~ Zweiundsechzig~

Was machte er hier eigentlich? Warum war er überhaupt hierhergekommen – gerade hier hin – und war nicht einfach zu Hause geblieben?
Was erhoffte er sich?
Ein freudiges Wiedersehen mit seinen Eltern? Seinen Eltern, die er über ein Jahr nicht mehr gesehen hatte? Die er das letzte Mal an Weihnachten gesprochen hatte? 
Suchte er nach Antworten auf Fragen, die er nie finden würde? Was bitte wollte er hier? 

Die Vorstellung, dass Menschen zu ihren Wurzeln, ihrer Heimat zurückkehrten, um wieder zu sich selbst und ihren ganz persönlichen Wünschen zurückzufinden mag schön klingen und vielleicht sogar eine heilende Wirkung haben, aber in der Realität sah das ganz anders aus. 
Denn dort war nur ein kleines in die Jahre gekommenes Haus, voller verdrängten Erinnerungen an brisante Diskussionen, dem Gefühl des Nicht – Angekommenseins und dem Fluchtwunsch. Und zwischen all dem stand er. 
Und das alles nur, wegen einem Mädchen. 

Gott, er hatte nie gedacht, dass er einmal so weich werden würde.
Aber nun stand er hier, auf einer kleinen Veranda, wie sie im Buche stand und sah auf die abgeblätterte Fassade seines Elternhauses. 
Es war, als ob die Zeit nichts verändert hatte. Die Gefühle, die Fassade, alles war gleich. Er fühlte sich wieder wie der vierzehnjährige Junge, der sich nach Hause schlich, im Gepäck eine fünf in Mathe. 
Niall hatte gedacht, dass diese Zeiten hinter ihm langen, aber die Zeit nahm anscheinend nicht alles. Sie konnte Gras über eine Angelegenheit wachsen lassen, sie wie ein Verband verdecken, aber wenn er wieder abgenommen wurde, hatte die Wunde sich nur unwesentlich verändert. Es gab einfach Dinge, die sich nie ändern würde. 

Seufzend wanderten seine Finger immer wieder über den eingerosteten Klingelknopf ohne ihn jemals zu betätigen. Und immer wieder hasste er sich für seine Feigheit. 
Komm schon, drängte er sich selbst, klingele einfach, mehr nicht. Aber bis jetzt hatten seine Bemühungen noch nicht den gewünschten Effekt gehabt. Er stand schließlich immer noch vor einer geschlossenen Tür. 
Allein mit seinen Gedanken und Ängsten.
Wenn er könnte, würde er einfach wieder zurückfahren, aber Niall wusste nur zu gut, das Weglaufen keine Lösung war. 
Er hasste Louis zwar für seinen Anfall an Verantwortungsbewusstsein, aber vielleicht hatte er recht. 
Niall musste sich über ein paar Dinge klar werden und versuchen einen klaren Kopf zu bekommen. 
Aber das ausgerechnet an einem Ort, an dem seine Gedanken nicht unsteter sein konnten? Anscheinend schon. Zehn Sekunden noch, schloss er mit sich selbst einen Deal. 

Zehn Sekunden, um einmal ruhig ausatmen zu können und sich gegen das zu wappnen, was sich hinter dieser Tür abspielen könnte.
10, begann er zu zählen. 9…8...7...6...5...vielleicht sollte er doch noch ein wenig warten.
Nein, er würde es jetzt durchziehen, ohne jeden Zweifel…4…3…2…1…
Blitzschnell drückte er seinen Finger auf das kalte Metall und klingelte einmal…zweimal…dann ließ er von der Klingel ab und atmetete tief ein. 
Es dauerte keine zwei Minuten bis die Tür geöffnet wurde und eine kleine füllige Frau mit herzförmigen Gesicht und einem fassungslosen Gesichtsausdruck zu ihm herauf sah.
Als seine Mutter Niall erkannte bogen sich ihre Mundwinkel nach oben und Lachfältchen bildeten sich darum. 

„Niall?“, murmelte sie verwundert und musterte ihn mit ihren trüben grauen Augen.

