Auf Leben und Tod
Auf Leben und Tod
Evelyn PoV
Die Stimme von Vincent hatte mich förmlich zu einer Statue erstarren lassen und ich verspürte nur noch ein Gefühl: Panik! Doch noch bevor ich wahrhaftig realisiert hatte, dass meinem Bruder meine Abwesenheit nun aufgefallen war, riss Sherlock mich mit sich.
,,Lauf!"
Seine Stimme riss mich aus meiner Starre und sofort stürmten wir dichter in den Wald hinein. Ich hatte keine Ahnung, wo wir waren oder wohin wir liefen, aber das war mir auch vollkommen egal. Wir mussten so viel Abstand zwischen uns und Vincent bringen wie nur möglich und ich konnte mir in etwa vorstellen, wie wütend mein Bruder jetzt war. Aber das war mir egal, denn um keinen Preis der Welt würde ich zu ihm zurückkehren. Dort würde mich nur die Hölle erwarten und ich war nicht mein ganzes Leben lang vor ihm geflohen, um ihn jetzt gewinnen zu lassen.
Sherlock und ich rannten durch den Wald und ich wusste nicht, wie weit wir schon gelaufen waren. Nun kamen wir zum Stehen und ich hatte das Gefühl, dass meine Lungen jeden Moment explodierten, denn sie fühlten sich an, als stünden sie in Flammen.
,,Wir müssen weiter.", sagte Sherlock und ich wollte gerade etwas erwidern, als er mich mit einem Mal mit sich zog und ich fand mich urplötzlich in einem dichten Gebüsch wieder.
Als ich erneut zur Antwort ansetzen wollte, hinderte er mich erneut daran, indem er mir andeutete still zu sein. Ich folgte seinem Blick und erkannte Vincent, der nur wenige Meter von uns entfernt auftauchte und in seiner Hand sah ich die Waffe, die er auch schon dabei gehabt hatte, als er in der Baker Street aufgetaucht war.
Ich wagte kaum zu atmen und spürte einzig und allein den schnellen Herzschlag von Sherlock, der sich keinen Millimeter bewegte und den Blick auf Vincent fokussiert hatte. Mein Bruder sah sich suchend um und nachdem er festgestellt hatte, dass wir nirgends zu sehen waren, stürmte er in eine andere Richtung weiter. Sherlock und ich rührten uns jedoch für ein paar Minuten weiterhin nicht, bis wir sicher waren, dass Vincent auch wirklich weg war.
Sherlock stand auf und zog mich auf die Beine, ehe er sich wachsam umsah und dabei nicht einen Moment lang meine Hand losließ. Vincent war anscheinend wirklich woanders hingelaufen, denn Sherlock steuerte nun den Rückweg an und zog mich mit sich.
,,Komm!"
Natürlich leistete ich keinen Widerstand, denn ich vertraute darauf, dass Sherlock uns sicher hier rausbringen würde. Denn bisher hatte Sherlock es immer irgendwie geschafft einen Ausweg zu finden und ich hoffte einfach inständig, dass es dieses Mal auch so war.
Wir rannten weiter und auf einer kleinen Lichtung kamen wir wieder zum Stehen. Meine Beine zitterten von dem Marathon und mein Herz fühlte sich an, als würde es jeden Moment aus der Brust springen, während ich mich hektisch umsah und nach Atem rang.
,,Haben wir ihn abgehängt?", brachte ich hervor und Sherlock hielt weiterhin nach Vincent Ausschau, der aber nirgends zu sehen war.
,,Ich glaube schon."
Ich versuchte meine Atmung zu normalisieren und sah, wie Sherlock sein Handy zückte und blitzschnell auf dem Bildschirm herum tippte, ehe er es wieder in seiner Manteltasche verschwinden ließ.
,,Was tust du?"
,,Ich habe Mycroft unseren Standort geschickt. Er informiert Lestrade und schickt sie her.", erklärte Sherlock und schlagartig fühlte ich mich besser.
