht übrig."

Ich nickte schwach, aber besser ging es mir dadurch nicht. Aber zumindest schaffte John es, dass meine Schuldgefühle nicht mehr so erdrückend waren und nun sah ich ihn vielsagend an.

,,Am besten, du gehst nochmal in die Baker Street.", meinte ich, aber John war mehr als skeptisch bezüglich diesen Vorschlags.

,,Wozu? Damit Sherlock mich wieder im hohen Bogen rauswirft? Er will niemanden sehen. Nur Mrs. Hudson lässt er gelegentlich mal rein...damit sie ihm Tee bringen kann."

,,Und das war es jetzt? Du willst einfach aufgeben?", meinte ich, woraufhin John seufzte und unsere Hände miteinander verschränkte.

,,Natürlich nicht! Ich habe Mycroft angerufen und ihn gebeten, mit ihm zu reden. Vielleicht kann er Sherlock ja wieder zur Vernunft bringen."

Nun war ich diejenige, die skeptisch war. Denn ich befürchtete, dass dieser Schuss nach hinten losging. Immerhin war es Mycroft gewesen, der Evelyn erschossen hatte und obwohl sie es von ihm persönlich verlangt hatte, so gab Sherlock seinem Bruder in gewisser Weise dennoch die Schuld an Evelyns Tod. Obwohl er das niemals offen aussprach.

,,John, glaubst du wirklich, dass das so eine gute Idee war? Ich meine, Mycroft war immerhin derjenige, der...du weißt schon. Sherlock ist damals schon nicht gut auf ihn zu sprechen gewesen und ich glaube nicht, dass das nach einem Jahr jetzt anders ist. Am Ende landet Mycroft noch als weiteres Experiment im Kühlschrank."

,,Das Risiko müssen wir wohl oder übel eingehen. Eine andere Lösung fällt mir zumindest nicht ein. Und wer weiß...vielleicht bringt seine Anwesenheit Sherlock immerhin dazu, irgendeine Reaktion zu zeigen. Das wäre immerhin ein Anfang.", meinte John und ich sah ihn zweifelnd an.

,,Dann geh aber wenigstens nachsehen. Ganz egal, was passiert ist...ich hätte ungern Mycroft als nächstes Mordopfer auf dem Seziertisch."

Vielsagend sah ich John an und dieser gab sich schließlich geschlagen. Zwar bezweifelte ich immer noch, dass Mycroft etwas bei seinem Bruder bewirken konnte, aber wenn es so war, dann wäre John der Einzige, der Sherlock davon abhalten konnte, seinem Bruder an die Gurgel zu gehen.

,,Okay, ich gehe nochmal hin. Wir sehen uns später.", sagte John und küsste mich, bevor er zurück zur Tür ging.

,,Bis dann! Und grüß Sherlock von mir."

John nickte und verließ die Pathologie. Möglicherweise war es unangebracht, ihm sowas mit auf dem Weg zu geben, aber irgendwie musste unser Leben doch weitergehen. Und wenn wir nicht irgendwann zum gewöhnlichen Alltag zurückfanden, wie sollten wir dann jemals mit dieser Sache fertigwerden?

Ich begab mich zum Schreibtisch und als ich eine Schublade öffnete, fiel mein Blick auf eine geschlossene Akte. Für einen Moment war ich erstarrt, aber dann zog ich sie heraus und mein Blick fiel auf den betreffenden Namen: Evelyn Headley!
Es war die Todesakte meiner besten Freundin, die damals noch von Molly Hooper ausgestellt worden war. Evelyn war der letzte Fall von Molly gewesen, bevor diese nach Australien gegangen war und ich fragte mich, wie Molly den Tod von Evelyn wohl inzwischen verkraftet hatte. Zwar waren die beiden jetzt nicht die engsten Freunde gewesen, aber so viel ich wusste, hatten sie immerhin durch die Arbeit miteinander zu tun gehabt und Molly war ein sehr lieber Mensch, weshalb ich sie eigentlich mochte. Obwohl ich sie kaum kannte.

Ich strich über die Akte und obwohl ich ja bereits wusste, woran Evelyn gestorben war, öffnete ich sie. Ein Foto von Evelyn war eingeklebt und als ich auf den Totenschein sah, zog sich alles in mir zusammen. Es war ein schreckliches Gefühl, den Tod von Evelyn wieder so nah vor Augen zu haben und mir liefen erneut Tränen über die Wangen. Aber dieses Mal ließ ich sie zu und wehrte mich nicht gegen den Schmerz, der sich wieder in mir ausbreitete.
Mein Blick richtete sich nun auf die feinen Linien, die Molly geschrieben hatte und wie von selbst überflog ich den Text über die Todesursache. Doch dann schüttelte ich den Kopf und fragte mich, warum ich mir das eigentlich antat. Es konnte ja nicht einfacher werden, wenn ich mich immer wieder mit dieser Sache konfrontierte, als sie hinter mir zu lassen.
Ich wollte gerade die Akte wieder zuklappen, als mir etwas ins Auge stach, was ich vorher nicht bemerkt hatte. Wie hypnotisiert starrte ich auf ein einziges Detail, was mich innerlich erstarrten ließ.

,,Das...das kann doch nicht..."