Sie hätte ihm jetzt eine Menge Vorwürfe machen können. Angefangen bei: Warum hast du dich in der letzten Zeit nicht gemeldet? – bis hin zu: Warum musst du deiner Mutter so einen Schrecken einjagen. 
Aber stattdessen sagte sie gar nichts und bereitete ihre Arme aus. 

„Oh Niall“, murmelte sie, als er ihre Umarmung erstaunt erwiderte. „Komm doch rein.“ 

Er folgte ihr durch den schmalen Flur, in dem noch immer der gleiche Teppich lag, denn Niall als Jugendlicher so grässlich altbacken empfunden hatte. 
Vorbei an der Treppe mit den knatschenden Treppenstufen, die ihm nach langen Nächten, in denen er ohne Erlaubnis seiner Eltern unterwegs gewesen war, schon so manches Mal zum Verhängnis wurden. 
Bis hin ins Wohnzimmer mit dem weißen Spitzentuch mit den  bunten Verzierungen, das immer noch auf dem Wohnzimmertisch lag. Wie oft hatte er sich gewünscht, es einfach vom Tisch zu reißen samt all den Gegenständen darauf? Er wusste es nicht mehr. 

Sie bot ihm einen Sitzplatz auf der alten Couch an, deren Farbe er auch heute noch nur erahnen konnte. Von Khaki, über ein gemischtes Braun bis hin zu einem undefinierbaren Grün war alles dabei.
Dankend setzte Niall sich hin und sah sich neugierig um. Es hatte sich wirklich nichts verändert. Aber auch gar nichts. 
Der alte Grundig Fernseher, der schon so oft den Geist aufgegeben hatte, dass Niall es irgendwann aufgegeben hatte zu zählen, stand noch immer auf einem Regal der großen mahagonifarbenden Wohnzimmerwand. An den Wänden hingen noch immer seine Kinderfotos.
Schnell wandte er den Blick ab. Man musste sich schließlich nicht alles tun. 

„Dein Vater ist noch nicht zu Hause…“, versuchte seine Mutter das Gespräch in Gang zu halten. „Er ist immer noch…“

„Auf der Baustelle“, beendete Niall ihren Satz lächelnd. 

Sein Vater war Maurer mit Leib und Seele. Niall konnte sich an keinen Tag erinnern, an dem er vor Anbruch der Dämmerung zu Haus gewesen war.

„Du weißt es also noch“, entgegnete sie ihm und lächelte ihn an, während sie sich in ihren Sessel niederließ.
Niall nickte. Natürlich wusste er es noch. Er war sogar froh, dass er erst einmal nicht auf seinen Vater treffen würde. 

Wie viele Väter und Söhne hatten sie ein schwieriges Verhältnis gehabt, vor allem als Niall älter wurde und sich immer weiter von seinem Vater und seinen Vorstellungen entfernt hatte. Sein Vater hatte immer davon geträumt, dass er irgendwann in seiner kleinen Firma arbeiten würde.
Aber wie jeder Jugendliche hatte Niall seinen eignen Kopf gehabt und dieser wanderte lieber in den Sphären der Noten, Rhythmen und Melodien, anstatt sich mit der Welt des Zements, der Steine und den Maschinen zu beschäftigen. 

„Und du“, sagte Niall, als sie eine Weile geschwiegen hatten. „Wieso bist du nicht in der Backstube?“ 

Seine Mutter war das Paradebeispiel einer Bäckerin. Niall war sich sicher, dass man im Wörterbuch unter „Bäckerin“ ein Bild seiner Mutter vorfinden würde. 
Das herzliche Lächeln, der Geruch nach Backwaren, die weiße Schürze um ihre füllige Hüfte, die weißblonden Haare, die sie immer hochgesteckt trug.
Als Kind hatte Niall dank ihr immer die besten Pausenbrote gehabt, um die ihn alle beneidet hatten. Und wenn sie dann Geld hatten liefen sie zuerst immer in die kleine Bäckerei, in der seine Mutter arbeitete und kauften sich die Leckereien, von denen Niall einfach so naschen durfte.

