~ Vierundsechzig ~
„Ali! Warte!", rief Ornella, als sie schon losgelaufen war, um möglichst schnell dieser Szenerie zu entkommen.
Ornella versuchte noch sie an ihrem Ellenbogen zu fassen zu bekommen, aber Ali war schneller.
Geschickt vermied sie es mit der großen Menschenmenge zu laufen und entschied sich etwas weiter außen zu laufen.
Die vielen menschenüberfüllten Konzerte waren ihr eine Lehre gewesen.
Sie wusste nicht, ob sie immer noch unter der Beobachtung der Jungs stand, aber zumindest Niall hatte die Bühne kurz nach seinem Auftritt verlassen.
Einer weniger, dachte Aleyna pessimistisch. Blieben noch fünf Andere, die sie irgendwie umlaufen musste.
Wie konnte es nur soweit kommen, war die Frage die Ali immer wieder zum Verzweifeln brachte.
Noch vor ein paar Wochen war jedes neue Konzert, das sie besuchen durfte ein spannendes Ereignis gewesen, weil es so einmalig war.
Und nun?
Nun besuchte sie mehr Konzert als je zuvor, doch die Musik war nebensächlich geworden.
Den Kopf gesenkt schlängelte sie sich weiter durch das Menschenmeer, auf der Hut niemanden allzu lange anzusehen. Leider erwies sich diese Strategie als nicht besonders wirkungsvoll, denn keine fünf Sekunden später stieß sie mit jemanden zusammen.
Entschuldigend hob sie den Blick, um auf Nialls verärgerte blaue Augen zu treffen, die sie wohl noch nicht erkannt haben. Als sie ihn schließlich vollkommen verdutzt ansah, schien er sich langsam zu sammeln und hielt sie an der Schulter fest, damit sie nicht umfiel.
„Ali", sagte er beinahe gedankenverloren. Dann wich seine Verwirrung einer felsenfesten Eindringlichkeit und er erstach sie beinahe wieder mit seinen Blicken.
„Bitte, Ali, lass uns reden."
„Der Song war wirklich toll", versuchte sie sich nicht besonders erfolgreich herauszureden. „Ihr solltet mehr Hoobastank Songs covern, sie stehen euch wirklich gut."
„Jetzt hör doch mal auf so ein Mist zu reden", blaffte er sie beinahe an.
„Was passt dir das Gesprächsthema nicht?", schoss sie zurück. „Dann schlag ein Besseres vor."
„Können wir uns nicht einmal unterhalten, ohne uns gleich an die Gurgel springen zu wollen", murmelte Niall müde und rieb sich die Stirn.
Bevor sie ihm etwas erwidern konnte, fuhr er fort:
„Wie wäre es mit dem Thema: Komm zurück in die Band?"
Ali stöhnte genervt, nicht schon wieder dieses Thema.
„Genau, darüber willst du nicht reden", sprach Niall ihren unausgesprochenen Gedanken aus. „Also, was machen wir jetzt schweigen?"
Ironie schwank in seiner Stimme mit, doch die Eindringlichkeit in seinen Worten war immer noch spürbar.
„Ich kann das einfach nicht", versuchte Aleyna sich zu erklären. Sie war einfach nur müde von all diesen Streitereien, sie waren einfach sinnlos.
„Es tut mir leid, wie das gelaufen ist und du hattest mit allem recht, was du gesagt hast, in Ordnung?"
„Nein, nicht in Ordnung", erwiderte Niall unisono mit Ornella, die plötzlich neben ihnen stand.
Nicht auch das noch, dachte Aleyna wütend.
„Du bist mir eine Erklärung schuldig", sagte Ornella an Aleyna gewandt. Dann drehte sie sich zu Niall um. „Und du auch."
„Wieso Niall?", schoss es aus Aleyna heraus, bevor sie sich auf die Zunge beißen konnte. „Können wir das nicht wann anders klären?", versuchte sie noch einmal die Situation zu retten. "Meine Mutter ist bald zu Hause..."
„Deine Mutter kommt wieder?", wandte Niall sich verdutzt an sie.
„Ja", entgegnete sie ihm so resolut wie möglich, während sie bereits sein verbittertes Gesicht vor sich sah. Aber das einzige Gefühl, dass sich in Nialls Gesicht wiederspiegelte war Trauer.