Sherlock hatte wirklich an alles gedacht und sobald Greg mit der Kavallerie erstmal hier war, würde dieser Albtraum hoffentlich ein Ende nehmen. Dennoch blieb ein kleines Gefühl der Unsicherheit und ich warf Sherlock einen zweifelnden Blick zu.
,,Was, wenn er uns findet, bevor sie eintreffen?"
,,Das wird er nicht. Und selbst wenn...", setzte Sherlock an und meine Augen weiteten sich, als er plötzlich eine Waffe aus der Innentasche seines Mantels zog. ,,werde ich die hier im Notfall einsetzen."
Sherlock hatte also allen Ernstes eine Waffe dabei. Ich zweifelte natürlich keine Sekunde lang daran, dass er im Ernstfall wirklich von ihr Gebrauch machen würde, aber er war nicht der Einzige, der bewaffnet war. Denn mein wahnsinniger Bruder besaß ebenfalls eine Schusswaffe und er würde sicherlich keine Sekunde zögern, um sie gegen Sherlock einzusetzen. Mich würde er ja nicht erschießen, aber Sherlock war für ihn nur ein weiteres Hindernis, welches er aus dem Weg räumen würde, wenn es darauf ankam. Und da ich geflohen war, würde das sicher Konsequenzen nach sich ziehen.
Nun schien Sherlock meine Unsicherheit und Angst zu spüren, denn er legte seine linke Hand auf meine Schulter und sah mich zuversichtlich an.
,,Es wird alles gut, Evelyn. Wir schaffen das."
,,Und was, wenn Vincent sich rächt? Er hat nichts zu verlieren und er würde dich ohne zu zögern töten, Sherlock. Er würde alles tun, um mich für sich zu haben.", brachte ich hervor, woraufhin sich Sherlock kaum merklich anspannte und den Kopf schüttelte.
,,Soweit wird es nicht kommen. Wir sind zu zweit und er allein."
,,Das hat ihn noch nie abgeschreckt.", widersprach ich und hatte Mühe, meine Panik nicht wieder die Oberhand gewinnen zu lassen. ,,Egal, was wir tun...Vincent wird niemals aufgeben."
,,Du hast Recht!", erklang eine mir nur zu vertraute Stimme und wir fuhren erschrocken herum, als Vincent auch schon vor uns stand. ,,Das werde ich nicht!"
Er hatte sich so leise angeschlichen, dass weder Sherlock noch ich ihn bemerkt hatten. Mein Bruder hatte die Waffe auf uns gerichtet und ich war ganz starr vor Entsetzen, weshalb ich mich auch nicht wehrte, als Sherlock mich ein Stück hinter sich schob und meinen Bruder nun entschlossen ansah.
,,Es ist vorbei, Vincent."
,,Nichts ist vorbei, solange ich noch atme.", zischte Vincent und funkelte Sherlock wutentbrannt an, woraufhin ich die Kontrolle über meinen Körper zurückerlangte und meinen Bruder schon regelrecht anflehte.
,,Bitte, Vincent...mach es nicht noch schlimmer, als es ohnehin schon ist. Es sind schon genug Menschen gestorben."
,,Es hätte ja gar nicht so weit kommen müssen. Du hättest einfach nur akzeptieren müssen, dass wir beide zusammengehören und schon wären uns viele Leichen erspart geblieben. Aber du wolltest ja unbedingt die dramatische Actionversion von einem Leben. Was glaubst du denn, wie das hier ausgeht?", entgegnete er und der Sarkasmus war unverkennbar. ,,Keine Idee? Dann werde ich dich mal erläutern. Zuerst wird Sherlock Holmes das Zeitliche segnen. Damit hätten wir dann auch das letzte Hindernis aus dem Weg geräumt und du hast keinen Grund mehr, mich abzuweisen. Dann steigen wir beide in den Flieger, kehren dieser ätzenden Stadt den Rücken und leben glücklich bis ans Ende unserer Tage."