„Nun ja“, druckste seine Mutter rum und Niall betrachtete sie neugierig. „Die Bäckerei ist vor ein paar Monaten pleite gegangen.“

„Das kann doch gar nicht sein!“, rief Niall fassungslos aus. „Alle haben eure Brötchen geliebt.“ 

Vielleicht auch weil sie die einzige Bäckerei im Dorf gewesen war. 

„Ein paar Dinge können sich auch in einem Dorf wie diesem hier ändern“, belehrte ihn seine Mutter vorwurfsvoll mit einem bittersüßen Lächeln im Gesicht.
„Es kamen neue Backwarenläden dazu – hippere wie die Jugendlichen hier zu sagen pflegen – und eine kleine traditionelle Bäckerei, die sich geweigert hatte diese mit Farbstoffen und Chemikalien gefütterten Kuchen – wie heißen sie denn…“ 
Sie runzelte die Stirn und sah angestrengt in die Ferne. 
„Ah Cupcakes...zu backen…tja, es kam einfach niemand mehr. Quantität scheint zurzeit über Qualität zu stehen. Der Schwächere geht unter“, erzählte sie, während sie die Hände in den Schoss legte.
„Aber ich habe eine kleine Stelle als Putzfrau bei einer älteren Dame bekommen, die nicht weit von hier wohnt. Ich muss nur zweimal die Woche arbeiten, es ist wirklich schön.“

Niall versuchte vor seiner Mutter um Fassung zu ringen, aber das schlechte Gewissen nagte an ihm. Er hatte sie ihm Stich gelassen.

„Aber du bist doch selber schon über 60! Du bräuchtest eine Haushaltshilfe!“, entfuhr es Niall, doch seine Mutter schüttelte lächelnd den Kopf uns sah ihn an, als ob er etwas vollkommen abwegiges gesagt hatte. 
„Brauchst du Hilfe?“, fragte Niall und obwohl er wusste, dass seine Mutter ihn wegen seiner Frage auslachen würde, konnte er es sich nicht nehmen lassen, zumindest zu fragen. 

„Ach Niall“, rief sie aus. „Du hast doch selbst genug Schwierigkeiten, Junge, es ist nicht einfach sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, vor allem als Künstler, du verdienst doch selbst kaum etwas.“

Genau diese Antwort hatte er von ihr erwartete. Vielleicht hatten sich die Lebensumstände seiner Eltern verändert, ihre Einstellung war aber die ganze Zeit über die gleiche geblieben, dachte Niall verbittert. 
Sofort verhärteten sich seine Gesichtszüge wieder.
Es war eine Schnapsidee gewesen hierherzukommen, schalte er sich selbst. Mit diesem Kapitel seines  Lebens hatte er schon lange abgeschlossen. Es war unsinnig all den alten Groll wieder ans Tageslicht zu befördern.
Es würde sich nichts ändern.

„Ach Niall jetzt sieh mich doch nicht so an“, tadelte sie ihn. 

„Wie denn?“, brachte Niall noch gerade so heraus.

„Als ob du gleich wütend in dein Zimmer davon stampfen und die Tür hinter dir zu schmeißen würdest, so wie früher.“

Nein, das würde er nicht machen. Diese Zeiten waren vorbei. Wenn er jetzt wollte, konnte er einfach gehen.
Dieser Gedanke war unglaublich befreiend für ihn, er hatte die Kontrolle über die Länge ihrer Unterhaltung. Niemand sonst. 

„Ich weiß, ich weiß“, beeilte sie sich zu sagen. „Du kannst jetzt einfach gehen. Aber bitte tu es nicht.“ 

Sie sah ihn mit flehenden Augen an, als ob sein Weggehen ihr den Boden unter den Füßen wegreißen würde.
Er konnte ja gar nicht anders, als zu bleiben.
„Na dann“, sagte seine Mutter glücklich und hievte sich aus ihrem Sessel hoch. „Dann mache ich mal Tee für uns.“  

Als seine Mutter unter heftigen Protesten seinerseits –„Das musst du wirklich nicht machen“, „Ich kann dir auch helfen“– summend in der Küche verschwand, ließ sich Niall müde gegen die Lehne der Couch sinken. 
Sofort beförderte er sein Handy aus den Tiefen seiner Hosentasche ans Tageslicht, um zu sehen, ob er neue Nachrichten hatten.