„Nein, wir klären das jetzt", mischte sich erneut Ornella ein und warf ihr einen niederschmetternden Blick zu.
„Was läuft hier?", fuhr sie vorwurfsvoll fort.
„Es ist kompliziert", redete Ali sich mit einem Blick auf Niall, der sie unergründlich ansah, heraus.
Wollte er ihr wieder Vorwürfe machen, weil sie auch Ornella belogen hatte? Stellte er sich auf ihre Seite oder würde er keine Farbe bekennen?
„Nein, das ist es nicht", erwiderte Ornella feindselig. „Du bist ihre Sängerin, oder?"
„Ornella", versuchte sie ihre Freundin dazu zu überreden, die Sache fallen zu lassen. Sah sie denn nicht, dass das der denkbar unpassenste Moment für so ein Gespräch war?
„Bist du ihre Sängerin oder nicht?!" , fragte Ornella sie nun deutlich wütender.
„Ja", gab Aleyna schließlich zu und senkte ihren Blick. „Oder zumindest war ich das mal."
Sofort spürte sie wieder Nialls neugierigen Blick auf ihr. Hatte er eine andere Antwort erwartet?
„Du bist so eine Heuchlerin, Aleyna", schrie ihre Freundin sie an und sah sie hasserfüllt an.
„Seit Wochen belügst du mich, weil du denkst, dass du auf einmal ein spannenderes Leben hast, als ich. Aber ich sag dir etwas: Davor, vor diesem kleinen Intermezzo...", sie zeigte zwischen Niall und Aleyna hin und her, „...War ich diejenige mit dem tollen Leben. Ich habe dich zu Feiern mitgenommen und dich Jungs vorgestellt und dich an allem teilhaben lassen, aber das ist dir wohl zu Kopf gestiegen oder? Aber weißt du was? Du stehst hier nur wegen mir, ich habe Niall die Adresse deiner Musikschule gegeben. Ich wollte dir helfen und du hast mich einfach aus deinem Leben herausgehalten."
Jetzt wurde ihr einiges klar. So war Niall also damals zu ihrem Gitarrenunterricht gekommen. Ornella hatte ihm gar nicht ihre Telefonnummer aufgeschrieben.
Einen Moment war sie verwundert über die Aktion ihrer Freundin, doch obwohl sie es geschafft hatte Ali ein schlechtes Gewissen einzureden, wusste sie, dass Ornella das sicherlich nicht uneigennützig getan hatte.
Langsam begannen sich die Lücken zu schließen, dachte Ali einsichtig. Alles schien plötzlich einen Sinn zu ergeben.
„Ornella, ich danke dir dafür, aber du hast dich doch nie wirklich dafür interessiert, was ich so mache, oder?", versuchte sie beruhigend auf sie einzureden.
„Wie bitte?", schrie Ornella beinahe. „Ich habe dich doch an dem Abend, an dem du bei mir übernachten wolltest gefragt, ob es etwas Neues gibt und du hast mich ohne mit der Wimper zu zucken angelogen."
„Das ist doch nicht dein Ernst, Ornella?", entgegnete Aleyna ihr nun ebenfalls verärgert. „Ich hätte dir an dem Abend vielleicht sogar von der Sache mit der Band erzählt, aber du hattest ja bereits deinen Freund eingeladen und mich einfach rausgeschmissen."
„Du warst spät dran!", rechtfertigte Ornella sich.
„Eine Viertelstunde vielleicht!", entgegnete sie ihr fassungslos. „Wenn du schon so auf Ehrlichkeit beharrst, dann sei doch einfach ehrlich zu dir selbst. Du hattest David schon lange vorher eingeladen, oder?"
Daraufhin schwieg Ornella, aber das war Antwort genug.
„Diese Bandsache habe ich nur für mich gemacht. Es ist die erste Sache, nachdem ich angefangen hatte Gitarre spielen zu lernen, die ich für niemand anderen außer mir selbst gemacht habe", fühlte Aleyna sich gezwungen zu sagen.
Nicht nur wegen Ornella. Nein, Niall sollte es auch hören.
„Ich war egoistisch und naiv, daran zu glauben, dass es funktionieren würde und habe damit sicherlich eine Menge Leute verletzt, aber ich kann es nicht mehr ändern und deswegen versuche ich mich an Schadensbegrenzung."