Fassungslos starrte ich Vincent an und wusste gar nicht, was ich darauf erwidern sollte. Er war vollkommen wahnsinnig und meine Angst um Sherlock stieg in dieser Sekunde ins Unermessliche. Doch Sherlock schien sich weniger vor meinem Bruder zu fürchten, denn er richtete nun seine eigene Waffe auf ihn.
,,Evelyn wird mit Ihnen nirgendwo hingehen."
,,Clarissa!", fauchte Vincent meinen Namen und sah mich herausfordernd an, während er die Waffe weiter auf Sherlock richtete. ,,Komm her oder ich werde ihn vor deinen Augen umbringen. Wie schon gesagt...du hast die Wahl."
Erschütterung spiegelte sich in meinem Blick wieder, aber ich konnte mich nicht von der Stelle rühren. Nicht nur, weil ich wie festgewachsen war, sondern vielmehr deswegen, weil Sherlock mir keine Möglichkeit gab, an ihm vorbeizugehen.
,,Sherlock Holmes, werfen Sie die Waffe weg oder Sie werden es bitter bereuen.", knurrte Vincent, woraufhin Sherlock ihm jedoch die kalte Schulter zeigte.
,,Wenn Sie mich jetzt erschießen, dann verlieren Sie Ihr bestes Druckmittel. Und Sie wissen, dass Evelyn Sie dann noch mehr hassen wird, als sie es ohnehin schon tut."
Vincent sah zu mir und mein Blick schien ihm Bestätigung genug für Sherlocks Aussage zu sein. So sehr mein Bruder auch durchgeknallt sein mochte, er kannte meine Gefühle für Sherlock und er wusste auch, dass ich ihm niemals vergeben würde, wenn er ihn auch noch umbrachte. Ich konnte ihm ja schon nicht verzeihen, dass er unsere gesamte Familie ermordet hatte. Allerdings kannte ich Vincent und ich ahnte, dass er nur auf den richtigen Moment wartete, um Sherlock aus dem Weg zu räumen und ich musste die Situation irgendwie entschärfen.
,,Sherlock, bitte tu was er sagt.", sagte ich so leise, dass nur Sherlock es hören konnte, der sich jedoch nicht rührte.
,,Dann sind wir im Nachteil, Evelyn. Er wird mich nicht erschießen, denn dann würde er deinen Hass auf sich ziehen."
,,Er weiß, dass ich ihn schon längst hasse. Das hat ihn auch nicht davon abgehalten, unsere Eltern zu töten. Auf meine Gefühle nimmt er keine Rücksicht...das hat er noch nie getan."
Das sprach ich nun vielmehr zu Vincent, der daraufhin nur zustimmend grinste. Zuerst zeigte Sherlock immer noch keine Reaktion, aber dann gab er nach und warf die Waffe wenige Meter von uns entfernt in den Rasen. Ich atmete ein wenig auf, während Vincent uns nun triumphierend ansah.
,,Kluge Entscheidung! Und jetzt...Seien Sie vernünftig und lassen Clarissa gehen.", forderte mein Bruder, doch Sherlock dachte gar nicht daran, dem Folge zu leisten.
,,Evelyn bleibt bei mir."
,,Warum machen Sie es uns so schwer, Sherlock? Geben Sie Clarissa einfach auf und gehen zurück in die Baker Street. Ich bin sicher, dort warten wieder genug Klienten auf Sie, deren Zeit Sie mit Ihren langweiligen Deduktionen verschwenden können.", raunte Vincent ihm ungerührt zu und ich wollte schon etwas sagen, als Sherlock mir bereits das Wort abschnitt, noch bevor ich überhaupt Luft geholt hatte.
,,Denk nicht mal dran, Evelyn."
Sherlock würde mich nicht gehen lassen und Vincent würde mit seiner Geduld bald am Ende sein, denn ich konnte ihm ansehen, dass er innerlich kochte. Mir blieb also nicht viel Zeit, um eine Lösung zu finden. Aber Vincent gab mir noch nicht einmal die Möglichkeit nachzudenken, denn er lud die Waffe kurzer Hand durch und warf Sherlock einen vielsagenden Blick zu.