Louis hatte ein paar Mal angerufen, sowie Harry und Liam, aber das waren nicht die Nachrichten auf die er gehofft hat. Ali hatte sich nicht gemeldet. Sie hatte ihn noch nicht einmal mit wütenden Songtiteln bombardiert. 
So wütend er auch auf sie war – er hatte gedacht, sie würde kämpfen. Um No Name, die Jungs… um einfach alles. 
Und nun … - es sah so aus, als ob sie einfach aufgegeben hatte. Als ob sie sich damit abgefunden hat die Band, den Erfolg, den Plattenvertrag zu verlieren und einfach das zu tun, was ihre Mutter von ihr verlangte. 
Das hatte er nicht von ihr erwartet. Ali war dafür bekannt zu kämpfen, egal wie aussichtslos der Kampf war und bis jetzt hatte sie immer gewonnen. 
Aber es schien danach auszusehen, dass auch Ali nicht unverwundbar war. Und die Sache mit ihrem Vater hatte ihr das Genick gebrochen. Noch nie hatte er sie so aufgelöst, so schwach und zugleich stark gesehen. 
Wieso hatte sie es ihm nicht einfach gesagt?, war die Frage, die ihm immer und immer wieder durch den Kopf ging. Wieso? 
Vielleicht hatte sie recht, vielleicht hätte er wirklich nicht richtig reagiert. Vielleicht hätte er sie als Heuchlerin dargestellt und ihr gesagt, dass sie nur sein Mitleid erregen wollte. 

Vielleicht – Nein, schalte er sich selber. Er konnte sich jetzt nicht jegliche Schuld selbst in die Schuhe schieben, das war nämlich genau das, was Ali getan hatte.
Nein, er hätte anders reagiert, wenn sie von Anfang an mit offenen Karten gespielt hätte. Niall wäre vorsichtiger gewesen. Vorsichtiger mit ihr, mit ihren Gefühlen, der ganzen Situation. Aber hätte er sie wirklich in der Band behalten, wenn sie ihm alles – alles! – über sich erzählt hätte?

Nein. 

Nein, weil sie ein wandelndes Chaos wäre. Nein, weil es viel zu riskant gewesen wäre sie zu behalten. Nein, weil eine solche Vorgeschichte immer prägend war. 
Sie hätte keine Chance gehabt, wenn er ehrlich war. 
Und dann hätte er wirklich etwas verpasst, durchfuhr ihn der Gedanke, der immer wieder so präsent in seinem Gedanken war wie kein Anderer.
Er hätte etwas verpasst. Ein Mädchen, das ihn zu Weißglut, zum Lachen, und zum Erschauern brachte. 

Niall hätte nicht nur eine wirklich gute Sängerin vorbeiziehen lassen, sondern auch das erste Mädchen mit Persönlichkeit. Wenn er nur seine Wut auf sie endlich zügeln würde, um ihr verzeihen zu können. Und sie dazu bringen zu können, ihm zu verzeihen. 
Wenn er nur endlich herausfinden könnte, was hinter all dieser Begeisterung, den leidenschaftlichen Ausbrüchen zwischen ihnen steckte. Niall suchte nach Tatsachen in diesem Dschungel aus Lügen, leeren Beteuerungen und widersprüchlichen Gefühlen. Aber er fand keine. Und das ließ ihm in diesem endlosen Teufelskreis der verschiedenen Gefühlsausbrüche wandern wie ein Blinder.

Er sah wohl ziemlich gedankenverloren aus, denn als seine Mutter mit dampfenden Tee und Keksen auf einem hölzernen Tablett zurückkehrte, fragte sie ihn fürsorglich: „Ist alles in Ordnung?“ 

Niall nickte stumm und verstaute sein Handy wieder in seiner Hosentasche, nicht aber ohne vorher noch einen Blick auf den leeren Bildschirm zu werfen. 

