~ Vierundvierzig ~

Musik konnte Menschen beflügeln. Sie konnte einem das Gefühl von grenzenloser Freiheit geben und zugleich daran erinnern, dass die Vollkommenheit eines Stückes ein nicht zu erreichender Zustand und zudem vergänglich war.  
Für Aleyna bedeutete Musik einfach nur keine Trauer, oder zumindest keine Tränen. 
Aleyna konnte sich noch an keinen Moment in ihrem Leben erinnern, in dem sie, während sie Gitarre spielte, weinen musste. Es war einfach nicht möglich für sie. 
Ob es an der Komplexität der Stücke lag oder einen einfach nicht zu erklärenden Grund gab, wusste sie nicht, aber es interessierte sie auch nicht wirklich. 

Nicht in den Momenten in denen die Tränen ihr Feind war. Unnachgiebig preschten ihre Finger auf die harten Stahlsaiten ein, während sie sich vollkommen Mauro Giulianis Allegro in A – Moll hingab. 
Dieses Stück hatte etwas sehr Dramatisches, beinahe Unnachgiebiges an sich. Die Spannung des Werkes nahm im Verlauf immer weiter zu, sodass eine Abnahme oder sogar eine gänzliche Lösung dieser unmöglich schien. 
Vor allem gegen Ende hin, wenn immer wieder die gleiche aufsteigende Tonabfolge gespielt wurde und nur ein einziger Ton am Ende jedes Takts verändert wurde. 
Dann war es unmöglich zu denken, dass ein solches Stück mit einem einzigen Ton, einem Spielen einer einfachen leeren Saite beendet werden konnte und trotzdem die Wirkung des Stückes nicht nachlassen würde. Es war wie Magie.
Und vielleicht auch in diesem Augenblick wie Medizin, zumindest für Aleyna. 

Es füllte sie mit einer solchen Genugtuung aus mit ihrem Daumen die tiefen, unnachgiebigen Saiten zu berühren, die ihr das Gefühl gaben, dass es noch Dinge gab, die unter ihrer Kontrolle standen.  
Die leisen Töne auf den ersten drei Saiten dagegen, die sie mit den restlichen Fingern spielte, fielen ihr beinahe schwer zu spielen. Sie hatten einen so zarten und nachgiebigen Klang, dass sie sie fester als eigentlich nötig anschlug, um die Wirkung zu vermindern.
Immer und immer wieder spielte sie das kurze Stück, ohne wirklich das Gefühl zu bekommen, dass sie irgendetwas kontrollieren konnte, dass irgendetwas unter ihrem Einfluss stand.
Sie gab sich der Musik ein ums andere Mal hin, verlor sich in ihr, schloss ihre Augen, aber das mulmige Gefühl in ihrer Magengegend blieb. Was noch dazu kam, war, dass der Schmerz in ihren Fingerkuppen immer weiter zu nahm.

Sie hatte nicht gedacht, dass sie so schlecht in Form wäre, aber sie konnte das Gefühl einfach nicht unterdrücken, dass die Stahlsaiten bei jeder Berührung mit ihr, tief in ihre Haut schnitten. 
Der Schmerz war kaum noch zu unterdrücken, weshalb sie nicht weniger oft die falschen Saiten traf, die etwas weicher waren. Niall hatte doch recht gehabt, mit Stahlsaiten war nicht zu Spaßen. Das war aber noch lange kein Grund für sie es sein zu lassen. Sie brauchte das jetzt einfach. 
Die Gitarre in ihren Händen, welche zu ihrem persönlichen Schutzschild mutiert war, das Gefühl, dass ihre ruhelosen Hände in Bewegung waren und die Gewissheit, dass nur die Gitarre ihr in einer solchen Situation helfen konnte. 

Kurz stoppte sie ihr Spiel und strich sanft über den naturfarbenen Korpus der Westerngitarre, die ihrer so ähnelte. Sie mochte naturfarbene Gitarren, sie fühlten sich für Aleyna so viel echter an, als die lackierten Variationen, auch wenn diese ebenfalls ihre Reize hatten.  
Aleyna dachte zurück an ihr Gespräch vorhin mit Ornella. Als sie zu ihr gegangen war, hatte Ornella sie sofort fest umarmt, bis hin zur Erdrückung und war dann mit Tränen in den Augen verlegen zurück getreten. 
Sie hatte sofort gesehen, dass mit ihrer Freundin etwas nicht in Ordnung war. Ornella war nicht zu Recht gemacht, sie trug weite Kleidung und ihre Haare standen zu Berge, während sich unter ihren Augen tiefe schwarze Ringe abzeichneten. Was dann folgte, war mehr oder weniger zu erwarten gewesen. 