Ali senkte den Blick, als sie spürte, dass Niall sie ansah und nach Antworten suchte, die sie ihm nicht geben würde.
„Es tut mir leid", sagte sie an Niall gewandt. „Es tut mir wirklich leid."
Als sie spürte wie der Kloß in ihrem Hals anzuschwellen begann und die Tränen in ihre Augenwinkel traten, lief sie los, ohne sich noch einmal umzudrehen.
„So, tell me when you're gonna let me in", hörte sie Niall ihr noch hinterher rufen und beinahe wäre sie stehengeblieben.
Es war eine Zeile aus Keanes Somewhere Only We Know.
Er war gut, aber nicht gut genug, um sie aufzuhalten.
Als Aleyna vor ihrem zu Hause stand, musste sie noch einmal kurz durchatmen und sich daran erinnern, was sie sich für die nächste Zeit vorgenommen hatte, bevor sie ihrer Mutter entgegentreten konnte.
Sie hatte noch nicht so schnell mit ihrer Heimkehr gerechnet, doch ihr Auto stand bereits in der Einfahrt.
Vielleicht war es besser so - ein glatter Bruch mit ihrem alten Leben.
Sorgsam achtete sie darauf, dass nichts an ihrem Aussehen besorgniserregend wirkte und strich sich die Haare hinter das Ohr, wischte die Tränen aus ihrem Gesicht und glättet ihre Kleidung.
Dann atmete sie noch einmal tief ein, versuchte zu lächeln und schloss die Tür auf.
Im Flur stellte sie sich noch einmal vor den Spiegel und kontrollierte ihr Aussehen - etwas blass vielleicht, aber ihrer Mutter würde es nichts ausmachen.
Es war alles wie immer - ihre Haare hatte sie zurückgebunden, sie trug ein paar schwarze Ballerinas, ihre Lieblingsjeans und ein einfaches weißes Shirt.
„Mama", rief Aleyna durch die Wohnung und lief, als sie keine Antwort bekam zuerst ins Wohnzimmer, in die Küche und schließlich in das Schlafzimmer ihrer Mutter - sie war nicht da.
Verwirrt rief sie erneut nach ihr aus, aber wieder antwortete ihr niemand.
Achselzuckend machte sie sich auf den Weg nach oben zu ihrem Zimmer - vielleicht war ihre Mutter spazieren gegangen und würde gleich wieder kommen.
Langsam stieg sie die Treppen hoch, die Erschöpfung schien wieder die Überhand in ihrem Körper zu erlangen.
Aleyna öffnete ihren Zopf und schüttelte ihre Haare etwas. Vielleicht konnte sie sich noch ein wenig hinlegen, bevor ihre Mutter wiederkommen würde und wieder zu Kräften kommen. Sie musst stark bleiben für ihre Mutter.
Als sie schließlich in ihrem Zimmer angekommen war, fielen ihr beinahe die Augen aus den Höhlen.
Dort stand ihre Mutter, ihr den Rücken zugekehrt und sah hinaus aus dem Fenster.
„Mama!", rief Aleyna überrascht aber trotzdem erfreut aus und machte sich auf dem Weg zu ihr. „Wieso hast du nichts gesagt? Ich habe nach dir gerufen."
Ali lachte unsicher - irgendetwas fühlte sich vollkommen falsch an.
Trotzdem lief sie weiter auf ihre Mutter zu und wollte ihr die Hand auf die Schulter legen, als diese sich plötzlich ruckartig zu ihr umdrehte und sie einen Schreck bekam.
Die Augen ihrer Mutter blitzten beinahe nur so vor Wut, zerknirscht hielt sie ein T - Shirt von ihr in der Hand.
Erst beim zweiten Blick fiel Aleyna auf, dass es das Bandshirt von No Name war.
Dann erst nahm sie das Chaos um sich herum war.
Überall in ihrem Zimmer lagen auf dem Boden einzelne Zettel, mit den Lyrics, der Songs, die sie lernen musste.
In einer Ecke lag die Westerngitarre, die ihr Niall gegeben hatte und auf einem anderen Haufen lagen ihre Bühnenoutfits. Was war hier passiert?
Sie war sich sicher gewesen, dass sie alle verdächtigen Gegenstände in ihrem Schrank verstaut hatte.