„Wartest du auf eine Nachricht von dieser…wie hieß sie denn“, überlegte seine Mutter erneut laut. „Ava. Ava – die Musikproduzentin.“

Als Niall das letzte Mal bei seinen Eltern gewesen war, hatten er und Ava sich noch regelmäßig getroffen. Es Beziehung zu nennen, wäre überholt gewesen, doch als sie ihn damals erreichen wollte, hatte er seinen Eltern notgedrungen gesagt, dass sie zusammen wären, weil er ihnen nicht unbedingt auf die Nasen binden wollte, dass ihr Sohn nur noch Affären hatte.

„Nein, nein…wir sind schon lange nicht mehr zusammen“, widersprach Niall ihr gedankenverloren.

Sollte er seine Mutter von Ali erzählen? War das der Grund warum Louis ihn hierhergeschickt hatte? Sollte er mit seiner Mutter über ein Mädchen sprechen, das ihr gänzlich unbekannt war?

„Na ja… ich möchte dich nicht verletzen, aber ich glaube sie war auch nicht die Richtige für dich. Ich kenne sie zwar nicht, aber am Telefon hat sie sehr resolut und egozentrisch geklungen“, entgegnete sie ihm ebenfalls sehr resolut.

Ava hatte Niall damals überreden wollen, seinen Besuch bei seinen Eltern abzubrechen und nach Hause zu fahren, weil sie mit ihm in irgendeinen Club wollte. Niall hatte nicht nachgegeben, aber seine Eltern hatten leider die hitzige Diskussion zwischen ihnen bruchstückhaft mitbekommen und die Meinung seiner Mutter gegenüber Ava war seitdem eher verhalten gewesen. Nachvollziehbar, da Ava zu dieser Zeit wirklich sehr egoistisch war. 
Aber damals hatte er gedacht, dass alle Frauen so wären. Deswegen hatte er sich notgedrungen mit dieser Sache angefreundet.

„Wer ist es denn?“, fragte sie neugierig weiter, während sie an ihrem Tee nippte. Ihre grauen Augen flammten geradezu vor Neugierde.

Nicht oft hatte Niall seine Mutter so erlebt, aber wenn sie so war, konnte er ihr keinen Wunsch abschlagen. Noch dazu kam, dass ihn das Verlangen ihr von Ali zu erzählen beinahe überrannte. 

„Es kann sich doch nur um den Anruf eines Mädchens handeln, auf den du so verzweifelst wartest“, sinnierte sie weiter. 

„Ja“, stimmte Niall ihr zu, auch wenn er das „verzweifelt“ in diesem Zusammenhang lieber streichen würde. 
„Ali – so heißt sie – sie ist nicht so wie Ava – gar nicht“, fühlte Niall sich bemüßigt zu sagen. Bei dem Gedanken Aleyna mit Ava zu vergleiche, fuhr ihm ein Lächeln über das Gesicht. Es war einfach unmöglich, die Beiden waren einfach zu verschieden. 

„Und sie ist auch um einiges jünger“, fuhr er fort, während ihm seine Mutter aufmunternd zu nickte und sich zufrieden lächelnd in ihren Sessel zurücklehnte, als ob sie einer Geschichte lauschen würde.
„Sie ist anders, auch wenn ich nicht wirklich beschreiben kann wieso - ich werde wohl manchmal nicht ganz schlau aus ihr“, gab Niall lächelnd zu. 
„Aber vor kurzem habe ich sehr wichtige Dinge über sie zufällig erfahren, die sie mir einfach verschwiegen hat.“ 

Nun wurde der Verdruss in seiner Stimme mehr als deutlich, es viel ihm noch immer nicht einfach über Alis „Geheimnisse“ sachlich zu reden. 

„Und du bist wütend darüber“, stellte seine Mutter mit nachsichtigem Blick fest. 
„Darf ich fragen, worum es sich bei diesen „wichtige Dingen“ handelt?“, fragte sie und lachte, als sie seinen Wortlaut benutzte. 