Nachdem Aleyna sich matt, aber zuerst etwas widerwillig auf der Verandatreppe niedergelassen hatte, hatte Ornella sie auch gleich, einem Wasserfall ähnlich, über jegliche Ereignisse der letzten Tage in Kenntnis gesetzt. 
David hatte sich am Sonntag von ihr getrennt, einem Tag nachdem sie den Abend zusammen verbracht hatten. 
Eine wirkliche Erklärung hatte er nicht abgegeben, aber Aleyna konnte sich schon denken, was der Fall war. 
Dafür benötigte man allerdings auch keine besonders ausgeprägte Menschenkenntnis. 

David war älter als Ornella, wenn auch nur zwei Jahre, für ihn war  sie nur ein Übergang zwischen zwei anderen Beziehungen gewesen. Aleyna hätte eigentlich gedacht, dass Ornella David in ähnlicher Position sah, vor allem, weil sie kein Problem damit hatte, in Anwesenheit von David mit Niall zu flirten, oder es zumindest zu versuchen. 
Aber so wie Ornella sich an ihrer Schulter ausgeweint hatte, Aleyna konnte ihr T – Shirt jetzt getrost in den Müll schmeißen, schien es sie wirklich mitgenommen zu haben.

„Ornella – und Mitgenommen?“, schnaubte Aleyna vor sich hin und setzte sich wieder aufrecht hin, um weiter zu spielen. Sie hatte sich selbst gerade bewiesen, dass sie nicht still sitzen konnte, ohne nachzudenken, deshalb musste sie spielen.  

Erneut setzte sie an und war die ersten 20 bis 30 Sekunden noch beschäftigt damit das Stück möglichst eindrucksvoll zu spielen, doch dann stießen die Gedanken wie Steinschläge auf sie ein. 
Wieso hast du sie getröstet, fuhr sie sich selbst an. Wieso bist du nicht gegangen? Wieso hattest du Mitleid mit ihr? 
Immer aggressiver schlug sie nun beinahe auf die Saiten ein, um ihre Gedanken zum Schweigen zu bringen. Der Schmerz nahm sofort zu, doch die Gedanken blieben und folterten sie zusätzlich. 
Warum hast du sie bei dir aufgenommen, auch wenn sie dich ohne mit der Wimper zu zucken rausgeschmissen hat?
Weil, versuchte sie ihre eigenen Gedankengänge zu erklären. Passend dazu musste sie nun die höheren Töne spielen, die sie in ihrer Unsicherheit nur noch unterstützten. Es war fast so, als ob sich das ganze Universum gegen sie verschworen hätte. 
Vielleicht lag es aber auch einfach nur an dem Stück, es war seit sie sich daran erinnern konnte, immer ein Lied gewesen mit dem sie kämpfen musste, so einfach es auch war. 
Aber es perfekt zu spielen, war ein Zustand, denn sie niemals erreichen würde. 

Immer wieder schlichen sich Flüchtigkeitsfehler ein, auch wenn es nur darum ging, dass sie eine Saite nicht fest genug runter gedrückt  oder versehentlich eine Saite mehr als nötig gestreift hatte.
Es frustrierte sie selbst, dass sie den Kampf immer wieder verlor, so wie heute, aber ihr Ehrgeiz war größer. Immer wieder versuchte sie es und immer wieder scheiterte sie. 
Wütend fegte sie das Notenblatt vom Ständer, wo es lautlos und einsam auf dem Boden aufkam.  
Sie versuchte es deshalb mit der Begleitung von „Jar of Hearts“.
Aleyna lag all ihre Emotionen in diesen Song, versuchte jeden einzelnen Ton zu würdigen, während sie sich gleichzeitig eigentlich nur beweisen wollte, dass sie diesen Song noch spielen konnte ohne dabei an Ornella, Niall und ihren Ex – Freund zu denken.

Es war hoffnungslos, denn dieser Song würde von nun an immer an diese Erinnerung geknüpft sein, aber trotzdem versuchte sie es. Beinahe verzweifelt versuchte sie an etwas Anderes zu denken, auch wenn es sich dabei nur um die perfekte Spielweise des Stückes handelte, aber sie konnte es nicht. 
Immer wieder sah sie Nialls blaue Augen vor ihrem inneren Auge aufblitzen. Sie hatten heute so kalt und unnachgiebig gewirkt wie schon lange nicht mehr. Aleyna hatte es kaum geschafft ihren Blick von Ihnen zu lösen. 
Es hatte alles so real gewirkt, als ob er wirklich geplant hätte sie so aus der Bahn zu werfen, ihr zu beweisen, dass sie keine Kontrolle hatte, nicht hier, in seiner Welt.
Und er hatte recht. Sie hatte keine Kontrolle. Keine Kontrolle über ihre Reaktionen, ihre Entscheidungen, noch nicht einmal über ihre Gedanken. 
Sie hätte diese Ferien einfach in Ruhe verbringen können. Lange Nachmittage am Strand mit ihrer Gitarre im Gepäck, Übungsstunden mit Noah, Shoppingtage mit Ornella und Abende auf Konzerten. Aleyna hätte das alles haben können.
Aber das Schlimme war, dachte sie und schlug erneut auf die Saiten ein, sie wollte das nicht mehr. Und diese Gewissheit führte nur zu weiteren Problemen. Probleme, über die sie lieber nicht nachdenken würde.
Aleyna schüttelte den Kopf und versuchte sich erneut auf das Spielen des Songs zu konzentrieren. 