,,Tja, dann war es das wohl für Sie, Sherlock Holmes.", sagte er, doch da reagierte ich sofort und binnen weniger Sekunden hatte ich mich vor Sherlock gestellt, der überhaupt nicht mit dieser Reaktion gerechnet hatte.
,,NEIN!"
,,Clarissa, geh mir aus dem Weg!", fauchte Vincent, aber ich schüttelte energisch den Kopf.
,,Niemals! Ich werde nicht zulassen, dass du ihm etwas antust."
Ich spürte, wie Sherlock mich zur Seite schieben wollte, aber ich wehrte mich eisern dagegen und rührte mich nicht von der Stelle. Vincent würde es sich zweimal überlegen jetzt abzudrücken, denn ich war ihm wichtiger als Sherlock.
,,Ich sage es nicht nochmal.", zischte mein Bruder, aber ich sah ihn nun entschlossen an und war bereit, bis zum Äußersten zu gehen.
,,Wenn du ihn töten willst, wirst du mich mit erschießen müssen.", erwiderte ich, woraufhin Vincent mich fassungslos ansah. ,,Sieht wohl aus, als hättest du jetzt die Wahl, Vincent. Du tötest uns beide oder du lässt uns gehen."
,,Das könnte dir so passen. Ich sehe garantiert nicht zu, wie ihr beide miteinander glücklich werdet. Und wenn ich dich nicht haben kann...", entgegnete mein Bruder eiskalt und richtete die Waffe nun direkt auf mich. ,,dann soll dich niemand haben!"
Was dann geschah, ging rasend schnell. Vincent drückte ab und ich machte mich darauf gefasst, die tödliche Kugel zu abzubekommen, doch dazu kam es nicht. Stattdessen spürte ich nur, wie Sherlock mich zur Seite stieß und ich unsanft auf dem Boden landete.
Binnen weniger Sekunden schnellte mein Blick nach oben, doch da fand die Kugel bereits ihr Ziel und landete in Sherlocks Bauch. Er wurde zurück katapultiert und bevor ich überhaupt realisiert hatte, was geschehen war, verließ bereits ein Schrei meine Lippen.
,,NEIN!"
Sherlock blieb am Boden liegen und ich sah zu Vincent, der nun ausdruckslos zu ihm sah und ergebend seufzte, während er nur den Kopf schüttelte.
,,Ich hatte Sie ja gewarnt, Sherlock. Aber wer nicht hören will...der muss bekanntlich fühlen."
Ich war wie erstarrt und konnte nur zu Sherlock sehen, der das Gesicht vor Schmerzen verzog. Normalerweise wäre ich sofort zu ihm gestürmt, aber Vincent versperrte mir den Weg, denn er ging nun bedrohlich auf Sherlock zu und ich sah, wie er erneut die Waffe durchlud.
Es reichte ihm nicht, dass er Sherlock schwer verletzt hatte. Nein! Er würde ihm ohne Zweifel den Gnadenstoß versetzen und das musste ich um jeden Preis verhindern. Verzweifelt sah ich mich um, aber von der Polizei war noch nichts zu sehen. Dafür fing mein Blick etwas anderes ein, denn direkt vor mir lag die Waffe, die Sherlock vor wenigen Minuten ins Gras geworfen hatte.
Sofort ergriff ich sie und stand langsam auf, während Vincent nur noch wenige Schritte von Sherlock entfernt war. Seine Aufmerksamkeit war voll und ganz auf Sherlock gerichtet und ich wusste, dass ich nur einen einzigen Versuch hatte.
,,Eigentlich schade, Mr. Holmes! Ich hab Sie sogar irgendwie gemocht.", brachte Vincent hervor, ehe er mit den Schultern zuckte. ,,Naja, leben Sie wohl!"
Mit diesen Worten richtete er die Waffe auf Sherlock, während ich meine auf Vincent richtete. Niemand von uns würde jetzt noch zögern und ehe die nächste Sekunde verstrichen war, fiel ein tödlicher Schuss!
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