„Ihr Vater ist vor zwei Jahren gestorben und sie scheint ihn wirklich zu hassen – so sehr, dass sie ihn einfach aus ihrem Leben gelöscht hat, als ob er nie existiert hat. Und sie hat deswegen oft mit ihrer Mutter Streit. Wie du kann sie nicht verstehen, warum Ali Musikerin werden möchte, ihr Vater war aber selbst Musiker und ist an dem Druck zerbrochen. Und Ali war eine ganze Zeit lang Sängerin bei uns in der Band, ohne, dass sie ihrer Mutter ein Sterbenswörtchen davon erzählt hat. 
Tja und sie konnte die ganze Sache nur durchziehen, weil ihre Mutter unterwegs war, aber damit hat sie einfach alles aufs Spiel gesetzt: Die Band, unsere Auftritte, einfach alles“, flossen die Worte nur so aus ihm heraus, als ob sie ihm schon so lange auf der Zunge gelegen hatten. 

Denn obwohl er bereits den Jungs davon erzählt hatte, hatte es ihn nicht befreien können von seinen schlechten Gefühlen. Bei seiner Mutter war es irgendwie anders, denn sie war nicht beteiligt an der ganzen Sache. 
Es war einfacher es ihr zu erzählen, als  den Jungs – es machte ihn nicht glücklich, aber es gab ihm ein Gefühl von Befreiung, dass er nicht länger hatte missen wollen. 

Niall warf einen Blick auf seine Mutter, die ihn sorgsam musterte. Irgendetwas lag in ihrem Blick, dass ihn unfassbar wütend machte. Er hatte das Gefühl, dass sie ihn durchschauen würde, so wie Ali ihm immer das Gefühl gab, dass sie bereits über seine Gefühle Bescheid wusste, bevor er es überhaupt erahnen konnte.

„Weißt du“, setzte er verbittert an. „Du glaubst es mir nicht, dass weiß ich – aber ich verdiene mein Geld mit der Musik. Das ist mein Lebensunterhalt. Ich weiß, man kann es kaum glauben, aber ich gehe jeden Tag zur Arbeit so wie jeder andere Durchschnittsbürger auch. Ich arbeite, suche neue Songs, neue Ideen und singe mir die Seele aus dem Leib, um irgendwie überleben zu können. Aber selbst wenn ich es einfacher haben könnte mit einem „richtigen“ Job – ich will nichts anders. Und Ali hat alles aufs Spiel gesetzt.“

Niall wusste nicht mehr auf wen er wütend war:
Seine Eltern, Ali, alle. Und zugleich wollte er einfach nur, dass alles gut werden würde. 
Reiß dich zusammen, schalte er sich selbst. Reiß dich einfach zusammen. Aber es half alles nichts. Denn Herz und Verstand würden zumindest bei ihm nie auf gleicher Wellenlänge sein. Seine Mutter nickte bedächtig, als ob sie seine Seitenhiebe nicht gehört hatte. Sie saß einfach nur da und sah in lange an. Sehr lange. Was machte er hier eigentlich?, fragte er sich zum gefühltem tausendsten Mal an diesem Tag. Sie würde ihn nie verstehen.

„Niall“, begann sie ernst zu sagen und suchte seinen Blick. Das Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden, während ihre wissenden Augen ihn musterten.
„Ich weiß, dass dein Vater und ich es dir nie einfach gemacht haben in Bezug auf deinen Berufswunsch, aber du lebst jetzt schon so lange allein – und da du nicht so aussiehst, als ob du unter der Brücke nächtigen würdest“ Sie musterte seine Kleidung einmal kurz mit einem geübten Blick.
„- Scheint die Musik wohl doch etwas für dich abzuwerfen. Ich verstehe nicht, warum du es so sehr liebst, aber du tust es und mehr zählt nicht. Aber du liebst es so sehr, dass alles Andere in den Hintergrund getreten ist. Und damit meine ich jetzt nicht deine eher wenigen Besuche bei deinen Eltern, sondern Zwischenmenschliches: Beziehungen. Freundschaften, du weißt Bescheid.“