Beinahe zögerlich setzte sie an, ebenfalls dazu zu singen, und hasste sich selbst dafür, dass es so emotional, so ergreifend klang. 
Jeder der sie von nun an dieses Stück singen hören würde, würde hören, wie sehr sie sich mit diesem Lied identifiziert hatte, wie viele Erinnerungen an ihn geknüpft waren. 
Sie konnte ihn einfach nicht mehr singen, nicht wenn andere Menschen dabei waren. 
Es war einfach zu persönlich, und selbst wenn Niall ihr diese Privatsphäre genommen hatte, sie ausgenutzt hatte, um sein Ziel zu erreichen, hieß das noch lange nicht, dass Andere ihr diese ebenfalls nehmen mussten. 
Sie war eine Kämpferin, selbst wenn sie nicht immer richtig handelte und manchmal nicht den Mumm hatte, zu sagen, was ihr wirklich auf dem Herzen lag. 
So wie bei Ornella, aber es gab einfach Dinge, die andere Menschen nicht verstehen konnte, selbst wenn sie es konnte. Das war immer noch ihr Leben und selbst wenn sie nicht Stolz über ihr Verhalten gegenüber ihrer Freundin gewesen war, sie akzeptierte ihre eigene Entscheidung. 
Aleyna konnte nicht einfach alle Menschen von sich stoßen, denn irgendwann würden diese Ferien vorbei sein und das normale Leben würde seinen Lauf nehmen. 
Und dann allein in diesem Leben zu sein, würde nicht nur bittersüß werden. Es war einfach nur hart. 
Man konnte sie für heuchlerisch und unehrlich halten, aber es war eine Tatsache, dass niemand gern allein war.

„And I learned to live, half alive“, sang sie und es fühlte sich nie echter an, als jetzt. Es stimmte, manchmal hatte sie das Gefühl nicht wirklich am Leben zu sein, sondern einfach nur zu existieren, physisch in der Welt anwesend zu sein, aber nie wirklich daran teilzunehmen. 
Aber die Musik, das Singen in der Band half ihr dabei.
Auch wenn es nie stimmen würde, gab ihr allein die Vorstellung Teil dieser Gruppe zu sein, das Gefühl angekommen zu sein, einen Platz gefunden zu haben, an dem sie gern blieb.
Sie hatte die Jungs gern gewonnen, alle auf ihre Art und Weise und sie war gern mit ihnen zusammen. Es machte ihr Angst  so zu denken, aber es war die Wahrheit. 

„Dear, it took so long just to feel alright“, sang sie, um sich wieder auf die Musik zu konzentrieren und senkte ihren Kopf, um auf den Korpus der Gitarre zu sehen. 
Dieser Teil, die Bridge, gefiel ihr an diesem Song fast am Besten. Er hatte etwas sehr harmonisches und der Spannungsverlauf war einfach unglaublich.  
In solchen Momenten wünschte sie sich immer, dass ihre Stimme etwas voluminöser wäre, um diese Fülle des Songs und seinen Emotionen ausdrücken zu können, aber in diesem Augenblick reichte es ihr einfach aus, zu singen.
Diesmal nutze sie ihre Emotionen besser, als bei Niall, vielleicht sogar noch unkontrollierter.

„Remember how to put back the light in my eyes”, sang sie und dachte einfach an all die vielen Dinge, die sie verletzt hatten. Sie kannte diese hier beschriebene Situation sehr gut und deshalb fiel es ihr nicht schwer einen leicht wütenden aber auch verletzenden Ton anzuschlagen. 
Jetzt, wo sie den Zugang zu ihren Emotionen gefunden hatte, konnte sie ganz einfach aus der Quelle schöpfen.
Beinahe zu einfach. 
Sie spielte und sang immer weiter, während sie den Schmerz in ihren Finger weiterhin kognitiv ignorierte. 
Er zählte einfach nicht mehr.
Als sie endlich endete, spürte sie ihre Finger kaum noch, alles, was daran erinnerte, dass sie zu ihrem Körper gehörten, war der Schmerz, denn sie nun nicht mehr beiseite schieben konnte.

Als sie die Gitarre schließlich weglegte und zum ersten Mal wieder auf ihre Hände hinuntersah, sah sie tiefe Furchen auf ihren Fingerkuppen, in denen sich Blut sammelte. 

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