„Wurde hier eingebrochen?", fragte Aleyna um die Situation aufzulockern, die Angst, die in ihrer Stimme lag, war nicht zu überhören.
„Was ist das alles?", hörte sie ihre Mutter plötzlich zähneknirschend sagen.
Ali hatte ihre Mutter lange nicht mehr so erlebt. Sie war in den letzten zwei Jahren weder wütend, noch traurig oder enttäuscht gewesen, sondern immer nur irgendwie erschöpft. Sie jetzt wieder so lebhaft zu sehen, sollte sie eigentlich freuen, aber sie konnte nicht anders, als Angst zu empfinden. Und auch ihre Mutter schien sich vor ihren eigenen intensiven Empfindungen zu fürchten, sie wirkte fassungslos.
Und manchmal konnte sie das Auge ihrer Mutter zittern sehen - was hatte sie ihr nur angetan.
Ali wusste nicht, was sie ihrer Mutter erwidern sollte. Sie konnte einfach nicht.
Ihre ganze Welt schien auf einmal in Trümmern zu liegen und das Schlimme daran war, dass sie selbst schuld daran war.
„Ich verstehe es einfach nicht", murmelte ihre Mutter fassungslos und sah auf das T - Shirt in ihrer Hand herab.
„Ich verstehe das einfach nicht"
Sie hob ihren Blick und sah Aleyna wütend an.
„Du gehst seit Wochen nicht zum Gitarrenunterricht..."
Als Aleyna dem etwas entgegensetzen wollte, unterbrach sie ihre Mutter hart.
„Lüg mich nicht an Aleyna, seit Wochen schon wurde kein Geld mehr für den Unterricht abgebucht und heute hat mich Noah angerufen und gesagt, dass du nun schon seit 5 Wochen nicht mehr beim Unterricht warst."
„Dann hat er dir sicherlich auch gesagt, dass ich vor ein paar Wochen da war, um für ihn neue Schüler anzuwerben", rechtfertigte Aleyna sich, die sich an jeden Strohhalm klammerte, den sie noch zu greifen bekam.
„Ja, das hat er mir gesagt", erwiderte ihre Mutter ihr ernst.
„Aber er hat mir auch gesagt, dass du dich verändert hast - nicht nur äußerlich. Und dann..."
Ihre Mutter stoppt, um sie erneut fassungslos anzustarren.
„Und dann erzählt mit Scott heute, kurz nachdem ich angekommen bin, dass ein junger Mann hier war, um dich abzuholen."
„Und das hat dir das Recht gegeben mein Zimmer zu durchsuchen?", erwiderte Aleyna plötzlich wütend.
„Werd nicht frech, Aleyna", wies ihre Mutter sie zurecht. „Ich dachte, wir wären über diese Phase hinweg. Ich möchte eine Antwort von dir haben, was soll das alles?"
„Ich...", stammelte Ali. „Ich habe in einer Rockband gespielt, aber das ist jetzt vorbei, ich verspreche es dir."
„Ich fasse es einfach nicht", murmelte ihre Mutter und setzte sich erschöpft auf das Bett.
„Du hast mich einfach hintergangen, Aleyna. Ich habe dir erlaubt weiter Gitarre zu spielen, weil es dir so wichtig war und du wusstest ganz genau, wie schwer das für mich war. Und nun? Sieh nur, was diese Band mit dir gemacht hat: Du belügst alle Menschen, um dich herum und siehst mich an, als ob ich etwas falsch gemacht hätte."
„Das hat doch nichts mit der Band zu tun", schrie Aleyna verzweifelt. „Nur, weil ..." Sie konnte es nicht sagen. Es war nur ein Wort, vier Buchstaben und doch war es so schwer sie auszusprechen, weil sie weit weg für sie waren.
„Nur weil... Papa sich nicht zusammenreißen konnte, heißt das doch lange nicht, dass es mir genauso gehen muss! Ich habe all die Jahre alles getan, was du mir gesagt hast. Ich arbeite hart und viel für die Schule, bin oft zu Hause und tue alles, um besser Gitarre spielen zu können, um dich nicht zu enttäuschen. Ich bin nicht so wie er!"
„Hör auf, Aleyna!", schrie ihre Mutter sie an und schlug mit den Handflächen auf die Bettkante. „Sag seinen Namen nicht noch einmal!"