Ach ja? Niall hatte eher das Gefühl, dass alle anderen außer ihm wussten, was ihm fehlte. Aber noch viel mehr beeindruckte ihn die Tatsache, dass sie endlich zugegeben hatte, ihn nicht richtig behandelt zu haben. 
Solange hatte er auf diese Erkenntnis gewartet und nun kam sie einfach – ohne sein zu tun. Aber er empfand keine Genugtuung mehr darüber. Viel mehr wurmte ihn der Gedanke über die nachfolgenden Worte seiner Mutter. 

„Du nimmst die Sache mit der Musik sehr wichtig, aber du hast vergessen auf dein Gefühl zu vertrauen. Du denkst vielleicht, ich würde dich nicht kennen – aber ich bin deine Mutter, ich kenne dich, auch wenn du dir wünscht es wäre anders. Du weißt wie du die Damen behandeln sollst, dabei helfen dir wohl dein Aussehen und dein Charme, von dem ich leider nicht weiß, von wem du es geerbt hast – aber du hast es. 
Und wenn dich dieses Mädchen, das wohl schon einiges in ihrem noch jungem Leben durchgemacht hat, so durcheinander bringt, dass du dir augenscheinlich nicht über deine Gefühle klar werden kannst, dann ist das doch ein gutes Zeichen“ 

Sie lachte aufmunternd. 

„Aber anscheinend haben dich diese Entwicklungen vergessen lassen, dass du ein gutes Gespür hast, auf das du dich immer verlassen konntest. Es bringt nichts nur mit dem Kopf zu entscheiden, Niall, dass wird dich auf kurz oder lang nicht glücklich machen können. Die Musik war dir immer so wichtig und jetzt merkst du wie sie langsam in den Hintergrund tritt, weil dieses Mädchen diesen Platz einnimmt- aber anstatt es einfach zu zu lassen, versuchst du dich krampfhaft an der Musik festzuhalten- aber der Beruf ist nun mal nicht alles. Und vielleicht ist dieses Mädchen es doch wert, den Platz Nummer 1 zu verdienen, aber das musst du selbst entscheiden.“ 

Und dann nippte sie an ihrer Tasse Tee, als ob es keine Unterhaltung zwischen ihnen gegeben hatte. 
Als ob sie nichts gesagt hätte, dass ihn sowohl verwirrte, als auch erstaunte, denn obwohl Nuall immer gedacht hatte, zu wissen, wie seine Mutter über ihn dachte, hatte sie ihn nun eines Besseren belehrt.

Wer war die Frau, die vor ihm saß und so allwissend und zufrieden wirkte? 

Die Worte seiner Mutter hatten ihn nachdenklich gemacht, immer wieder strömten sie durch seine Gedanken.
Wieso schienen plötzlich alle so gut zu wissen, was er wollte, was er brauchte? 
Und wieso stellten sich alle schützend vor Aleyna? 
Weil sie es vielleicht verdient hatte, sagte ihm ein kleiner Teil seines Denkens, der lange in der hintersten Ecke verbannt wurde. Weil Kinder nicht nach ihren Eltern beurteilt werden sollten. Weil, obwohl sie gelogen hatte, sie immer noch ein Teil seines Lebens war, den er nicht verlieren wollte. Weil… weil sie einfach Aleyna war. 
Gott, war er ein Idiot, schalte er sich selber. Er hatte sie getreten, als sie schon am Boden lag. Hatte weiter auf sie eingedroschen, obwohl sie schon bewusstlos war. 
Und das nur... warum eigentlich? 
Weil er sich gewünscht hatte, dass er auch ein Teil ihres Leben war. 
Niall stand auf und warf seiner Mutter einen Blick zu, die ihn erstaunt ansah.

„Ist es in Ordnung… wenn ich ein bisschen rausgehe?“, fragte Niall sie. 