Ich starrte weiter auf das Papier und mit einem Schlag kam mir ein ungeheuerlicher Verdacht. Molly Hooper war zwar ein schüchternes unscheinbares Mädchen, aber was ihren Beruf anging,da machte sie keine Fehler. Und vielleicht war dies kein Fehler, sondern nur ein für sie unbedeutendes Detail gewesen, was für mich jedoch alles schlagartig änderte. Sofort stand ich auf, warf meinen Kittel über den Stuhl und nahm die Akte mit. Schnell verließ ich die Pathologie, eilte nach draußen und rief mir ein Taxi. Dieser mögliche Hinweis ließ mich nicht mehr los und ich wusste, dass es nur eine einzige Person gab, die darüber Bescheid wissen konnte.

                             ***

Kurze Zeit später erreichte ich auch schon die Baker Street. Nachdem ich dem Fahrer sein Geld gegeben hatte, öffnete ich die Haustür und eilte die Treppe nach oben. Von dort erklang bereits eine unverwechselbare Stimme, die mich nur noch in meinem Tempo beschleunigte. Zumindest, soweit es mir mein Zustand zuließ.

,,Wie oft noch...es tut mir wirklich leid. Was soll ich dir denn noch sagen, Sherlock?", hörte ich Mycroft sagen, als ich auch schon ins Wohnzimmer platzte und John mich überrascht ansah.

,,Alicia...was machst du...", weiter kam er nicht, denn ich ging direkt auf Mycroft zu und sah ihn wütend an.

,,Wie wäre es mit der Wahrheit, Mycroft?"

,,Wie bitte?", brachte er perplex hervor, doch ich fiel nicht länger darauf rein.

,,Tu nicht so unschuldig!", zischte ich und John eilte an meine Seite.

,,Alicia, was ist denn los?"

,,Und was meinst du mit Wahrheit?", wollte nun Sherlock wissen, als ich schließlich in meine Tasche griff, die Akte hervorzog und diese vor Mycroft auf den Tisch knallte.

,,Was ist das?", entgegnete Mycroft irritiert, doch ich warf ihm weiterhin wütende Blicke zu.

,,Das ist die Todesakte von Evelyn!", setzte ich an und bemerkte, wie John sich anspannte und Sherlock erschüttert auf die Mappe starrte. ,,Und ich muss schon sagen, Mycroft...ihr habt wirklich gründlich gearbeitet! Oder besser gesagt Molly, denn die hat die Mappe ja ausgefüllt, nicht wahr? Alle Angaben sind vorhanden und auch korrekt: Haarfarbe, Augenfarbe, Größe, Gewicht...Geburtstag...ihr ward wirklich sehr gründlich und habt nichts übersehen. Bis auf ein winziges Detail!"

Ich beugte mich vor, klappte die Mappe auf und alle Blicke waren nun auf die Notizen von Molly gerichtet, welche den Tod von Evelyn dokumentierten. Mycroft wagte nicht, sich zu rühren, als ich schließlich auf den Hinweis deutete und ihn herausfordernd ansah.

,,Die Blutgruppe ist falsch! Evelyn hat nicht 0 negativ, sondern die seltene Blutgruppe AB negativ, genau wie ihr Bruder Vincent. Ich weiß es, weil uns in der Ausbildung damals Blut abgenommen wurde. Also entweder hat Molly damals einen Fehler gemacht, was ich bezweifle, oder die Leiche, die sie für tot erklärt hat, war nicht Evelyn!"

Während ich Mycroft ansah, bemerkte ich die erschütternden Blicke von John und Sherlock. Während John die Gesichtsfarbe entwichen war, so war Sherlock wie versteinert und starrte die ganze Zeit auf die Akte.

,,Miss Hooper muss beim Eintragen wohl oder übel ein Fehler unterlaufen sein, Alicia. Aber das macht Evelyn auch nicht wieder lebendig. So leid es mir auch tut.", entgegnete Mycroft kühl und ich schnaubte verächtlich.

,,Ich glaube dir kein Wort, Mycroft! Was ist an jenem Tag wirklich geschehen?"

,,Das wisst ihr bereits!"

,,Du lügst!", fauchte ich, woraufhin John meine Arme umfasste und mich eindringlich ansah.

,,Alicia, bitte beruhige dich! Ich weiß, dass ist alles ziemlich schwer für dich und für uns ist das auch nicht leicht...aber Evelyn ist tot. Der Schuss hat sie sofort getötet. Ich habe es selbst überprüft."

,,Mag sein, aber es kann doch sein, dass ein Trick angewandt wurde. Immerhin wurde Sherlock auch mal 2 Jahre lang für tot gehalten. Was ist, wenn es bei Evelyn auch so ist? Wenn ihr Tod nur Täuschung war?"

Zuerst lagen die Blicke auf mir, doch nun wanderten sie langsam zu Mycroft, der sich sichtlich unwohl fühlte. Nervös schien er nach einem rettenden Erdloch zu suchen, doch hier würde er garantiert keins finden.

,,Mycroft...beantworte mir eine Frage und das mit Ehrlichkeit.", setzte ich an und sprach meinen Verdacht schließlich aus. ,,Ist Evelyn noch am Leben?"

Ich starrte ihn an und ließ ihm keine Chance mehr auszuweichen. Auch John und Sherlock richteten ihre Blicke weiterhin auf Mycroft, der sich sichtlich in die Enge getrieben fühlte. Und obwohl er sich bemühte, die Fassung zu wahren, so erkannte ich, dass sein Widerstand bereits gebrochen war und schließlich gab er uns allen die Antwort, welche jeden von uns bis ins Mark traf.

,,Ja!"

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