„Seinen Namen?", stieß Aleyna befremdet aus. „Ich habe noch nicht einmal seinen Namen gesagt, er ist nun mal mein Vater, daran kann ich nichts ändern, selbst wenn ich es wollte."
„Hör auf, so über ihn zu sprechen", zischte ihre Mutter.
„Wie zu sprechen?", entgegnete Aleyna ihr aufgebracht. „Als ob er einen Fehler gemacht hat? Tut mir leid, aber ich kann nicht anders, denn es war so: Er hat einen Fehler gemacht. Er hat sich umgebracht und du gibst dir immer noch die Schuld daran!"
Einen Moment lang fragte Aleyna sich, was in sie gefahren war. Sie hatte noch nie so respektlos mit ihrer Mutter gesprochen, sie so tief verletzen wollen.
Aber sie mussten ehrlich zueinander sein, sie hatten lange genug geschwiegen.
Schweigen würde es auch nicht besser machen, das zumindest hatte sie verstanden.
„Ich verbiete dir so über ihn zu sprechen", fuhr ihre Mutter sie an, doch auch wenn ihr Ton harsch und ihre Worte resolut klangen, aus ihr sprach die reine Verzweiflung und Angst.
„Du weißt, er hatte einen Autounfall, sein Wagen ist von der Straße abgekommen."
Kurz sah Aleyna ihre Mutter verdutzt an, dass war das erste Mal seit er gestorben war, dass sie über ihn wirklich gesprochen hatte. Aber die Verwirrung hielt nur kurz an und ließ nur noch Wut zurück.
„Das ist das, was du dir einredest, aber die Wahrheit sieht anders aus und wir müssen damit irgendwie lernen zu leben."
„Du sprichst von Wahrheit", fuhr sie Aleyna an. „Du belügst deine eigene Mutter seit Wochen und hast das Grab deines Vaters noch kein einziges Mal besucht! Ich erkenne dich gar nicht mehr, Aleyna."
„Und diese Tatsache hältst du mir die ganze Zeit vor, oder? Jedes Mal, wenn du mich angesehen hast mit diesem kalten, leblosen Blick, musst du daran denken. Du kannst mich nicht lieben, weil du ihn so sehr geliebt hast. Aber du siehst nichts von ihm in mir, oder?", sagte Aleyna und runzelte ihre Stirn über diese Erkenntnis.
Aleyna war für ihre Mutter eigentlich immer nur eine Last gewesen. Ein Grund noch jeden Tag zur Arbeit zu gehen, aufzustehen und sich nicht im Bett zu verziehen und für immer zu trauern.
„Das ist nicht wahr", widersprach sie ihr mit Tränen in den Augen, die ihr Aleyna leider nicht nehmen konnte und wollte.
„Doch, warum würdest dich sonst die ganze Zeit von mir fernhalten und wochenlang zu Tagungen fahren, du weichst mir aus, wann immer es nur geht. Du hast Angst vor der Wahrheit und deswegen fährst du jedes Jahr an seinem Todestag weg, nur um dich weiter zu belügen."
„Was hat dieser Junge dir nur für Flausen ins Ohr gesetzt?", fragte sie Ali beinahe hasserfüllt.
„Dass Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit sich am Ende immer durchsetzen. Und im Gegensatz zu dir war er immer ehrlich zu mir."
Dann schnappte Ali sich ein paar Sachen, die auf dem Boden lagen und ging. Es gab nichts mehr zu sagen.
Was sollte sie jetzt nur tun? Was hatte sie da gerade eben nur getan? War sie das gerade gewesen, die ihre Mutter mit Vorwürfen bombardiert und dann einfach gegangen war? Anscheinend schon, denn das gleiche Mädchen stand nun auf der Straße, die Gitarre und eine kleine Tasche geschultert und sah die menschenleere Straße hinab.
Ali hatte sich schrecklich aufgeführt, aber irgendwann zwischen den Anschuldigungen ihrer Mutter und ihrem plötzlichen Wutanfall war ihr die Sicherung einfach durchgebrannt und sie musste einfach all die schlechten Erinnerungen und Gefühle, die sich während der letzten Jahre angesammelt hatten loswerden.
All die Menschen, die ihr wichtig waren hatte sie von sich gestoßen und belogen.
Niall hatte recht: So tell me when, you're gonna let me in.