Sie nickte zufrieden, als ob sie mal wieder das geschafft hatte, zu dem sonst keiner fähig gewesen war. 
Und sie hatte recht.
Ohne noch ein weiteres Wort mit ihr zu wechseln lief er aus dem Haus heraus. Die Treppe hinunter, über ein paar unbefestigte Straßen, bis hin zu einem kleinem See, an dem er während seiner Jugend oft gewesen war um nachzudenken oder einfach Gitarre zu spielen. 

Seine Gitarre hatte er auch heute wieder dabei, er hatte sie noch schnell aus dem Kofferraum seines Autos geholt, bevor er losgelaufen war. 
Beflügelt setzte er sich auf einen der größeren Steine am Ufer und streckte die Beine aus, bevor er begann auf seiner Gitarre immer und immer wieder das Stück zu spielen, dass Ali ihm beigebracht hatte. Sunny Afternoon. 

Sunny Afternoon with Ali, dachte er schmunzelnd. Immer und immer wieder spielte er die kleine Melodie, die so einfach sie auch klang, ihm nicht mehr aus dem Gedächtnis ging. 
Aber wo war der Text? So gut die Melodie auch war, ohne einen passenden Text würde der Song nie Vollkommenheit erlangen, es würde immer etwas fehlen. 
Aber die Worte fehlten ihm. Niall schaffte es einfach nicht einen Anfang zu machen, unsinnige Worte aneinanderzureihen, Sätze zu bilden und sie dann wieder zu verwerfen. 
Wie würde sich sein Song von all den anderen, inspirierenden und tröstlichen Liedern unterscheiden? Wie? 

Er würde nie etwas Einzigartiges schaffen. 
Nur ein „Etwas“ in der Menge von vielem anderen Belanglosen.
Aber vielleicht musste ein guter Song auch nicht einzigartig sein, überlegte er verwundert. Vielleicht musste ein guter Song nur für eine einzige Person einzigartig und berührend sein, das würde doch schon eigentlich reichen, oder? 
Und vielleicht reichte es dann auch, wenn der Song nur für ihn besonders war, weil es sein Eigener war und von seinen Erfahrungen berichtete.
Es war sein erster eigener Song und das war schon alles, aber auch so viel im Vergleich zu all den verlorenen Jahren der Covermusik.

Niall dachte zurück an all die Momente zusammen mit Aleyna. Das erste Konzert, auf dem sie sich kennengelernt hatten, die intensiven Blickwechsel bei Placebos Post Blue, Ali, die das erste Mal einen musikalischen Durchbruch mit Jar Of Hearts hatte- es war der Beginn ihrer Freundschaft gewesen, und dann all die Duette, die sie mal starr auf den Boden sehend verbracht hatten und sich dann wieder strahlend angelächelt hatten. Alex Clares To Close, als sie sich zum ersten Mal geküsst haben… so viele Erinnerungen, die alle mit genau einem Stück verbunden waren. 
Mehr oder weniger gewollt, dachte Niall schmunzelnd und erinnerte sich daran, wie er Ali mit seinen Blicken gefoltert hatte, als sie damals in der ersten Reihe auf seinem Konzert gestanden hatte.

Damals hatte er nicht gedacht, dass er jemals um sie kämpfen würde. Aber so konnten sich die Dinge innerhalb weniger Wochen drastisch verändern. 

Niall begann einige Worte zur Melodie zu singen, mal waren es nur einige Worte, dann einige Satzfragmente und letztendlich auch Sätze. 
Er sang und sang, verwarf und versuchte es erneut bis sich nach und nach einige zusammenhängende Sätze, Strophen bildeten. 
Aber wirkliche Genugtuung oder Befreiung über diesen kleinen Erfolg konnte Niall nicht verspüren. Denn in Gedanken war er immer woanders. So sehr er sich auch bemühte sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, der Gedanke an Ali beherrschte sein Denken. 

Und obwohl er wusste, dass sie sich mit einem Song, noch nicht einmal mit seinem eigenen Song, zufrieden geben würde, schrieb er weiter.

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Somit hat Niall wohl seinen ersten Song gefunden.

Wie fandet ihr das Gespräch mit seiner Mutter?

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