Wann?
Wann würde sie es endlich schaffen, sich nicht von allen Menschen abzuschotten, sondern sie stattdessen in ihr Leben lassen?
Was sollte sie tun?
Ali suchte ihre Tasche und kramte darin herum, bis sie endlich ihren iPod darin fand.
Dann suchte sie die zufällige Wiedergabetaste, schloss die Augen und wartete. Keine Sekunde später erklang in ihren Ohren eine bekannte Melodie: Starlight von Muse. Einer ihrer persönlichen Hoffnungssongs, weil sie, wenn sie ihn hörte, immer den Drang dazu hatte, dass zu tun, wonach sie sich gerade sehnte.
Zumindest wünschte sie sich das die 3 Minuten und 59 Sekunden, die der Song dauerte.
„Far away. This ship is taking me far away. Far away from the memories"
Weg von all den Erinnerungen, genau das wollte sie auch.
„Of the people who care if I live or die"
Nur wo würde ihr Weg enden? Was war ihr Ziel und gab es überhaupt noch einen Ort an den sie konnte?
„My life, you electrify my life. Let's conspire to ignite, all the souls that would die just to feel alive"
Sie wollte leben, dass hatten ihr die letzten Entwicklungen gezeigt. Sie war es nur leid geworden ein trostloses Leben zu haben, sie wollte Wahrheit.
Und nun hatte sie sie, und war jetzt alles besser? Nein.
„Our hopes and expectations. Black holes and revelations. Our hopes and expectations. Black holes and revelations."
Hoffnungen und Erwartungen hatte sie immer gehabt. Hoffnungen, die sie schweben ließen. Erwartungen, die sie bestätigt sehen wollte.
Und was hatte sie bekommen: Unangenehme Offenbarungen und ein riesiges schwarzes Loch, in das sie drohte hinabzustürzen.
Aber nicht nur sie hatte Hoffnungen gehabt. Niall auch. Und sie hatte ihn einfach stehen gelassen.
"And I'll never let you go if you promise not to fade away. Never fade away"
Und dann wusste Aleyna auf einmal, wohin sie konnte, wohin sie wollte.
Ohne weiter darüber nachzudenken oder Zweifel aufkommen zu lassen, lief sie los.
Die Gitarre fiel ihr immer wieder beinahe herunter, aber sie blieb trotzdem nicht stehen.
„Hold you in my arms. I just wanted to hold you in my arms."
Lauf, lauf, trieb sie sich an.
Immer wieder schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass sie sich in einem ziemlich schlechten Film befand, aber immer wieder verwarf sie den Gedanken sogleich.
Dann verhielt sie sich eben kindisch, aber wenigstens hatte sie nicht mehr das Gefühl, alles, was sie wollte aufzugeben, nur um es ihrer Mutter recht zu machen.
Das war ihr Leben und sie würde es genauso leben, wie sie es immer gewollt hatte. Sie konnte nicht einfach aufgeben und alles wegschmeißen für das sie so hart gekämpft hatte.
„But I'll never let you go."
Als sie schließlich schwer atmend vor einem großen Hochhaus mit braunen Backsteinwänden zum Stehen kam, musste sie sich noch einmal einen Ruck geben, um es betreten zu können. Sie war noch nie hier gewesen. Würde überhaupt jemand zu Hause sein?
Egal, schnell stieß sie die Tür auf und lief eine Treppe hinauf. Zwei, drei, vier... fünf Treppen später hatte sie es geschafft und stand schnaufend vor einer weißen Tür.
Klingele endlich, wies sie sich selbst wie in Trance an.
Schnell betätigte sie die Klingel. Ihr Herz klopfte in einem unregelmäßig lauten Rhythmus.
Oh Gott, dachte sie nur und legte die Hand auf ihr Herz.
Es tat beinahe weh.
Dann sah sie wie die Tür geöffnet wurde und ein erschöpfter Niall mit einer Bierflasche in der Hand sie verwirrt ansah. Verdutzt rieb er sich über den Nacken, als ob er nicht glauben konnte, was er sah.
„Hey."
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Achja ein sehr fieser Cut ne?
Aber ein wenig Spannung soll ja noch sein.
Was sagt ihr zu Ornella?
Was zu der auseinandersetzung mit Aleynas Mutter?
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